Türkei: Politisches Erdbeben verursacht Staatskrise

TürkeiNach einer Welle von Korruptionsskandalen steckt der türkische Staat in einer Krise. Es geht um mehr als um Fälle von Korruption: Es handelt sich um einen Machtkampf verschiedener Fraktionen des Kapitals um ihren Einfluss im Staatsapparat.

von Festus Okay, Ankara

Zwischen den einst miteinander verbündeten Kräften AKP (also der Regierungspartei „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) und dem Gülen-Netzwerk hat sich ein erbitterter Konflikt entzündet, bei dem beide Seiten darauf aus sind, den Gegenpart in die Knie zu zwingen. Dieser Konflikt um die Macht im Staatsapparat mündete nun in eine veritable Staatskrise.

Seit dem 17. Dezember erlebt die Türkei, die in der ganzen Region mal Modellcharakter hatte, fast täglich politische Erschütterungen: Verhaftungen von Ministersöhnen und Bankmanagern im Rahmen der Korruptionsskandale; Rücktritte von Kabinettsmitgliedern; Entlassungen von Ermittlern und offene Eingriffe der Regierung in die Justiz; dramatische Wertverluste der türkischen Lira; heftige Polizeiangriffe auf die Proteste.

Am 17. Dezember nahm die Polizei die Söhne von vier Ministern, den Direktor einer staatlichen Bank, einen prominenten Bauunternehmer, einen Geschäftsmann, einen Bürgermeister und viele AKP-nahe Bürokraten in Gewahrsam. Einige der wichtigsten Anschuldigungen lauteten: Bestechung, Geldwäsche, Schmiergelder in großem Stil. In der Wohnung des Bankdirektors fanden sich 4,5 Millionen Dollar Bargeld in Schuhkartons.

Bestechung und Filz

Im Zentrum dieser ersten Ermittlungen stand ein iranischer Goldhändler. Da die Türkei vom internationalen Iran-Embargo ebenfalls betroffen ist, kann sie dem Iran nicht einfach das von dort gelieferte Öl und Gas bezahlen. Um das Problem zu lösen, öffnete das staatliche Geldinstitut Halkbank für den Iran ein Konto. Weil der Iran aber das Geld nicht selber abheben kann, wurde vereinbart, dass in der Türkei jemand damit Gold erwirbt und dieses auf verschiedenen Wegen dem Iran aushändigt. (Bis Juni 2013 war der Goldhandel vom Embargo ausgenommen). Genau hier kommt jener Goldhändler ins Spiel, der diese Geschäfte erledigte und dabei selber ein Vermögen anhäufte. Wenn etwas schief lief, sprangen Minister ein: Zum Beispiel half ihm der Innenminister bei den Zollkontrollen. Die Bestechungsgelder kassierten die Söhne der darin involvierten Regierungsvertreter.

Auf dem ersten Blick scheint es sich um einen ganz gewöhnlichen Korruptionsskandal zu handeln. Doch hier ist mehr im Spiel: Es geht um einen erbitterten Machtkampf zwischen Vertretern verschiedener Kapitalfraktionen um Einfluss und Macht im bürgerlichen Staatsapparat. Auf der einen Seite steht die islamische, neoliberale Regierungspartei AKP unter Recep Tayyip Erdogan, auf der anderen Seite der Prediger Fethullah Gülen und sein Netzwerk.

Gülen-Bewegung

Fethullah Gülen selber lebt seit Jahren in den USA. Sein Netzwerk ist keine rein religiöse Bewegung, sondern der Zusammenschluss eines Teiles der türkischen Bourgeoisie. Den Aufbau einer eigenen Partei lehnen sie ab, stattdessen unterstützen sie flexibel je nach Interessenlage mal die eine, mal die andere Partei. Außerdem versuchen sie seit Jahrzehnten, sukzessive bestimmte Schlüsselpositionen in der Bürokratie zu erobern. Dabei spielen die Privatschulen und die sogenannten Dershanes, also die Vorbereitungsschulen für die Aufnahmeprüfungen zur Universität, eine große Rolle. Darüber versuchen sie, sich künftige Positionen im Staatsapparat zu sichern. Besonders in der Polizei und in der Justiz sind sie verankert.

Im Boxring

Es sieht danach aus, dass sich beide Seiten nicht bloß mehr Platz verschaffen wollen, sondern dass sie entschlossen sind, den anderen zu vernichten. Während sie sich gegenseitig Schläge versetzen, wird es bei jedem Schlag sichtbarer, wie korrupt die Regierung, wie verkommen der Staatsapparat ist. So fasste die Regierung hastig den Beschluss, dass die Strafvollzieher den Anweisungen von Staatsanwälten erst dann folgen dürfen, nachdem den Vorgesetzten in der Polizei Meldung gemacht wurde. Die Polizei hat sich dann sogar geweigert, im Rahmen einer zweiten Welle von Ermittlungen weitere Festnahmen von Verdächtigen vorzunehmen (darunter den Sohn von Ministerpräsident Erdogan).

Beide Seiten gehen miteinander um wie zwei Boxer im Ring, die aufeinander einschlagen und sich an keine Regeln mehr halten. Diese Eskalation setzte nach dem 17. Dezember ein. Durch Maßnahmen seitens der Regierung wurden bis jetzt über 3.000 Polizeibeamte, meistens hochrangige Personen wie der Polizeichef von Istanbul, strafversetzt. Gleiches gilt für etliche Staatsanwälte. Die Regierung ist gerade dabei, ein Gesetz ins Parlament einzubringen, das den „Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte“ (HSYK) völlig umbauen soll. Die andere Seite tut ebenfalls weiterhin alles, um Erdogan und Co. in Bedrängnis zu bringen. So wurden mehrmals Lastwagen an der syrischen Grenze wegen des Verdachts auf illegalen Waffenhandel kontrolliert – was zuvor von der Regierung verhindert worden war.

Ein Schicksalsjahr

Die Fragilität der türkischen Wirtschaft, die auf dem Zufluss von ausländischem Kapital basiert, wird – wie die Talfahrt der türkischen Lira zeigt – immer deutlicher. Das einzige Plus, was Erdogan noch bleibt, ist eine gewisse Unterstützung auf der Wahlebene. Allerdings bröckelt es auch hier, da es mit der wirtschaftlichen Stabilität des letzten Jahrzehnts inzwischen vorbei ist.

Unter diesen Umständen bekommen die Ende März stattfindenden Kommunalwahlen besondere Bedeutung. Dazu kommt die Wahl des Präsidenten im August, was auch für den Erhalt der Macht Erdogans von entscheidender Wichtigkeit ist. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die Parlamentswahlen ebenfalls auf diesen Sommer vorgezogen werden.

Die etablierten Parteien sind allesamt bürgerliche Parteien und bieten der Bevölkerung sowie AktivistInnen wie in der Gezi-Bewegung keine Perspektive. So bestand die erste Reaktion der kemalistischen CHP („Republikanische Volkspartei“) auf die Enthüllung der Korruptionsfälle darin, sich um die Folgen dieser Auseinandersetzungen für die Wirtschaft zu sorgen.

Mehr als zuvor macht sich das Fehlen einer Massenpartei der arbeitenden und erwerbslosen Menschen schmerzhaft bemerkbar. Eine solche Partei könnte die Ursachen für die Misere aufzeigen, eine Alternative zur globalen Krise des Kapitalismus – die jetzt auch die Türkei erreicht hat – darstellen und dem Unmut der Arbeiterklasse über die bestehenden Verhältnisse eine Richtung geben.