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Wie sah das Land aus, in das Malcolm entlassen worden war? 1952 war die Lage der amerikanischen Schwarzen alles andere als rosig. Sie hatten eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit, das Jahreseinkommen war etwa 40% niedriger, die Kindersterblichkeit um über 75% höher. Der Analphabetismus betrug 10%, bei Weißen 1,8%. Der Staat Mississippi gab für Schulbildung eines weißen Kindes mehr als dreimal so viel aus wie für die eines schwarzen. In Florida mußten sie zum Teil verschiedene Schulbücher benutzen. In sieben Staaten wurden Tuberkulose-PatientInnen nach Rassen getrennt, in elf Staaten die Schulkinder in Blindenschulen.
Geschichte der Schwarzen Moslems
Die Detroiter Moschee der „Nation des Islam“ hieß Tempel Nummer Eins, weil sie die erste Gründung von Elijah Muhammads Bewegung war. Muhammads AnhängerInnen wurden Schwarze Moslems genannt, obwohl sie selbst sich als normale Moslems verstanden. Tatsächlich waren viele ihrer Lehren mit dem orthodoxen Islam unvereinbar. Muhammad behauptete steif und fest, daß es keine weißen Moslems gebe. Er behandelte seine Anhänger als seine Kinder, im kleinen Kreis bezeichnete er sie als Babys.
Elijah Muhammed hieß ursprünglich Robert Poole. In den Zwanzigern war er wie Earl Little Aktivist in Garveys UNIA. Um 1930 begegnete er dem Regenmantel- und Seiden- (und Drogen-) händler Wallace Dodd Ford, der ihm erklärte, alle Weißen seien Teufel. Ford bezeichnete sich selbst mal als hellhäutigen Schwarzen, mal als Araber, mal als Halb-Polynesier, gegenüber Weißen auch als Weißen. Ford, der sich später Wallace Delaney Fard nannte, behauptete aus Mekka zu kommen und ein Bote Allahs zu sein. Gegen eine Gebühr änderte er die Nachnamen seiner Anhänger in „X“, zum Zeichen, daß ihr früherer Name ein Sklavenname und ihr eigentlicher Name unbekannt sei. Wenn ein Vorname mehrfach auftauchte wurde durchgezählt („2X“, „3X“…). So wurde auch aus Malcolm Little Malcolm X. Später wurde das X oft durch arabische Namen ersetzt.
1933 wurde Ford mehrmals verhaftet, Muhammad wurde sein Stellvertreter. 1934 verschwand Ford auf mysteriöse Weise, Muhammad stellte sich an die Spitze der Bewegung, übersiedelte aber nach Chicago, weil in Detroit Fords Anhänger zu stark waren. Er brachte sie erst allmählich unter seine Kontrolle. Er lehrte, bis 1936 würden alle Weißen aussterben, dafür würden die älteren Schwarzen wieder jung und potent werden. Außerdem erklärte er, Ford sei Allah selbst gewesen und damit er (und nicht Ford) Allahs Botschafter. Nach Fords Verschwinden bekam Muhammad zunehmend Angst, ermordet zu werden. Er reiste von Ort zu Ort und ließ sich von seinen Anhängern aushalten. Seine Frau und acht Kinder mußten jahrelang ohne ihn auskommen.
Malcolm wird Muhammads Vertrauter
Im Herbst 1952 lernte Malcolm Elijah Muhammad zum erstenmal persönlich kennen. In den folgenden Monaten versuchte er unermüdlich, neue Mitglieder für die „Nation of Islam“ zu gewinnen. Im Juni 1953 wurde er einer der Assistenten des Detroiter Priesters der Schwarzen Moslems. Muhammad wird für ihn eine Art Ersatzvater, der liebende Vater, den er nie hatte (nach einiger Zeit erwies er sich aber als genauso tyrannisch wie sein richtiger Vater). Nachdem Malcolms Bewährungsfrist abgelaufen war und er sich wieder frei bewegen konnte, wurde er nach Boston geschickt, um dort eine Moschee zu eröffnen.
Die „Nation des Islam“ forderte von ihren Mitgliedern einen asketischen Lebensstil: kein Alkohol, keine anderen Drogen (auch nicht Zigaretten), kein Glücksspiel, keine Form von Kriminalität, harte Arbeit mit wenig Urlaub, wenig Schlaf, möglichst kein Besuch von Sportveranstaltungen und Kinos, kein Fernsehen (später als Malcolm selbst häufig im Fernsehen war, waren derartige Sendungen erlaubt), kein Tanzen, keine Kosmetik bei Frauen. Die Mitglieder sollten auf Sauberkeit achten und möglichst nur einmal am Tag essen.
Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen waren noch strenger geregelt: In der Moschee mußten sie getrennt sitzen, „um die Aufmerksamkeit nicht abzulenken“. Sie dürften nicht zusammen Schwimmen gehen, private Verabredungen waren verpönt, Sex außerhalb der Ehe streng verboten. Diese Lebensweise hat zumindest gründlich das Märchen widerlegt, daß Schwarze von Natur aus geile, faule, sportverrückte und kriminelle Suffköpfe seien.
Malcolm war unter solchen Moralaposteln, wie es seine Eltern gewesen waren -nur daß jetzt die Moralvorschriften auch eingehalten wurden. Malcolm unterwarf sich der starren Disziplin der „Nation des Islam“ aus Angst, sonst in seine alte Lebensweise zurückzufallen.
Leiter des Tempel Sieben in Harlem
Im März wurde Malcolm Priester in Philadelphia, um die dortige Organisation auf Vordermann zu bringen. Nach getaner Arbeit wurde er Priester in New York City. New York und vor allem Harlem war einer wichtigsten Plätze für die Schwarzen Moslems.
Harlem war einige Jahrzehnte vorher noch ein Nobelviertel gewesen. Aber die Überbevölkerung und der Zustrom von Schwarzen führte zu einer panikartigen Flucht der feinen weißen Herren. Die Grundstückspreise purzelten, Immobilienspekulanten kauften billig große Flächen und verkauften und vermieteten sie dann zu Wucherpreisen und -mieten an Schwarze (oder an Weiße, die um jeden Preis ihren Häuserblock „reinrassig“ halten wollten). In den Zwanzigern verkam Harlem.
Nicht nur die Häuser, auch die Infrastruktur war verheerend. Es gab ín ganz Harlem nur zwei Spielplätze, wo die Kinder am Sandkasten schlangestehen mußten, bis sie drankamen. Als dann In den Dreißigern in New York 255 neue Kinderspielplätze gebaut wurden, lag nur einer davon in Harlem. Auch sonst wurde Harlem (und die anderen Schwarzen-Ghettos) von den Behörden systematisch benachteiligt.
Als Malcolm im Juni 1954 in New York ankam, war die Lage noch verschärft durch eine Wirtschaftskrise. Der New Yorker Tempel Sieben war damals unbedeutend und fast unbekannt. Malcolm begann eine Propagandakampagne. Dabei führte er den New Yorker und die anderen Tempel autoritär (etwas anderes hatte er nirgends erlebt): wer widersprach, flog.
Er war unermüdlich, auch das notwendige Geld für die Organisation (und das Wohlleben von Elijah Muhammad, der ein Haus mit 18 Zimmern bewohnte) aufzutreiben. Er war nicht nur Muhammads Hauptpriester und Feuerwehr, wenn es irgendwo in der Organisation Schwierigkeiten gab, sondern auch oberster Geldeintreiber. In den sieben Jahren nach Malcolms Entlassung aus dem Gefängnis stieg die Mitgliedschaft von ein paar hundert zu Zehntausenden.
Im April 1957 gab es ein Ereignis, das die Schwarzen Moslems weithin bekannt machte. Ein Schwarzer wurde bei einem Streit mit der Polizei brutal zusammengeschlagen. Es sammelte sich eine empörte Menschenmenge an, darunter auch das Nation-Mitglied Hinton. Als Hinton gehen wollte, wurde er grundlos angegriffen, nach einem Gerangel verhaftet, zur Polizeiwache gebracht und dort weiter mißhandelt. Vor der Polizei versammelten sich einige Schwarze Moslems, denen sich andere zugesellten. Schließlich waren Tausende da, die Malcolms Forderung, Hinton in ein Krankenhaus zu bringen, Nachdruck verliehen.
Das Ergebnis der Angelegenheit war, daß Hinton 70.000 Dollar Schmerzensgeld erhielt (die höchste Summe, die ein Opfer von Polizeigewalt in New York je erhalten hatte) und viele Weiße entsetzt waren, welche Autorität Malcolm bei den Harlemer Schwarzen hatte.
1959 lief im Fernsehen ein Dokumentarfilm über die Schwarzen Moslems, in dem Malcolm als der prominenteste Vertreter der „Nation des Islam“ dargestellt wurde. Der Film löste in der weißen Gesellschaft einen Schock aus. Zeitschriften berichteten daraufhin über die Schwarzen Moslems. In vier Jahren erschienen drei Bücher über die „Nation des Islam“. Malcolm wurde ein gefragter Redner. Er konnte sich auf sein jeweiliges Publikum einstellen, ob es Leute aus dem Ghetto waren oder StudentInnen.
Malcolm und die Frauen
Malcolm teilte die frauenfeindliche Ideologie der „Nation des Islam“. Frauen sollten sich von Männern beschützen lassen und ansonsten wenig zu sehen sein. Er schrieb ihnen alle möglich schlechten Eigenschaften und schädlichen Einflüsse auf die schwarzen Männer zu. Ansonsten war er so arbeitssüchtig, daß er sowieso keine Zeit für Frauen zu haben schien.
Trotzdem fand er eines Tages Zeit, sich mit einer Glaubensgenossin im Naturgeschichtlichen Museum zu verabreden, um ihr dort Elijah Muhammads Theorie zu erklären, wonach Schweine große Nagetiere seien. Obwohl er auch dieser Frau gegenüber Angst hatte, Distanz zu verlieren, fragte er sie nach einigen Monaten (vorsichtshalber am Telefon), ob sie heiraten wolle. So heirateten sie am nächsten Tag. Geliebt hat er sie damals nicht gerade.
Anders als sein Vater seine Mutter oder er seine Freundinnen früher hat er sie nicht geschlagen, aber das war wohl der einzige Fortschritt, den er gemacht hat. Tyrannisiert und rumkommandiert hat er sie ständig. Auf seinen vielen Reisen nahm er sie nie mit. Seine Frau zu umarmen oder zu küssen hielt er für Hollywood-Unsinn und Ausdruck von weißer Gehirnwäsche. Sie gab sich größte Mühe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, eine gute Hausfrau zu sein und glückliche Familie zu spielen.
Es scheint, daß Malcolm dringender als eine Frau einen Sohn haben wollte. Aber das klappte nicht so recht. Stattdessen benannte er seine Töchter nach „großen“ Männern, nach Attilla dem Hunnen (Attallah), Kublai Khan (Qubilah), Elijah Muhammad (Ilyasah) und dem kongolesischen Revolutionär Lumumba (Gamilah Lamumbah). Er nahm er sich kaum Zeit für sie. So fiel ihm nach vielen Jahren plötzlich auf, daß er nie ein Spielzeug für seine Kinder gekauft hatte. Wenn er doch mal mit seinen Kinder zusammen war, war er sehr aufmerksam ihnen gegenüber. Aber seine Frau ermahnte er, noch strenger zu sein, als sie es ohnehin war.
Die Haltung Malcolms gegenüber Frauen war weniger persönliche Unzulänglichkeit als die Folge jahrhundertelanger Unterdrückung: In der Sklaverei hatten Frauen in der Regel dieselbe harte Arbeit auf den Zuckerrohr- und Baumwollfeldern machen müssen wie die Männer. Sie wurden genauso mißhandelt, gegen die Nachstellungen und Vergewaltigungsversuche ihrer Herren konnten ihre Väter oder Brüder oder Männer sie nicht schützen, höchstens sie selber.
Die Sklavin, die nach dem Tod ihrer Herrin zum Sarg schlich, um sie endlich einmal ohrfeigen zu können, war die Realität, nicht die Kitschfiguren aus „Onkel Toms Hütte“ oder „Vom Winde verweht“. Schwarze Frauen beteiligten sich an Sklavenaufständen oder flohen. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei hatten viele schwarze Frauen noch eine riesige Verantwortung, als Arbeiterinnen (1910 waren 54% der schwarzen, aber nur 19% der weißen Frauen lohnabhängig), als alleinerziehende Mütter usw. Sie konnten vor ihr fliehen, unter ihr zusammenbrechen (wie Malcolms Mutter), aber auch großes Selbstvertrauen daraus gewinnen. Amerikanische Sozial“wissenschaftler“ haben noch vor wenigen Jahrzehnten ernsthaft behauptet, die Schwierigkeiten der Schwarzen in der US-Gesellschaft lägen daran, daß ihre Frauen zu wenig unterdrückt seien.
Tatsächlich paßte die Realität vieler schwarzer Familien wenig zu der Familienideologie der weißen kleinbürgerlichen Amerika, die erst in den letzten Jahrzehnten durch die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen ins Wanken geraten ist. Schwarze Männer konnten entweder die Gleichberechtigung der Frauen akzeptieren und die Unterdrückung der schwarzen und weißen Frauen bekämpfen (wie es etwa im vorigen Jahrhundert der bedeutendste Führer der Anti-Sklaverei-Bewegung Frederick Douglass tat) oder die Machtverhältnisse der weißen Gesellschaft mit Gewalt „importieren“. Malcolm hatte nur die zweite Variante kennengelernt.
Ideologie der Schwarzen Moslems
Eine der Hauptforderungen der „Nation des Islam“ war wie schon bei Garvey ein eigenständiger Staat. Er sollte entweder in Afrika oder in einem aus den USA herausgeschnittenen Gebiet entstehen. Der Versuch, sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren, sei zum Scheitern verurteilt. Eine Vermischung der Rassen sei schädlich. Prominente Schwarze, die weiße Frauen heirateten, wurden scharf angegriffen.
Es ist falsch, den Schwarzen Nationalismus mit dem Nationalismus und Chauvinismus weißer Amerikaner auf eine Stufe zu stellen. Trotzki bezeichnete einmal den Nationalismus unterdrückter Nationen „als Hülle eines unreifen Bolschewismus“. Der Nationalismus von Unterdrückernationen ist immer reaktionär. Der Nationalismus unterdrückter Nationen hat auch reaktionäre, aber auch überaus revolutionäre Seiten. Den einen Nationalismus bekämpfen wir mit aller Kraft, beim anderen versuchen wir durch solidarische Kritik den revolutionären Kern zu entwickeln und von der reaktionären Hülle zu trennen.
Paradebeispiel, daß der eigenständige Staat möglich sei, war für Malcolm die Gründung des Staats Israel 1948. Und das, obwohl Malcolm bei anderen Gelegenheiten sich nicht scheute, antisemitische Vorurteile für seine Propaganda auszunutzen.
Lenin und Trotzki waren der Ansicht, daß nach dem Sturz des Kapitalismus Juden, die das gerne wollen, das Recht haben sollen, unter sich zu sein – und nach der Oktoberrevolution wurde auch eine jiddische Sowjetrepublik geschaffen. Aber einen jüdischen Staat im Kapitalismus wäre eine reaktionäre Utopie.
Und was ist aus Israel tatsächlich geworden: ein Brückenkopf des US-Imperialismus, in dem die PalästinenserInnen brutal unterdrückt werden, in dem aber auch die jüdische Bevölkerung mit Massenarbeitslosigkeit, Wohnungskatastrophe und Angst vor dem Terror bis aufs Blut gereizter palästinensischer Jugendlicher leben muß. Israel ist das beste Argument gegen und nicht für die Möglichkeit eines Schwarzen-Staats
Vorwürfen, die Forderung nach Abtrennung würde eine Art Apartheid bedeuten, hielt Malcolm entgegen, daß die freiwillige Abtrennung etwas anderes sei, als die erzwungene Rassentrennung, bei der die Kontrolle über die Schwarzen bei den Weißen bleibt. Trotzki hatte in den Dreißiger Jahren seinen amerikanischen GenossInnen geraten, Forderungen nach einem unabhängigen Schwarzen-Staat in den USA zu unterstützen, wenn sie von den Schwarzen selbst erhoben würden. Damals gab es aber noch mehrere US-Bundesstaaten mit schwarzer Bevölkerungsmehrheit.
Durch die Mechanisierung der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verloren Millionen schwarze Landarbeiter und Kleinpächter ihre Arbeit. Viele wanderten in die großen Industriezentren des Nordens ab. Von 1870 bis 1939 gingen 2,2 Millionen Schwarze nach Norden, von 1940-1959 2,4 Millionen. Damit wurde die Forderung nach einem eigenen Staat immer undurchführbarer. Von den Schwarzen im Norden lebten 1960 95% in Großstädten. Wie könnte ein lebensfähiger Staat aus den Schwarzen-Ghettos der Großstädte bestehen?
Gegen solche Argumente machte sich die „Nation des Islam“ unempfindlich mit ihrem religiösen Katastrophenglauben: Bald kommt das Jüngste Gericht, Allah wird die Weißen Teufel strafen und vernichten und dann gehört die Welt wieder den Schwarzen, den eigentlichen Menschen.
Dieser Glaube an die Erlösung durch Allah wurde gezielt geschürt und benutzt, um die AktivistInnen der Schwarzen Moslems von politischen Aktivitäten abzuhalten. Die Mitglieder mußten alle Gesetze, soweit sie nicht den Lehren Elijah Muhammads direkt widersprachen (wie das die Wehrpflichtgesetze taten), gehorchen. Im Frühjahr 1962 kam es vor dem Tempel von Los Angeles zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit der Polizei, nachdem zwei Polizisten zwei Schwarze Moslems provoziert hatten. Dabei erschoß ein Polizist den Priester der Schwarzen Moslems von Los Angeles, obwohl er wußte, daß der unbewaffnet war. Aber Muhammad befahl seinen Anhängern, ihre Sektenzeitung intensiver zu verkaufen und auf die Strafe Allahs für die Weißen Teufel zu warten. Malcolm fuhr nach Los Angeles und versprach den ungeduldigen Anhängern eine Zunahme der Autounfälle und Flugzeugabstürze.
Später erkannte Malcolm selbst: „Die Bewegung der Schwarzen Moslems war so organisiert, daß sie die militantesten, die kompromißlosesten, die furchtlosesten und jüngsten des Schwarzen Volkes in den Vereinigten Staaten anzog. (…) Aber all diese Kämpfer der vordersten Front wurden in Schach gehalten von einer Organisation, die sich an nichts aktiv beteiligte.“ (Rede im Audubon-Ballsaal in Harlem, am 15. Februar 1965)
Deshalb, weil sie wie ein Schwamm die radikalsten schwarzen Jugendlichen aufsaugte und aus dem Verkehr zog, war die „Nation des Islam“ für die Herrschenden in den USA überaus nützlich. Deshalb schritt die Regierung nicht gegen sie ein, obwohl sie genug Möglichkeiten dafür gehabt hätte.
Korruption
Je mehr die „Nation des Islam“ wuchs, desto mehr Geld war aus ihr herauszupressen. Muhammad und sein Familienclan widmeten sich dieser Tätigkeit mit immer größerer Leidenschaft. Sie betrieben Läden auf eigene Rechnung und nötigten ihre Mitglieder, in ihnen einzukaufen. Auch die vielen von der Organisation betriebenen Läden, Restaurants etc. arbeiteten weitgehend für den Luxus des Muhammad-Clans. Sie gehörten nur formell der „Nation des Islam“, um die Steuervorteile, die für religiöse Einrichtungen galten, zu nutzen. Nur die Einrichtungen unter Malcolms Aufsicht kamen dem Aufbau der Organisation zugute. Muhammad lud regelmäßig „Weiße Teufel“ zum Essen ein, um mit ihnen über die Geschäfte zu reden.
Aber nicht nur mit normalen weißen Kapitalisten machte Muhammad Geschäfte, auch mit den rassistischen Terroristen des Ku-Klux-Klan und der American Nazi Party (Amerikanische Nazi-Partei, später in „Nationalsozialistische Partei des Weißen Volkes“ umbenannt) versuchte er ins Geschäft zu kommen.
Malcolm führte damals für ihn die Verhandlungen mit dem Klan. Kurz vor seinem Tod enthüllte er: „Im Dezember 1960 war ich in der Wohnung von Jeremiah, dem Priester [der „Nation des Islam“] in Atlanta, Georgia. Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich werde Euch jetzt die Wahrheit sagen. Ich saß selbst mit den Spitzen des Ku-Klux-Klans am Tisch, die damals mit Elijah Muhammad zu verhandeln versuchten, damit sie ihm ein großes Landgebiet in Georgia – oder ich glaube, es war South Carolina- zur Verfügung zu stellen. Sie hatten einige sehr verantwortliche Personen in der Regierung, die darin verwickelt waren und das unterstützen wollten. Sie wollten ihm dieses Land zur Verfügung stellen, damit sein Programm der Abtrennung den Negern machbarer erscheinen sollte, und deshalb den Druck der Anhänger der Integration [der Schwarzen] auf den weißen Mann verringern sollte. (…) Von diesem Tag an kam der Klan nie der Bewegung der Schwarzen Moslems im Süden in die Quere“ (Ebenfalls Rede vom 15.2.1965)
Ein weiterer Hammer war, daß Elijah Muhammad den Sex außerhalb der Ehe, den er bei anderen verdammte, selbst ausgiebig praktizierte. Er sagte einer jungen Mitarbeiterin einfach, daß es Allahs Wille sei, daß sie mit ihm schlafe. Damit sie den Mund hielten, bekamen die Frauen und die sich häufenden unehelichen Kinder schöne Wohnungen auf Kosten der enthaltsamen Gläubigen. Unter den Opfern des brünftigen Greises befanden sich auch minderjährige Mädchen und Weiße.
Malcolm versuchte lange vergeblich, die Wahrheit aus seinem Kopf zu verdrängen. Als das nicht mehr ging, tröstete er sich damit, daß man an einen Boten Gottes halt andere Maßstäbe anlegen müsse als an einen Normalsterblichen.
Malcolm versuchte so lange es ging, der Einsicht zu entgehen, daß er einem Scharlatan und Gangster auf den Leim gegangen war. Er wollte die Bewegung, die ihm selbst so viel gegeben hatte und in die er so viel Kraft gesteckt hatte, nicht verloren geben. Genausowenig wollte er, daß Tausende, die sich wie er mit Hilfe der „Nation des Islam“ aus der Gosse emporgearbeitet hatten, verzweifelten und sich wieder fallen ließen. Außerdem würde er selbst bei einem Bruch mit der „Nation des Islam“ vor dem Nichts stehen.
Also diente er Muhammad so treu wie bisher weiter. Aber gerade seine Selbstlosigkeit machte ihn dem Muhammad-Klan verdächtig und bedrohlich. Allmählich entwickelte sich ein immer deutlicherer Machtkampf, bei dem Malcolm auch Zweifel an der Nation-Ideologie durchblicken ließ. 1959 war Malcolm erstmals im Nahen Osten gewesen. Öffentlich versicherte er danach zwar, daß es keine weißen Moslems gebe, aber gelegentlich deutete er an, daß er es besser wußte. Auch die Lehre, daß ein gewisser Yakub vor einigen tausend Jahren ein tiefes Loch gegraben, es mit Sprengstoff gefüllt und so den Mond von der Erde abgesprengt hatte, vertrat er nicht mehr mit Feuereifer. Überhaupt begann er in Reden so viele Sätze mit „der Ehrwürdige Elijah Muhammad lehrt…“, daß er bald in den Verdacht geriet, er wolle sich dadurch von seinen eigenen Aussagen distanzieren.
Allmählich drängte sich aber ein Konfliktpunkt in den Vordergrund, der indirekt auch mit der Korruption zu tun hatte. Denn einer der Gründe, warum Muhammad jede politische Betätigung ablehnte, war, daß er Sorge hatte, sonst die Steuervorteile, die die „Nation des Islam“ als Religionsgemeinschaft hatte, zu verlieren. Diese antipolitische Haltung wurde aber immer untragbarer, je mehr die Bürgerrechtsbewegung an Gewicht gewann.
Die Bürgerrechtsbewegung
Anders als nach dem Ersten Weltkrieg dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg einige Jahre, bis sich eine große Schwarzenbewegung entwickelte. Bis dahin versuchte die alte, konservative, von liberalen Weißen kontrollierte Schwarzenbewegung in den Gerichtssälen Verbesserungen zu erreichen. Dabei erreichte sie 1954 scheinbar einen gewaltigen Erfolg: Das Oberste Bundesgericht erklärte die Rassentrennung an den Schulen für verfassungswidrig und forderte die Abschaffung „in angemessener Geschwindigkeit“. Es zeigte sich aber bald, daß „in angemessener Geschwindigkeit“ für die Weißen in den Südstaaten hieß: bis zum Sankt Nimmerleinstag. Nach neun Jahren besuchten nur 8% der schwarzen Kinder im Süden gemischtrassige Schulen.
Die heftige Opposition der weißen Rassisten selbst gegen nur symbolische Verbesserungen führte zu einer Gegenbewegung. Als im Dezember 1955 die schwarze Arbeiterin Rosa Parks in Montgomery, Alabama sich weigerte, hinten im Bus (im für „Farbige“ vorgesehenen Teil) zu stehen statt vorne zu sitzen, wurde sie verhaftet. Spontan organisierte die schwarze Bevölkerung von Montgomery einen Busboykott, der nach zwölf Monaten zum Erfolg führte. Angeführt wurde der Boykott durch den örtlichen Baptistenprediger Martin Luther King.
Mit der Einführung der Rassentrennung in den USA ab 1877 zum „Ausgleich“ für die abgeschaffte Sklaverei wurde auch die Kirche „rassengetrennt“. Da gleichzeitig die Kirche in den USA traditionell einen großen Freiraum hatte, entwickelten sich die schwarzen Kirchen zu einem der wenigen Freiräume, wo die Weißen den Schwarzen nicht hineinpfuschten. Durch diese Situation konnten sie zu Beginn der Bürgerrechtsbewegung kurzfristig eine positive Rolle spielen bei der Mobilisierung der Massen.
Da die Bürgerrechtsbewegung die Gerichtssäle verließ und auf die Straße ging, brauchte sie einen Massenanhang, um Erfolge zu haben. Trotz ihres Anhangs in den überwiegend proletarischen Massen war ihre Führung und ihre Politik aber bürgerlich. Sie setzte auf Änderung der rassendiskriminierenden Gesetze. Dazu brauchten sie das Mitleid und die Sympathie der liberalen Weißen. Das bekamen sie, indem sich die AktivistInnen lammfromm und mit „Seelenstärke“ zusammenprügeln, von Polizeihunden anfallen und von rassistischen Polizisten abknallen ließen. Dazu mußten die AktivistInnen fleißig die Gewaltlosigkeit trainieren, denn der liberale weiße Rassist konnte zwar 1960 wie 1860 einen mit einer Schafsgeduld sich mißhandeln lassenden „Onkel Tom“ sympathisch finden, aber nicht Schwarze, die für ihre Interessen kämpften und sich ihrer Haut zu wehren wußten.
Das Bündnis zwischen gewaltlosen Schwarzen und liberalen Weißen aus dem Norden brachte die Abschaffung einiger rassistischer Gesetze, die meist nur im Süden gegolten hatten. Davon profitierte nur eine Minderheit der Schwarzen, eben die kleine schwarze Mittelschicht, die an der Spitze der Bürgerrechtsbewegung stand. Was nützte es einem schwarzen Ghetto-Kind, daß es in eine „weiße“ Schule gehen dürfte, die aber in einem ganz anderen Stadtteil ist; in einem Stadtteil, dessen Mieten für fast alle Schwarzen unerschwinglich hoch sind, dessen Kinder nicht mit schwarzen Kindern aufgewachsen, dafür umsomehr von ihren rassistischen Eltern aufgehetzt sind.
Die Bürgerrechtsbewegung zeigte, daß die Abschaffung der rechtlichen Diskriminierung Beschiß ist, wenn die gesellschaftliche Diskriminierung (auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt etc.) bleibt. Aber diese Diskriminierung bestand auch im Norden und die liberalen Nordstaaten-Rassisten fanden sie sehr angenehm. Und davon waren sie auch durch noch so leidenschaftliches Sich-Mißhandeln-Lassen der Bürgerrechtsbewegung nicht abzubringen.
Die Bürgerrechtsbewegung erreichte für die Massen, die auf die Straße gingen und den Kopf hinhielten so gut wie nichts. Aber sie erreichte, daß Massen auf die Straße gingen, daß sie ihre Angst vor der Polizei überwanden, politisch bewußter wurden, sich organisierten -und das war ein ungeheurer Fortschritt, auch wenn die „Kampf“formen noch so treuherzig waren.
Die „Nation des Islam“, die den Anspruch hatte, den Schwarzen zu helfen, boykottierte die Bürgerrechtsbewegung vollständig. Diese Haltung konnte Malcolm keinesfalls auf Dauer mittragen. 1963 hatte sich die Bürgerrechtsbewegung Birmingham in Alabama als Schwerpunkt ausgesucht. Die Stadt galt als Hochburg der Rassentrennung. In ihr war sogar ein Buch ausdrücklich verboten, in dem gezeigt wurde, wie sich schwarze und weiße Kaninchen vermischen. Diesmal schloß der weiße Terror sogar Bombenanschläge ein. Die dadurch provozierten Unruhen gaben den Vorwand für verschärften Polizeiterror. In dieser Situation kündigte der örtliche Priester der Schwarzen Moslems an, Malcolm werde kommen und mehrere Veranstaltungen abhalten. Malcolm ließ das kurz danach dementieren. Es entstand das Gerücht, Elijah habe die Reise verboten.
Im August, als mit dem Marsch auf Washington die Bürgerrechtsbewegung ihrem Höhepunkt entgegenging, hatte Malcolm nur Hohn und Spott dafür übrig. Damit erfüllte er einerseits Muhammads direktiven, andererseits konnte man seine Angriffe auch als radikale politische Kritik an der „Farce von Washington“ lesen.
1959 hatte Malcolm versucht, die Linie zu ändern. Er versuchte, die Genehmigung von Muhammad zu erhalten, den Harlemer Tempel bei einem Boykott von Läden zu beteiligen, die keine Schwarzen einstellten. Er organisierte eine Demonstration in Newark und mußte sich dafür auf Muhammads Befehl öffentlich entschuldigen. Später gab es neue Vorstöße Malcolms. Unter anderem unterstützte er öffentlich die Bestrebungen, die Beschäftigten der New Yorker Krankenhäuser gewerkschaftlich zu organisieren. Er besuchte einige Monate später, im Juli 1963, auch streikende Bauarbeiter. Daneben versuchte er, die Beziehungen zu linken Gruppierungen und zur Bürgerrechtsbewegung zu verbessern.
Als die Differenzen immer mehr durchsickerten, versuchte Malcolm den Konflikt in „Sklavensprache“ zu erklären: „Der Bote [Muhammad] hat Gott gesehen. Er war mit Allah und hat göttliche Geduld erhalten. (…) Er ist willens darauf zu warten, daß Allah sich mit diesem Teufel befaßt. Aber, mein Herr, der Rest von uns Schwarzem Moslems hat Gott nicht gesehen. Wir haben nicht die Gabe göttlicher Geduld mit dem Teufel. Die jüngeren Schwarzen Moslems wollen etwas Action sehen!“
Der Bruch
Muhammad fühlte sich durch Malcolms ständige politische Erklärungen provoziert. Ein Ereignis aber brachte das Faß zum Überlaufen, nämlich die Ermordung Präsident Kennedys im November 1963. Malcolm hatte für Kennedy nichts übrig. Er hatte ihn gelegentlich als Gefängnisdirektor des Gefängnisses USA tituliert. 1960 im Wahlkampf hatte Kennedy versprochen, daß er nach der Wahl die Rassendiskriminierung bei staatlich gefördertem Wohnraum verbieten werde. Er erklärte, dazu bedürfe es nur eines Federstrichs. Nach der Wahl brauchte er dann fast zwei Jahre, bis er seine Schreibfeder fand und den Strich tat. Malcolm warf Kennedy vor, lieber die Berliner Mauer als die „Alabama-Mauer“ der Rassentrennung zu bekämpfen.
Muhammad hatte strikte Order gegeben, das Attentat nicht zu kommentieren. Wegen seiner eigenen Angst vor Attentaten war er in dieser Sache wohl besonders empfindlich. Malcolm hielt sich über eine Woche lang an die Anweisung. Am 1. Dezember hielt er einen Vortrag. Es war fast unvermeidlich, daß bei der Fragerunde danach jemand das Attentat ansprechen werde und es geschah. Malcolm wies auf die Beihilfe der Kennedy-Regierung bei der Ermordung des revolutionären kongolesischen Regierungschefs Lumumba und andere Militärputsche mit Todesfolge hin und machte klar, daß er kein Mitgefühl für Kennedy verspürte. Am nächsten Tag verbot Muhammad Malcolm bis auf weiteres, öffentliche Erklärungen abzugeben. Das galt auch für seine allwöchentlichen Predigten.
Malcolm legte das Redeverbot etwas eigenwillig aus. Er telefonierte munter mit Journalisten und erklärte, daß das Verbot in spätestens drei Monaten wieder aufgehoben würde. Auch sonst sorgte er dafür, daß die Medien ihn nicht vergaßen.
Ein Zufall kam ihm dabei zur Hilfe: der Boxer Cassius Clay, der sich gerade auf den Box-Weltmeisterschaftskampf gegen den amtierenden Schwergewichtsweltmeister Liston vorbereitete, lud ihn in sein Trainingslager. Das verschaffte ihm wieder eine Weile Medienpräsenz, ohne daß er ein Wort zu sagen brauchte. Daneben stärkte er Clay (der sich nach seinem Sieg zum Islam bekannte und seinen Namen in Muhammad Ali änderte) psychologisch den Rücken, indem er den Kampf zum Kampf zwischen Islam und Christentum erklärte und Clay die Hilfe Allahs versprach.
So sehr Clay vor seinem Sieg Malcolm nützlich war, so sehr schadete er ihm durch den Sieg. Jetzt war er der Held und das Idol der schwarzen Jugendlichen. Jetzt hatte die „Nation des Islam“ ein neues Aushängeschild ohne Malcolms bedrohliche Intelligenz und seinen politischen Ehrgeiz. Malcolms Chancen, seine alten Funktionen wiederzuerlangen, waren im Keller. Im März 1964 zog er daraus die Konsequenzen. Am 12. März hielt er eine Pressekonferenz ab, in der er erklärte, daß er gezwungenermaßen die „Nation des Islam“ verlasse und jetzt das Beste daraus machen wolle.
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