Die Welt ein Jahr nach dem 11. September

von Aron Amm, Berlin
 
Nach dem 11. September kündigte George W. Bush der Welt einen „Krieg gegen den Terrorismus“ an. Unter dem Deckmantel der „Verteidigung der Zivilisation“ hat die herrschende Klasse – nicht nur der Vereinigten Staaten – in den letzten zwölf Monaten Akte der Barbarei begangen. Große Teile von Afghanistan wurden zerstört, neue Rüstungsprogramme beschlossen, Militäretats aufgestockt und demokratische Rechte außer Kraft gesetzt. Weitere Kriege sind in Planung und Vorbereitung.

Der Anschlag auf das World Trade Center war der größte von Einzelpersonen ausgeführte terroristische Akt in der gesamten Menschheitsgeschichte. Nach offiziellen Angaben kostete er 2.843 Menschen das Leben. Vermutlich von Muslimen ausgeführt, sind wahrscheinlich mehr Muslime umgekommen als bei irgendeinem anderen einzelnen Anschlag. Zum ersten Jahrestag gilt unser Gedenken jedoch nicht nur den Opfern der Twin Towers, sondern ebenso den 4.000 getöteten ZivilistInnen im Afghanistan-Feldzug, sowie den nach Schätzungen der Hilfsorganisationen weiteren 20.000 AfghanInnen, die bislang an den Folgen des Krieges gestorben sind.
Vor einem Jahr haben wir gewarnt, dass die Politik der Bushs, Blairs und Schröders verzweifelte ArbeiterInnen, BäuerInnen und Jugendliche im arabischen Raum erst Recht in die Arme radikaler islamistischer Kräfte treiben wird. In der Tat ist der Einfluss von Islamisten in der Türkei, in Palästina und in anderen Ländern der Region seither gestiegen. In Saudi-Arabien und in Pakistan ist der Sturz der Regime von König Fahd und Musharraf nicht länger auszuschließen.
Die einzige Alternative zur Spirale aus kapitalistischer Ausbeutung, Krieg, Terrorismus und Staatsterrorismus besteht in der Überwindung von Ungleichheit und Unterdrückung. Das ist nur möglich, wenn an die Stelle von Privatwirtschaft und Konkurrenz Gemeineigentum und demokratische Planung treten. Nur auf sozialistischer Grundlage kann sichergestellt werden, dass die Errungenschaften in Wissenschaft und Technik nicht der weiteren Zerstörung menschlichen Lebens dienen und letztendlich die Zukunft der gesamten Menschheit gefährden, sondern dem Aufbau einer Gesellschaft frei von Armut, Gewalt und Kriegen zu gute kommen.

Supermacht USA

Nie zuvor in der Geschichte besaß ein Land eine größere ökonomische, militärische und diplomatische Macht als die Vereinigten Staaten von Amerika am Beginn des 21. Jahrhunderts. Die US-Wirtschaft bringt beinahe ein Drittel des weltweiten Sozialproduktes auf – nur nach dem Zweiten Weltkrieg war dieser Anteil höher, als die Wirtschaft in den Konkurrenzländern Japan und Deutschland, sowie in anderen Teilen Europas und der Welt im Krieg kollabiert war. Ausbauen konnten die USA ihre ökonomische Stellung auf dem Weltmarkt vor allem angesichts des Absturzes der japanischen Wirtschaft – immerhin der zweitgrößten ökonomischen Macht – in den neunziger Jahren. Der US-Rüstungsetat übertrifft heute den Etat aller 15 Staaten der Europäischen Union zusammen. Die US-Armee ist inzwischen in der Lage, innerhalb kürzester Zeit in beinahe allen Regionen der Welt militärisch präsent zu sein. Die NATO wird allmählich zu einem Anhängsel des Pentagons degradiert.
Der 11. September hat diesen Prozess keineswegs ausgelöst. Allerdings half er dem militärisch-industriellen Komplex und seinen politischen Repräsentanten, Entwicklungen, die lange vorher – in der Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der vorübergehenden Schwächung der internationalen Arbeiterbewegung – in Gang gekommen waren, neue Nahrung zu geben.
So wurde das US-Militärbudget um 48 Milliarden Dollar im Jahr aufgestockt und beläuft sich nun auf 40 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben (im Jahr 2000 waren das in der Summe 804 Milliarden US-Dollar). So kündigte das US-Verteidigungsministerium einen Monat nach den Anschlägen mit dem Bau von 3.000 Kampfflugzeugen vom Typ Joint Strike Fighter das größte Rüstungsprojekt aller Zeiten an, Kostenpunkt: 200 Milliarden US-Dollar.
Es ist kein Zufall, dass das lange geplante „Star-Wars“-Projekt Raketenabwehr (MD) ebenfalls zu diesem Zeitpunkt konkret in Angriff genommen wurde. Zwei Monate nach dem Anschlag in Manhattan lud Bush den russischen Präsidenten Putin auf seine Texas-Ranch ein und sicherte ihm weiterhin freie Hand im Tschetschenien-Krieg zu. Bis dahin galt eine einseitige Kündigung des Abrüstungsvertrages (ABM), der den Raketenabwehrplänen im Wege stand, als ein Schlag ins Gesicht der russischen Regierung. Einen Monat nach dem Treffen in Texas war der Vertrag von Seiten der USA aufgekündigt. Damit kann das Pentagon jetzt für das Raketenabwehr-Programm Tests durchführen, die nicht mehr mit dem ABM-Vertrag vereinbar sind.
Der Sieg im Afghanistan-Krieg hat den Machthabern in Washington neues Selbstvertrauen gegeben. Gestärkt wurde ihr (Irr-)Glaube darin, überall auf dem Planeten ohne ernstzunehmende Widerstände ihre Interessen durchsetzen zu können. Auftrieb bekommen haben die „Falken“ in Washington. Darunter ein gewisser Richard Perle, Berater von Bush, der tönte: „Dies ist ein totaler Krieg. Wir bekämpfen eine Vielzahl von Feinden. Da draußen tummeln sich eine Menge von ihnen (…) und wir bemühen uns gar nicht erst um irgendwelche kluge Diplomatie, sondern führen einfach einen totalen Krieg. Unsere Kinder werden einmal große Lieder über uns singen können.“ „Totaler Krieg“ kann auch einen atomaren Erstschlag bedeuten, den die USA zum ersten Mal seit 1945 nicht länger öffentlich ausschließen wollen.

UNO – NATO – Solo

Der Golfkrieg 1991 war ein Krieg mit UNO-Mandat. Im Balkankrieg 1999 trat die NATO an die Stelle der UNO. Auch wenn die USA bereits in diesen beiden Kriegen federführend waren, drückte Washington im Afghanistan-Krieg seinen Allierten stärker als in den vorherigen Feldzügen den eigenen Willen auf. Obwohl das gegen die Taliban geschmiedete Bündnis mehr Einzelstaaten umfasste als vor zehn Jahren gegen Saddam Hussein, so dominierte der US-Imperialismus trotzdem noch uneingeschränkter. Während des Krieges muss sich die UNO mittlerweile mit der Zuschauerrolle begnügen, nach dem Krieg werden ihr Aufräumarbeiten aufgebürdet. Im Kosova/Kosovo musste sie dafür herhalten, das eingerichtete NATO-Protektorat zu kaschieren. Bei der Frage der Nachkriegsordnung in Afghanistan organisierte sie die Petersberger Konferenz in Bonn, während das Weiße Haus hinter den Kulissen die Fäden zog.
Für Bush, Cheney und Co. sollen die anderen Regierungen weiterhin als Scheckbuch-Diplomaten herhalten, die für die Kosten der maßgeblich von den USA geführten Kriege aufzukommen haben. Ein umfassender Angriff auf den Irak würde sich nach ersten Schätzungen auf 80 Millarden US-Dollar belaufen. Schon die Kosten für den Feldzug gegen Hussein am Anfang der neunziger Jahre betrugen 61,1 Milliarden. Bereits damals brachten die USA nur 7,4 Milliarden Dollar auf, den größten Teil der Zeche hatte ein halbes Dutzend weiterer Staaten zu zahlen.
Nicht nur militärisch, auch ökonomisch gehen die USA zunehmend eigene Wege. Die kürzlich verhängten 30-prozentigen Strafzölle auf Stahlimporte und die neuen staatlichen Subventionen für die Agrarlobby in Höhe von 173,5 Milliarden Dollar stehen im offensichtlichen Widerspruch zur Ideologie des freien Marktes und zu allen Liberalisierungs-Abkommen des Welthandels, die 1994 mit der Uruguay-Runde eingeleitet worden waren.
Im Gegensatz zur heutigen Weltmacht USA beschränkte sich die Dominanz früherer Imperien auf einen Kontinent oder auf die Einflussnahme auf den einen oder anderen weiteren Kontinent. Demgegenüber hat der US-Imperialismus heute in den verschiedensten Teilen der Erde Stützpunkte errichtet und kann weltweit in fast allen Regionen agieren. Auch die jüngsten Kriege wurden von ihnen genutzt, neue Militärbasen am Golf, auf dem Balkan und in Zentralasien aufzubauen. Mit der US-Präsenz in Kirgisien, Usbekistan und anderen Ländern soll Russland sein rohstoffreicher „Hinterhof“ streitig gemacht und Chinas Aktionsradius Richtung Westen kontrolliert werden.
Allerdings sind die Herrschenden der anderen führenden kapitalistischen Staaten genauso wenig Friedensengel, sondern verfolgen ihre eigenen imperialistischen Ziele. Auch sie haben in den jüngsten militärischen Konflikten und bewaffneten Auseinandersetzungen alles daran gesetzt, ihre Einflusssphären zu erweitern. Um sich gegenüber den USA zu behaupten, hat die Europäische Union die Schaffung einer gemeinsamen 60.000 Soldaten starken Armee beschlossen. DaimlerChrysler hat seine Rüstungssparte Dasa mit dem französischen Rüstungsunternehmen Aerospatiale Matra S.A. und dem spanischen Konzern Casa zum größten kontinentaleuropäischen Rüstungsunternehmen European Aeronautic Defense and Space Company (EADS) zusammengeschlossen. Mit der Beschaffung der Airbus-Militärtransportmaschinen A400M (Kostenpunkt 18 Milliarden Euro) hat das EADS-Management ein neues Großprojekt geschultert.

Neue Rolle des deutschen Imperialismus

Die zweit- und drittgrößten imperialistischen Mächte, Japan und Deutschland, waren aufgrund ihrer Niederlagen im Zweiten Weltkrieg dazu verdammt, in der so genannten „Nachkriegszeit“ auf der Weltbühne militärpolitisch ein Schattendasein zu fristen. Beide nutzten den 11. September, aus dem Schatten der anderen kapitalistischen Großmächte herauszutreten; eine Wende, die bereits am Anfang der neunziger Jahre – in der Folge des Wegfalls vom Ost-West-Gegensatz – eingeläutet worden war.
Vor zehn Jahren wurde Bundeswehr-Auslandseinsätzen („out of area“) der Weg geebnet. Bald waren deutsche Soldaten in Somalia stationiert. Zum gleichen Zeitpunkt, 1992, veröffentlichten Verteidigungsministerium und Bundeswehrleitung die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“, in denen ihr Anspruch der „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“ auf den Punkt gebracht wird. 1999 ermöglichte Rot-Grün die ersten Kriegseinsätze deutscher Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg mit der Beteiligung am NATO-Feldzug gegen Milosevic in Serbien.
Im November letzten Jahres konnten Schröder und Fischer schließlich eine „historische Zäsur“ verkünden: Als Teil einer „internationalen Schutztruppe“ wurde die Bundeswehr im Krieg gegen Afghanistan zum ersten Mal außerhalb Europas eingesetzt.
Die Ereignisse vom 11. September gaben den Kriegstreibern Rückenwind, sie beschleunigten und verstärkten die Militarisierung der Politik. Während zum Beispiel SPD und Grüne im vergangenen August – vor dem Terrorakt in New York – bei der Entscheidung über Bundeswehr-Einsätze in Makedonien im  Bundestag über keine „eigene Mehrheit“ verfügten, hatte sich das Blatt bereits einen Monat später beim zweiten Beschluss gewendet.
Begründet wurden die Bundeswehreinsätze seitens der Schröder-Regierung mit dem angeblichen Hilfegesuch durch die USA. Unmittelbar darauf antwortete US-Verteidigungsminister Rumsfeld jedoch, dass die USA diesen Beitrag „nicht angefordert“ hätten.

Abbau demokratischer Rechte

Im Windschatten des „Krieges gegen den Terrorismus“ wurde in den letzten zwölf Monaten nicht nur nach außen, sondern auch nach innen aufgerüstet – sowohl in den USA, als auch in Deutschland und international. Demokratische Rechte wurden eingeschränkt, das Vorgehen des Staates gegen ImmigrantInnen und Antikriegs-AktivistInnen wurde repressiver, die Stellung der Exekutive gegenüber Legislative und Judikative wurde ausgebaut.
In den USA waren unter dem Eindruck der Massenbewegung gegen den Vietnam-Krieg und dem Watergate-Skandal in den siebziger Jahren die Kompetenzen des Weißen Hauses zugunsten des Kongresses und des Gerichtshofes eingeschränkt worden. Vieles davon wurde nach dem Anschlag auf das World Trade Center beinahe per Handstreich rückgängig gemacht. Mit dem Ende September abgesegneten „US Patriot Act“ wurden Bush außerordentliche neue Vollmachten übertragen, darunter die Möglichkeit „Fremde“ (also alle diejenigen, die nicht US-BürgerInnen sind) unbefristet in Haft nehmen zu können, ohne die Öffentlichkeit darüber informieren zu müssen. Sondergerichte des Militärs wurden geschaffen, die im vergangenen Herbst 1.200 Menschen einsperrten, ohne gegen diese eine Anklage zu erheben oder ihnen das Recht auf eine Anhörung zuzugestehen. Die über 560 gefangengenommenen Anhänger der Al Qaida auf dem US-Militärstützpunkt Guantanamo auf Kuba befinden sich im juristischen Niemandsland. Da die US-Gerichte jede Zuständigkeit ablehnen, ist den Gefangenen die Möglichkeit genommen, vor einem Gericht gegen ihre Internierung und Behandlung (beziehungsweise Misshandlung) zu protestieren.
Auch in Deutschland schnürte SPD-Innenminister Otto Schily eilig ein „Anti-Terror-Paket“, mit dem kurzfristig eine Reihe demokratischer Rechte ausgehebelt werden können. KriegsgegnerInnen wurden bei den jüngsten Protesten mehr schikaniert als vor dem 11. September. Erinnert sei an einige nichtdeutsche KollegInnen, denen fristlos gekündigt wurde, nur weil sie die von oben verordneten Gedenkminuten im Betrieb in Frage stellten. Erinnert sei auch an Bernhard Nolz, Lehrer in Siegen, der aufgrund seines Engagements in der Friedensbewegung geschasst worden war.

Neue Welt(un)ordnung am Beispiel Afghanistan

„Wir schaffen eine neue Weltordnung“ (Bush senior nach dem Ende der Sowjetunion) – in dem ganze Landstriche und Stadtviertel von Ländern wie Irak, Jugoslawien oder Afghanistan in Schutt und Asche gelegt werden…
Im US-geführten Krieg gegen Afghanistan wurden Verbrecher mit Verbrechern bekämpft. Zum Beispiel der General Dostum, der nach der Petersberger Konferenz vom neuen afghanischen Ministerpräsidenten Karsai zum stellvertretenden Verteidigungsminister gekürt worden war: 1995 befand sich der gleiche Dostum im Bündnis mit der Taliban und ließ die Stadt Herat bombardieren, gewaltsam einnehmen und als eine der ersten Maßnahmen alle Schulen für Mädchen schließen. Zum Beispiel König Zahir Schah, den die Imperialisten 87-jährig aus seinem italienischen Exil holten: Der gleiche Zahir Schah besuchte 1940 als afghanischer Minister das Dritte Reich und wünschte dem Hitler-Faschismus „ein gutes Ergebnis im Krieg“.
Dass es mit dem „Völkerrecht“ im Kapitalismus nicht weit her ist, bewiesen die gezielten US-Luftangriffe auf zivile Einrichtungen in Afghanistan: Vom ersten Tag an wurden in Kabul Wasser- und Stromwerke zerstört. Selbst Gebäude des Internationalen Roten Kreuzes wurden angegriffen. Im Vorfeld des Massakers in der Region Mazar-i-Sharif erklärte Rumsfeld, er wolle „die Kämpfer nicht lebend und schon gar nicht als Männer“ sehen (FAZ vom 3. Dezember 01). Beim Einzug der Nordallianz, den „Bodentruppen“ von Bush, Blair und Schröder, kam es häufig zu Vergewaltigungen.
Auch heute gibt es in Afghanistan öffentliche Hinrichtungen durch Erhängen und Steinigungen.
Nicht mehr als zehn Prozent der Bevölkerung werden heute von Schulen und Krankenhäusern erreicht.  „Die internationale Zusammenarbeit ist schlecht koordiniert, mit dem Wiederaufbau von Straßen, Brücken und Häusern in den Provinzen ist kaum begonnen worden. Das Murren in den Provinzen ist nicht mehr zu überhören. Die Regierung kann ihren Beamten die Gehälter nur mit Verspätung zahlen“ (FAZ vom 10. Juni 02).
Unter der Herrschaft der verschiedenen „warlords“ werden sich nicht nur die sozialen Konflikte rasch weiter zuspitzen, sondern auch die Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten. Den unterdrückten Massen in Afghanistan wird bald dämmern, dass nach dem Krieg vor dem Krieg ist.

Irak im Fadenkreuz von George W. Bush

„Wir stehen nicht vor einem Ende des Krieges, sondern vor einem Krieg ohne Ende“ (US-Vizepräsident Cheney). Bush benannte Irak, Iran und Nord-Korea als „Achse des Bösen“, Rumsfeld zählte weitere „Schurkenstaaten“ auf. Mit der Stärkung der „Falken“ in Washington erhöht sich die Gefahr eines Krieges gegen den Irak im nächsten halben Jahr. Gestützt auf das Entsetzen über den 11. September soll Bush junior den Krieg zu Ende führen, den Bush senior 1991 begonnen hatte.
Nach wie vor sieht das US-Establishment Saddam Hussein als einen „Stachel im Fleisch“. Der Sturz von Saddam Hussein ist eine Frage des Prestiges für den US-Imperialismus. Allerdings gehen alle politischen, militärischen und geostrategischen Interessen der imperialistischen Mächte in letzter Konsequenz auf handfeste materielle Interessen zurück – im Fall vom Irak auf das „schwarze Gold“. Schließlich befinden sich im Nahen Osten 64 Prozent aller weltweit bekannten Ölvorkommen.
Da die Ölreserven in der Nordsee und in Nordamerika in den nächsten zehn Jahren zur Neige gehen werden, bisherige US-Vasallen innerhalb der OPEC wie Venezuela und Saudi-Arabien größere Unsicherheitsfaktoren darstellen und zur Erschließung der Öl- und Gasresourcen in Zentralasien nach wie vor viele Steine im Weg liegen, hat der Irak und der arabische Raum für die Imperialisten noch an Bedeutung gewonnen.
Irak ist nicht Afghanistan. Zum Beispiel betragen die 400.000 bewaffneten Kräfte das Zehnfache der Zahl von Soldaten, auf die sich die Taliban stützen konnte. So risikoreich ein Krieg gegen den Irak wäre, noch risikoreicher – aus Sicht des US-Imperialismus – wären die möglichen destabilisierenden Folgen in der gesamten Region. Massenproteste gegen den US-Krieg würden die Nachbarstaaten des Iraks erschüttern. Regierungen in Saudi-Arabien, Ägypten oder Pakistan könnten zu Fall kommen. Aufgrund der politischen und organisatorischen Schwächen der Arbeiterbewegung in der Region könnten auch die Kräfte des islamischen Fundamentalismus in mehreren Ländern vorübergehend weiter an Einfluss gewinnen.

Rettet „Rüstungskeynesianismus“ die Weltwirtschaft?

Im Februar stellte der Ökonom Paul Krugman die Prognose auf, dass das Enron-Debakel im Nachhinein ein „bedeutsamerer Wendepunkt für die amerikanische Gesellschaft“ sein werde als der Anschlag auf die Zwillingstürme. Ihren Anfang genommen hatte die beginnende Weltwirtschaftskrise lange vor dem  11. September: Der Welthandel brach von plus zwölf Prozent im Jahr 2000 auf plus ein Prozent 2001 ein, die US-Wirtschaft schrumpfte 2001 in drei von vier Quartalen, der Profiteinbruch im – am 31. März 2002 – abgelaufenen Fiskaljahr war der dramatischste seit der Großen Depression 1929-33.
Sowohl die Jahrhundertpleiten bei Enron oder Worldcom als auch der Zerfall der argentinischen Wirtschaft, die jüngste Lateinamerika-Krise und der drohende Staatsbankrott Brasiliens unterstreichen: Die Krise von Überproduktion und Überkapazitäten ist ungelöst. Darum droht die US-Wirtschaft nach einer kurzen konjunkturellen Erholung auf Basis der massiven Finanzspritzen im Anschluss an den 11. September (mit einer Art „militärpolitischem Keyesianismus“ in Höhe von 150 Milliarden US-Dollar 2002/2003) erneut abzuschmieren und die internationale Rezession noch zu vertiefen.
Der Spielraum für weitere finanzpolitische Rettungsaktionen ist allmählich erschöpft. Schließlich befinden sich die Schuldenberge von Staat, VerbraucherInnen und Unternehmen auf Rekordniveau. Dazu kommen die elf Zinssenkungen seitens des US-Notenbankchefs Alan Greenspan im letzten Jahr, womit die Zinsen ihren niedrigsten Stand seit 41 Jahren erreicht haben. Damit verblasst auch die Aura von Greenspan langsam. Ein Witz kursiert die Tage an der Wall Street: „Jemand steht auf dem Sims eines Hochhauses und will sich in die Tiefe stürzen. Andere rufen ihm zu: Warte! Hör doch erstmal, was Alan Greenspan sagen wird. Seine Antwort: Ich bin Alan Greenspan.“
Auch wenn die neuen Rüstungsprogramme und die gigantisch gesteigerten Staatsschulden der US-Wirtschaft kurzfristig Impulse geben, so führen sie längerfristig zu einer weiteren Einschränkung der Produktivitätsentwicklung. Damit droht zum ersten Jahrestag des 11. September eine verschärfte Weltmarktkonkurrenz und die Zuspitzung der Krise der US-Wirtschaft mit verheerenden Auswirkungen für die Weltwirtschaft.

Neue Welle von Arbeitskämpfen

Der Terrorakt vor einem Jahr hat den (US-)Imperialismus vorübergehend auf der ideologischen und militärischen Ebene gestärkt. Damit ist einmal mehr deutlich geworden, dass Aktionen des individuellen Terrorismus die Herrschenden nicht schwächen, sondern ihnen ganz im Gegenteil von Nutzen sind.
Den führenden kapitalistischen Staaten dienten die Anschläge, mit ihrer Militarisierung der Politik beschleunigt voran zu schreiten. Der US-Supermacht halfen die vergangenen Monate, ihre internationale Vormachtstellung weiter auszubauen. Dennoch können Bush und Co auch heute keineswegs schalten und walten, wie es ihnen beliebt. Der vom CIA maßgeblich eingefädelte Putschversuch gegen den venezolanischen Präsidenten Chavez in diesem April scheiterte kläglich – an einem Aufstand der verarmten ArbeiterInnen und BäuerInnen in diesem lateinamerikanischen Land.
Nachdem der Kapitalismus der arbeitenden Bevölkerung weltweit selbst im Konjunkturaufschwung der neunziger Jahre nichts zu bieten hatte, sollen ArbeiterInnen und Arbeitslose jetzt für die Kosten der Krise aufkommen. Die Generalstreiks in Italien und Spanien, die landesweiten Arbeitsniederlegungen in Griechenland und Portugal, sowie die Welle von Streiks und Protesten nicht nur in Argentinien, sondern auch in Peru, Paraguay und Uruguay hatten eine klare Botschaft: Die Arbeiterklasse, die immer wieder totgesagt wurde, stellt weiterhin die stärkste Kraft in der Gesellschaft dar und gibt nicht mehr viel auf die Versprechungen der Unternehmer und ihrer Regierungen.
Das Scheitern des Stalinismus wurde von vielen fälschlicherweise als ein Scheitern des Sozialismus verstanden. Damit haben sozialistische Ideen in den neunziger Jahren zeitweilig stark an Unterstützung verloren. Aber selbst der Spiegel muss inzwischen schreiben: „Weltweit mehren sich nun die Zweifel an einem Wirtschaftssystem, für das der amerikanische Aktienkapitalismus Pate stand“ (28/2002). Immer mehr Lohnabhängige werden sich bewusst machen, dass es nicht nur ein paar faule Äpfel im Korb gibt (die Bürgerlichen meinen die Manager von Enron, Worldcom, Xerox und Co), sondern dass der ganze Korb von Fäulnis erfasst ist, wie der Niedergang der Marktwirtschaft in Lateinamerika, Japan – aber auch in Europa vor Augen führen.
Eine Kriegsausdehnung in den nächsten Monaten würde der Antikriegsbewegung enormen Auftrieb geben und ein Zusammenkommen mit der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung ermöglichen. SozialistInnen machen sich dafür stark, dass die AktivistInnen alles versuchen, die Arbeiterklasse für ihre Anliegen zu gewinnen. Ebenso werben SozialistInnen in der Arbeiterbewegung für die Unterstützung antikapitalistischer Positionen – und für eine Wirtschaft und Gesellschaft auf Grundlage einer echten sozialistischen Demokratie als den einzigen Ausweg aus der kapitalistischen Sackgasse.

Marixismus heute:

Imperialismus

Vor hundert Jahren ist der Kapitalismus in ein neues Stadium getreten, in das Stadium des Imperialismus. Das vergangene Jahrhundert, das Jahrhundert des Imperialismus, war das blutigste in der gesamten Menschheitsgeschichte. Hundert Millionen kamen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts ums Leben, mehr als zwischen dem Beginn der Zivilisation und dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Imperien gab es bereits vor dem Aufstieg des Kapitalismus. Die Sklavenreiche in Griechenland und Rom eroberten Land, unterwarfen andere Völker und häuften ungeheure Reichtümer für die Klasse der Sklavenhalter an. Auch das Mittelalter, der Feudalismus, war von Eroberungskriegen geprägt, wie den Kreuzzügen im Nahen Osten, in denen Adel, Feudalherren und Kirche AraberInnen unterjochten.
Der Imperialismus stellt eine neue Stufe in der Geschichte von Klassengesellschaften dar. Der russische Revolutionär Lenin gab seinem Buch mit einer grundlegenden Analyse aus marxistischer Sicht zurecht den Titel: „Der Imperialismus, das höchste Stadium im Kapitalismus“. Nach Lenin zeichnete sich der Imperialismus ökonomisch dadurch aus, dass Monopole im Wirtschaftsleben dominieren, dass Industrie- und Bankkapital zum Finanzkapital verschmelzen, der Kapitalexport gegenüber dem Warenexport an Bedeutung gewinnt, die Aufteilung der Erde unter die multinationalen Konzerne beginnt und die territoriale Aufteilung des Planeten unter den Großmächten abgeschlossen ist.
Bis 1900 hatten Britannien und Frankreich die Welt weitgehend kolonialisiert. Die Kolonialstaaten wurden durch die neuen imperialistischen Mächte wirtschaftlich ausgepresst und ausgeplündert (Rohstoffe, billige Arbeitskräfte, Absatzmärkte). Nach dem die Welt unter den Großmächten aufgeteilt war, versuchten die „Zu-kurz-Gekommenen“, eine Neuaufteilung herbeizuführen. Die Folge waren zwei Weltkriege.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die unterdrückten Massen in Afrika, Asien und Lateinamerika in revolutionären Kämpfen die formale Unabhängigkeit ihrer Länder erreichen. Trotz der rechtlichen Unabhängigkeit ist die ökonomische Abhängigkeit für die meisten früheren Kolonialstaaten geblieben – und gestiegen. Darum bezeichnen SozialistInnen diese Länder heute auch als neo-koloniale Länder.
Die Wirtschaft vieler Länder ist von Monokulturen gekennzeichnet (in Chile dominierte jahrzehntelang Kupfer, in Kolumbien Kaffee und so weiter). Die Preispolitik der führenden Industriestaaten zwang die unterentwickelten Länder, Rohstoffe zu verkaufen und Fertigprodukte zu kaufen. Die Schere zwischen den armen und reichen Ländern hat sich weiter geöffnet: Die Schweiz ist heute 400 Mal so reich wie Mosambik. Die Verschuldung der so genannten „Dritten Welt“ gegenüber den führenden kapitalistischen Staaten ist allein in den neunziger Jahren von 1,5 auf 2,2 Billionen US-Dollar angestiegen.
Die Merkmale des imperialistischen Stadiums, wie sie Lenin herausgearbeitet hatte, gelten in diesen Tagen mehr als je zuvor. 500 Multis kontrollieren 90 Prozent des Weltmarktes. Unter den 100 größten Wirtschaftseinheiten sind 51 Konzerne und 49 Nationalstaaten. Der Jahresumsatz von DaimlerChrysler entspricht dem Bruttoinlandsprodukt von Indonesien. Zwölf Prozent von DaimlerChrysler gehören der Deutschen Bank direkt, über weitere Teile verfügt sie durch bei ihr gelagerte Aktiendepots.
Ob ein Land imperialistisch ist, hängt von seiner Wirtschaftsstruktur und dem von ihr bestimmten Interessen der herrschenden Klasse ab. Auch ein wirtschaftlich schwächeres Land, in dem die wenige vorhandene Industrie stark monopolisiert und mit den Banken verflochten ist, ist ein imperialistisches Land. Die Kapitalistenklasse des ex-kolonialen (oder neo-kolonialen) Indiens versucht beispielsweise, aus anderen Ländern Profite zu saugen und einen Staat wie Sri Lanka in ihre Abhängigkeit zu bringen.
Krieg ist nach wie vor die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Mit dem Krieg gegen Afghanistan und dem geplanten Krieg gegen den Irak werden die ökonomischen, politischen und geostrategischen Interessen der größten imperialistischen Mächte mit militärischen Mitteln verfolgt. In diesen Kriegen werden neue Waffen getestet – um sich auf künftige Kriege vorzubereiten. Diese Ereignisse strafen die These von den Autoren des Buches „Empire“ Lügen, die von einer post-imperialistischen Epoche sprechen, in denen Kriege nur noch die Aufgabe von Polizeiaktionen hätten, Nationalstaaten überwunden wären und die Macht nicht mehr lokalisierbar wäre.
Während die Erwärmung des Klimas steigt, kühlen sich die Beziehungen zwischen Konzernen und Nationalstaaten – im Verlauf der Weltwirtschaftskrise – ab. Handelskonflikte und Handelskriege werden verstärkt zu militärischen Auseinandersetzungen führen – wenn die arbeitende Bevölkerung sich nicht über alle Grenzen hinweg zusammentut, und dem Imperialismus nicht „den Krieg erklärt“.

Aron Amm ist Mitglied der Bundesleitung der SAV