Sichtlich angeschlagen in den Ring – die SPD und die Große Koalition

Müntefering wird Vize-Kanzler, Nahles kuscht, Platzeck kommt


 

Die SPD versucht nach dem Müntefering-Rücktritt „ zur Ruhe zu kommen“, so mahnende Worte aus dem Seeheimer Kreis der Partei-Rechten. Die Große Koalition soll wie geplant durchgezogen werden. Doch der Eklat um die Nominierung der SPD-Linken Andrea Nahles zur Generalsekretärin machte deutlich:

– Die Große Koalition ist angeschlagen, bevor sie gebildet wird.

– Die SPD befindet sich in der Krise: Sie wird zerrieben zwischen den Anforderungen der Konzerne an sie als Regierungspartei und dem Unmut in breiten Teilen der ArbeitnehmerInnen über die Sozialkahlschlagspolitik. Verkörpert wird diese Unzufriedenheit durch die WASG und den Neuformierungsprozess der Linken. Die Sozialdemokraten werden herausgefordert.

– Die SPD-Linke hat – mal wieder – nach kurzem Gebell den Schwanz eingezogen. Gerade das macht sie aus.

von Stephan Kimmerle, Berlin

Einen Schritt nach vorn, zwei zurück: Andrea Nahles, am Montag noch vom SPD-Parteivorstand zur Generalsekretärin designiert, verzichtete nach Münteferings Rücktritt vom Parteivorsitz auf eine Bewerbung für dieses Amt. Und jetzt, nach „Pöbelbeiträgen“ und „Attacken“ im Parteivorstand (Spiegel online), kandidiert sie auch nicht als stellvertretende Parteivorsitzende, was Platzeck ihr zunächst angeboten hatte. Jeder, der noch hoffte, es ginge um inhaltliche Positionen, für die die SPD-Linke sich einsetzen würde, muss das als Schlag vor den Kopf verstehen. Manöver um Posten, prinzipienlose und kampflose Deals, ein Durchziehen der Befürworter der Großen Koalition – das ist die SPD von heute, dazu gibt es keine inhaltliche Gegenwehr der SPD-Linken.

Mathias Platzeck, Ministerpräsident an der Spitze des rot-schwarzen Bündnisses in Brandenburg, steht für diese SPD. Er verspricht schon mal für die Koalition mit CDU/CSU im Bund: „Mit Sicherheit kommen Härten“ (Platzeck im ZDF).

Druck durch WASG und Linksbündnis

Und trotzdem verrät das Hin und Her um Nahles im Parteivorstand, unter welchem Druck die Sozialdemokratie steht.

Unmut über die Agenda 2010? Solange als einzige Alternative die CDU im Raum stand, versuchten Schröder und Co sich von einer Wahl-Niederlage zur anderen durchzuschlagen. Dreist präsentierten sie sich noch als „kleineres Übel“.

Doch die Entstehung der WASG, die Kandidatur der WASG-Kandidaten auf den Listen der Linkspartei zum Bundestag und die Neuformierung der Linken – das nimmt die SPD in die Mangel.

Banken und Konzernen machen Dampf, die „Reformen“ gnandenlos weiter durchzuziehen. Ein 43-Milliarden-Sparpaket zu Lasten der Masse der Bevölkerung soll an den Anfang der Großen Koalition gestellt werden.

Der Gegendruck von links: Wenn die Fraktion der Linken im Bundestag endlich in die Pötte kommt, wenn beim Neuformierungsprozess der Linken endlich klare Positionen gegen jede Form von Sozialkahlschlag bezogen werden, dann kann eine neue Linke tief eindringen in die Gewerkschaften, in soziale Bewegungen und in die traditionelle sozialdemokratische Wählerschaft. Das ist vielen führenden SPDler klarer als ihnen lieb ist.

Erst „ja“, dann „nein“ zu Nahles – darin spiegelt sich die Zerrissenheit der SPD. Es zeigt aber auch, wer und was sich durchsetzt: die Treue zum Sozialkahlschlag. Und auch Nahles selbst kuscht.

Große Koalition – wie lange?

Die europäische Ausgabe des Wall Street Journal titelte (3. November): „ Heuschreckenfresser“. Aus dem Artikel, der die Sorgen der Bosse widergibt: „Während des Wahlkampfs im Sommer erlangte der SPD-Vorsitzende internationalen Ruhm mit seiner Beschreibung globaler sprich: amerikanischer – Investoren als „Heuschreckenschwärme“. Seit der unentschieden ausgegangenen Wahl hat die deutsche Politik so groteske Formen angenommen, dass Müntefering jetzt als ein Gemäßigter gilt. Der Rücktritt von seinem Parteiamt gefährdet deshalb nicht nur jede Hoffnung auf Reformen in Deutschland, sondern auch die Chancen für die Bildung einer stabilen Regierung. Der CSU-Vorsitzende Stoiber zog sich gestern aus der Koalition mit der Äußerung zurück, die Sozialdemokraten seien nicht länger verlässlich. Das dürfte die Untertreibung des Jahres sein. Die Sozialdemokraten implodieren und ziehen Deutschland mit in den Abgrund“ (zitiert nach Deutschland-Radio Presseschau, 3. November).

Es gibt zwei Gründe, warum die Große Koalition eine Koalition auf Abruf werden wird.

Zum einen ist sie nicht die Wunsch-Koalition des Kapitals. Mit Schwarz-Gelb und einer „Maggi“ Merkel sollte gegen die Beschäftigten und ihre betriebliche Interessensvertretung, die Gewerkschaften, Thatcher-mäßig vorgegangen werden. Unter den jetztigen Bedingungen ist das für sie schwieriger. Sie werden für die Zukunft auf ihre Wunschoption zurück kommen wollen.

Zum anderen wird sich der Unmut von unten steigern: Die Angriffe der Großen Koalition provozieren geradezu Gegenwehr, zumal diese Koalition nach Müntefering-Rücktritt vom SPD-Vorsitz und Stoiber-Flucht die eigene Schwäche demonstrativ vor sich her trägt.

Viel hängt davon ab, diesen Unmut in Widerstand zu verwandeln: Gegen die Blockade der Gewerkschaftsspitzen muss Gegenwehr von unten in den Betrieben und Gewerkschaften durchgesetzt werden. Und beim Neuformierungsprozess der Linken kann diese Wut nur dann kanalisiert werden, wenn dabei eine Partei entsteht, die sich klar auf die Seite von Beschäftigten, Erwerbslosen, Jugendlichen und RentnerInnen stellt und jede Form von Sozialkahlschlag ablehnt. Das schließt Koalitionen mit Parteien, die Sozialraub betreiben, kategorisch aus.

Organisieren!

WASG und Linke profitieren aber nicht automatisch von der Krise der SPD oder von vorgezogenen Neuwahlen. Es kommt auf das Handeln der verschiedenen Akteure an.

AktivistInnen aus Betrieben, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sind gefordert: Greift ein in den Neuformierungsprozess der Linken. Verhindert, dass am Ende eine Fusion von WASG und PDS steht, in der die Kürzungs-Senatoren und -Minister der Linkspartei / PDS aus Berlin und Mecklenburg-Vorpommern oder die Realpolitiker kommunaler Kürzungen in zahlreichen PDS-Stadtratsfraktionen das Sagen haben. Eine neue Partei der Bewegungen soll keine Partei sein, die die Bewegungen kommandiert, sondern im Gegenteil: Um dem Druck des Kapitals stand zu halten, muss Gegendruck von unten aus den sozialen Bewegungen entfaltet werden. Die sozialen Bewegungen müssen eingreifen und eine solche Partei kontrollieren und korrigieren.

Die WASG-Mitglieder und kritsiche Linke sind im Neuformierungsprozess gefordert für die AktivistInnen und für ganz neu Interessierte offensive Angebote zu machen: Raus in die Betriebe und auf die Straße, neue Leute in den Neuformierungsprozess einbeziehen, einmischen in die Auseinandersetzungen um Privatisierungen, Kürzungen, Entlassungen und Lohnraub – Widerstand leisten.

Dann kann die Krise der SPD genutzt werden.


Mehrwertsteuererhöhung mit der SPD:

„Tarnen und täuschen“

Unter der Überschrift „Schwarz-Gelb: Tarnen und täuschen“ veröffentlichte die SPD im Wahlkampf ein Flugblatt. Hier Auszüge: „ CDU/CSU und FDP haben sich über die Grundlagen einer schwarz-gelben Zusammenarbeit verständigt. […] Zu diesen Themen sagen CDU/CSU und FDP in ihrer gemeinsamen Erklärung nichts:

– Kein Wort zur geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer.

– […]

Die Strategie von Schwarz-Gelb hat Methode: CDU/CSU und FDP wissen,dass es für ihre Politik der sozialen Spaltung und des gesellschaftlichen Rückschritt keine Mehrheit in Deutschland gibt. Deshalb schweigen sie über Inhalte und versuchen sich hinter einem reinen Stimmungswahlkampf zu verstecken.“, so das SPD-Wahlkampfflugblatt.

Und nun? „Das wachsende Finanzloch lässt Politiker dramatische Töne anschlagen. Eine Mehrwertsteuererhöhung auf 20 Prozent sei nicht auszuschließen, erklärte der designierte SPD-Chef Matthias Platzeck. “ Spiegel online, 4. November.


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