Privatisierung und Arbeitnehmerrechte sind Schlüsselthemen in der Debatte um die Kampagnen zum Referendum
von Kevin McLoughlin, Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Irland), Dublin, 14. Juni 2008
Mit einer für eine solche Abstimmung vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung von 53,1 Prozent wurde vergangenen Donnerstag (12.6.) der “Vertrag von Lissabon” (die umbenannte EU-Verfassung) in Irland mit 53,4 Prozent zu 46,6 Prozent deutlich abgelehnt. Da die Nein-Seite in jeder Meinungsumfrage bis zur letzten Woche noch zurück lag, stellt dies einen schweren Schock für das politische wie auch das wirtschaftliche Establishment in Irland dar.
Die Regierung mit Taoiseach (Premierminister) Brian Cowen, die meisten Oppositionsparteien (einschließlich der Labour-Party), Bauern- und Arbeitgeberverbände, die Mehrzahl der Gewerkschaftsvorsitzenden, Kirchen, Medien und jedes andere Mitglied des Establishments hatten zuvor ihre enormen Ressourcen miteinander verbunden und benutzt, um zu einem „Ja“ aufzurufen. Ob dieser Abstimmungsniederlage sind sie nun alle reichlich fassungslos.
Damit haben auch die Interessen der Großunternehmen und die politische Elite, die die EU kontrollieren, einen Dämpfer erhalten. „Bei allem Respekt vor der irischen Abstimmung können wir nicht hinnehmen, dass die gewaltige Mehrheit Europas von einer Minderheit einer Minderheit der Minderheit betrogen wird”, so der Kommentar von Axel Schäfer (SPD), Vorsitzender der Bundestagskommission für Europaangelegenheiten. Einige Kommentatoren forderten, dass Irland, ein Land mit weniger als einem Prozent der europäischen Bevölkerung, nicht eingeräumt warden darf, ganz Europa „aufzuhalten“. Die Wahrheit ist allerdings, dass es in allen EU-Mitgliedsstaaten Volksabstimmungen zum Vertrag von Lissabon hätte geben müssen, wenn die EU demokratisch wäre. Und auf der Grundlage der Ablehnung in Irland und vorangegangenen ablehnenden Abstimmungen zur EU-Verfassung wäre auch der Vertrag von Lissabon von der Arbeiterklasse in vielen weiteren Ländern abgewiesen worden. Die wahre Minderheit, die das Leben von Millionen von EuropäerInnen beherrscht, sind die winzigen jeweiligen herrschenden Klassen.
Die Socialist Party war wichtiger Teil der Nein-Kampagne. Wir verknüpften unsere eigenen und unabhängigen Aktivitäten mit der Teilnahme an der breiteren, losen „Kampagne gegen die EU-Verfassung” („Campaign Against the EU Constitution, CAEUC“), die dreizehn andere Parteien, Gruppierungen und AktivistInnen einschloss, welche eine fortschrittliche und linke Position voranbrachten. „Sinn Fein”, die einzige Partei mit Parlamentsabgeordneten gegen den Lissabon-Vertrag, war besonders in den Medien prominent vertreten. Doch ihre zentrale Forderung, dass der Lissabon-Vertrag nachverhandelt werden könne und müsse, war schwach und möglicherweise nur eine Vorbereitung darauf, ein solches Abkommen dann zu unterstützen, wenn sie selbst an einer zukünftigen Regierung beteiligt werden.
Entscheidende Rolle von Joe Higgins
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass der Repräsentant der „Socialist Party“, Joe Higgins, eine absolut entscheidende Rolle beim Kurs der Kampagne spielte. Joe war einer der fähigsten Vertreter der „Nein-Fraktion“, der sich der Argumentation der etablierten Politiker und der Industrievertreter annahm. Dies wird allgemein anerkannt. In der gestrigen Ausgabe der Tageszeitung „Evening Herald“ brachte die Medienanalystin und -beraterin Terry Prone eine Liste mit zehn Punkten, weshalb der Lissabon-Vertrag abgelehnt worden ist. Und Joe Higgins ist unter diesen ersten zehn. „Sie haben nicht verstanden, welchen Einfluss Außenseiter wie Joe Higgins haben. Joe Higgins ist eine Institution. Er ist mehr als ein Kuriosum. Auch Menschen, deren Herz nicht links schlägt, identifizieren sich mit ihm, weil sie ihn als geradeaus und leidenschaftlich und geistreich betrachten. Wenn er sagt, dass die Gesundheitsversorgung privatisiert werden wird, dann schüttelt es sie.“
Während der Kampagne ums Referendum behauptete die “Ja”-Fraktion, dass der Lissabon-Vertrag hauptsächlich zur Modernisierung der EU und zur Veränderung der EU-Strukturen diene, damit eine größere EU effizienter arbeiten kann. Es wurde versucht, die wichtigen polititschen, ökonomischen und militärischen Aspekte, die der lange und praktisch nicht lesbare Vertrag enthält, zu relativieren.
Während die Socialist Party eher allgemein mit dem Thema der Militarisierung im Lissabon-Vertrag umging, konzentrierten wir uns darauf, inwiefern der Vertrag die Privatisierung so grundlegender öffentlicher Bereiche wie Gesundheit und Bildung erleichtert und wie er einen Angriff auf die Löhne, Arbeitsbedingungen und Arbeitnehmerrechte bedeutet.
Der Vertrag von Lissabon wurde bewusst so geschrieben und mit angehängten Protokolltexten verkompliziert, um es noch schwerer zu machen, seinen neoliberalen und arbeitnehmerfeindlichen Inhalt herauslesen zu können. Enthalten ist auch eine sogenannte Charta der Grundrechte, die keine neuen Rechte für ArbeiternehmerInnen anfügt, aber von der sozialdemokratischen (Erg. d. Übers.) Labour-Partei und Gewerkschaftsführern als Rechtfertigung für die “Ja”-Kampagne herangezogen wurde.
Im Gegensatz zum letzten Mal, als das Establishment erfolgreich sagen konnte, man soll dem Vertrag zustimmen und mit dem Mantra spielte: “verwehrt den zehn Ländern Osteuropas nicht das Recht, der EU beizutreten”, konnte diesmal kein starkes Argument vorgebracht werden, das ihre Kampagne hätte umrahmen können. Die, die die “Ja”-Kampagne führten, wollten den aktuellen Details des Vertrages von Lissabon ausweichen und stattdessen weiterhin das Argument in den Mittelpunkt stellen, dass Europa gut für Irland ist. Damit wurden die sich verändernden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die die arbeitenden Menschen Irlands erfahren, ausgeklammert.
Artikel 188c des Vertrages von Lissabon würde es – durch die Aufhebung des Vetorechts einzelner Staaten bei Handelsabkommen in den Bereichen Gesundheit und Bildung – ermöglichen, dass Finanzspekulanten das Recht erhalten, zu intervenieren und sich die Rosinen, die am meisten profitablen Teile in Gesundheit und Bildung herauszupicken. Diese kapitalistischen Aasgeier würden neue Gebührensysteme einführen und den öffentlichen Sektor grundlegend unterminieren.
Mit dem Vertrag von Lissabon wird mit der Politik fortgefahren, die das Recht auf Handel und “Geschäfte zu tätigen” – mit anderen Worten: das Recht, Profite zu erwirtschaften und auszubeuten – in den Mittelpunkt der EU und über die Rechte von ArbeitnehmerInnen auf angemessene Bezahlung und Arbeitsbedingungen stellt. Darüber hinaus wird es dem Europäischen Gerichtshof erleichtert, damit fortzufahren, neue Urteile zu fällen, die Großkonzerne gegenüber ArbeitnehmerInnen bevorteilen (wie z.B. in den Fällen von Laval und Ruffert schon geschehen).
Privatisierung und Arbeitnehmerrechte sind Hauptaspekte der Auseinandersetzung
Die Themen, zu denen sich durch die gesamte Kampagne um die Abstimmung des Lissabon-Vertrages die größten Auseinandersetzungen abspielten, waren Privatisierung und Arbeitnehmerrechte. Die Socialist Party half mit Joe Higgins’ Einflussnahme und auch über unsere großen Plakate zu diesen Punkten, die in den wichtigsten Städten zu sehen waren, diese Themen auf die Tagesordnung zu drängen. Zwei Plakate der Socialist Party titelten: ‘Keine Privatisierung von Gesundheit und Bildung – Nein zu Lissabon’ und ‘Verteidigt Arbeiterlöhne und Arbeitsbedingungen – Nein zu Lissabon’. Im Vergleich zu nahezu allen anderen Plakaten, die uninteressante, inhaltslose Slogans brachten, machten unsere deutliche Aussagen zu den Schlüsselthemen und zeigten echte Wirkung. In einer Radiodebatte beklagte sich Gesundheitsministerin Mary Harney bitterlich, dass Joe Higgins und die Socialist Party im ganzen Land Plakate geklebt hatten, auf denen behauptet wurde, dass die Gesundheitsversorgung privatisiert werden würde. In einer Email einer Wählerin an die Socialist Party wurde festgestellt: "Ich muss sagen, dass ich wirklich zwiegespalten war, bis ich Ihre Plakate sah. Als ich mitbekam, dass SF [Sinn Fein] die einzige Partei war, die für ein “Nein” eintrat, war ich kurz davor, mit “ja” zu stimmen, weil ich kein SF-Fan bin. Aber als langjährige Anhängerin von Ihnen und all Ihrer Ansichten, beeinflusste mich Ihr Plakat, das zu einem “nein” aufrief, in meiner Entscheidung".
Tagein, tagaus klagte die “Ja”-Fraktion einschließlich der Führung von Labour-Party und Gewerkschaften die Socialist Party und die “Nein”-Fraktion unverblümt an, “Panikmache” zu betreiben und sie behaupteten, dass öffentlicher Dienst und Arbeitnehmerrechte durch ein “ja” bei der Abstimmung abgesichert würden. In diesem Zusammenhang ist es sehr bedeutsam, dass der Vertrag von Lissabon ausdrücklich von entscheidenden Teilen der Arbeiterklasse zurückgewiesen worden ist.
Während der Abstimmungskampagne unterstützen die Medien die “Ja”-Fraktion, indem sie versuchten, die Argumentation der “Nein”-Kampagne zu unterminieren. Für einige Menschen mag es ausgesehen haben, als ob die Auseinandersetzung zum Stillstand gekommen sei, da einer Behauptung der einen Seite, die Gegendarstellung der anderen Seite auf den Fuß folgte. Es kam mithin die wichtige Frage auf, ob man auf das vertrauen würde, was politisches und wirtschaftliches Establishment über den Lissabon-Vertrag verbreiten würden. Der Instinkt bedeutender Teile der Arbeiterklasse zeigte den Eliten deutlich, dass sie ihr nicht vertrauen!
Nach 15 Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs in Irland, einer fehlenden politischen Alternative und ausbleibenden Massenbewegungen der arbeitenden Menschen wurden nun die Gemüter, die Zuversicht und die Einstellungen der Menschen berührt. Die Ablehnung des Vertrags von Lissabon bleibt eine definitve Aussage der Arbeiterklasse. Von den Kommentatoren wurde offen anerkannt, dass das Abstimmungsergebnis zeigte, dass die Arbeiterklasse im Gegensatz zur Mittelschicht und zu wohlhabenden Gebieten, wo der Lissabon-Vertrag Akzeptanz fand, stärker an dem Referendum teilnahm
Es gab reaktionäre Elemente auf Seiten der “Nein”-Fraktion wie z.B. ‘Libertas’, eine vom neoliberalen irischen Milliardär Declan Ganley gegründete Gruppierung. Unter dem Dach von “Coir” wurden religiöse Randgruppen und reaktionäre Abtreibungsgegner zusammen gebracht. Als Versuch, die Menschen einzuschüchtern und doch noch mit “ja” zu stimmen, wurde diesen Gruppierungen vor allem in den letzten Wochen der Kampagne unverhältnismäßig große Beachtung geschenkt. Dennoch stießen während der Kampagne die Aspekte wie z.B. drohende steigende Körperschaftssteuern, Abtreibung etc., die solche Gruppen herausstellten, nicht auf größere Resonanz.
Medien und Regierung versuchen den Sieg der “Nein”-Kampagne zu verdrehen
In der Zeit nach dem Referendum werden die Medien und die Regierung versuchen, die Gründe der Menschen mit “nein” zu stimmen, zu verdrehen. In einer Email an die Socialist Party erklärte eine Frau jedoch: "Ich bin wütend auf unsere politischen Vertreter. Ich hatte das Gefühl, dass sie die “Nein”-Kampagne und die Intelligenz der irischen WählerInnen abgetan und sie herabgesetzt haben. Ihr habt allerdings meine eigene Sichtweise auf Europa, die Globalisierung und Privatisierung sowie die Aushöhlung der Demokratie sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Bedenken, die, wie ich weiß, viele teilen. Als sie dann versuchten, die “Nein”-Stimmen mit der Haltung zur Wehrpflicht und zur Abtreibung zu erklären, stellte die Regierung die WählerInnen als Sündenbock dar, um sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen. Und wie sie dies taten, zeigt, wie weit sie sich von der Lebenswirklichkeit der irischen ArbeiterInnen entfernt haben."
Was geschieht nun? Das Abstimmungsergebnis bedeutet nicht, dass der Vertrag von Lissabon vom Tisch ist. Es ist anzunehmen, dass das EU-Establishment nicht genau weiß, was es nun tun soll. Man ist aber fest entschlossen fortzufahren. Für sie ist entscheidend, die EU auf die Intensivierung des Wettbewerbs mit den USA und China sowie den Wettlauf um Märkte, Ressourcen und Einflussnahme vorzubereiten. Sollte die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon durch die jeweiligen Regierungen nach diesem Referendum weitergehen, ist es wahrscheinlich, dass sie damit auch durchkommen werden. Sie werden Irland möglicherweise unter Druck setzen, ein erneutes Referendum einzuholen oder die Iren andernfalls “zurückzulassen”!
Während einige Oppositionsparteien, die den Lissabon-Vertrag unterstützt hatten, gesagt haben, dass sie gegen eine Wiederholung des Referendums sind und eine solche zweite Abstimmung ganz eindeutig ernste Gefahren für das politische Establishment Irlands bedeuten würde, hat die Dubliner Regierung diese Möglichkeit ganz bewusst noch nicht ausgeschlossen.
Was klar ist, ist, dass das beste Echo auf diesen Sieg eine aktive Antwort der Arbeiterklasse wäre, bei der Menschen am Arbeitsplatz, in den Stadtvierteln, den Schulen und Universitäten aktiv werden, um eine Opposition zur kapitalistischen neoliberalen Politik aufzubauen. Die Socialist Party wird alles in ihrer Macht stehende tun, um solche Kampagnen und Bewegungen aufzubauen. Äußerst wichtig ist, dass das Referendum die Kluft zwischen arbeitenden Menschen und dem Establishment (einschließlich der Führer von Labour-Party und Gewerkschaften) entblößt. Dies wirft die dringliche Notwendigkeit für den Aufbau einer neuen Massenpartei der arbeitenden Menschen auf.
Die Socialist Party führte eine lebhafte “Nein”-Kampagne, die zu Medieninteresse führte, Massenplaktierungen beinhaltete, in der Zehntausende von Flugblättern verteilt, in vielen Stadtzentren Infotische veranstaltet, Hausbesuche unternommen und eine Reihe von öffentlichen Treffen und Diskussionsveranstaltungen organisiert wurden. Unsere Kampagne markierte definitiv einen Wendepunkt und entwickelte das landesweite Profil der Socialist Party weiter.
Die Diskussionsveranstaltungen mit führenden Köpfen der “Ja”-Kampagne, die wir in Cork, Limerick und Dublin organisiert haben, waren die größten öffentlichen Debatten zu diesem Thema in besagten Städten und hatten eine wichtige Bedeutung. Die Teilnehmerzahl lag jeweils bei 170, 100 bzw. 200 Menschen.
Die Socialist Party hält in den kommenden Wochen Nachtreffen zur Abstimmung über den Vertrag von Lissabon in mehreren Städten ab und wir sind überzeugt, dass uns wegen der Rolle, die die Socialist Party bei diesem wichtigen Sieg spielte und aufgrund unserer klar sozialistischen Alternative zum neoliberalen Kapitalismus neue Leute beitreten werden.