Israel und Palästina zwischen Krieg und Krise

Der Gazastreifen ist das größte Gefängnis auf der Erde, ein Zuchthaus unter freiem Himmel. Am 27. Dezember beauftragten die Gefängnisleiter ihre Wächter, die Inhaftierten einem schrecklichen Bombenhagel auszusetzen. Das Resultat: Über 1.400 Todesopfer unter den PalästinenserInnen, die teilweise oder vollständige Zerstörung von 22.000 Gebäuden (14 Prozent aller Häuser im Gazastreifen).


 

von Aron Amm, Berlin

„Straßen wurden in eine Mondlandschaft verwandelt“, so Associated Press. Jaber Wishar vom palästinensischen Menschenrechtszentrum meinte: „Dies erinnert an den Film „The Day After“ – ein US-Film über die Folgen einer Nuklearkatastrophe. Auch wenn die Zahl der von der Hamas und anderen Kräften abgefeuerten Kassam-Raketen erst einmal deutlich zurückgehen sollte, wird sich die Sicherheitslage für die israelische Bevölkerung durch den Krieg weiter verschlimmern.

Lügen in Zeiten des Krieges

Zu den vielen Greueltaten zählt der Beschuss der UN-Fakhura-Schule im Dschabalija-Flüchtlingslager. Die israelische Armee rechtfertigte diesen Akt damit, dass Hamas-Anhänger von einem Vorplatz der Schule aus Mörsergranaten abgeschossen hätten. Als Beweis wurde eine Luftaufnahme veröffentlicht. Bald stellte sich jedoch heraus, dass das Foto älter als zwölf Monate war. Das ist nur ein Beispiel von Hunderten für die Lügenmaschinerie Israels. Überhaupt wurde dieser Angriffskrieg von der herrschenden Klasse in Israel zu einem Verteidigungskampf umgelogen. Dabei stand die israelische Armee – die viertgrößte auf dem Planeten – mit ihren Kampfflugzeugen, Drohnen, Kriegsschiffen, Panzern und Artillerie wenigen tausend leichtbewaffneten Hamas-Kämpfern gegenüber.

Zu den Kriegsverbrechen der Freunde der deutschen Regierung, die so gern von der Verteidigung der „Demokratie“ schwafelt, gehört die Verhaftung von Hunderten von Kriegsgegnern, die Nichtzulassung arabischer Parteien zur Wahl und eine rassistische Kampagne gegen israelische AraberInnen.

Kriegsursachen

Kriege „brechen“ nicht einfach aus. Das gilt auch für das jüngste Massaker in Gaza. Dieses war von langer Hand geplant worden. Zunächst sorgten die israelischen Streitkräfte durch die Ermordung von sechs Hamas-Aktivisten im vergangenen November für ein Ende der im Sommer vereinbarten sechsmonatigen Waffenruhe. Dann bewiesen sie in beiden Phasen des Krieges – zuerst mit der Luftoffensive, dann mit dem Einmarsch von Bodentruppen –, dass Armee und Regierung gut vorbereitet waren.

Warum mussten über 400 palästinensische Kinder sterben? Die Regierung unter dem scheidenden Ministerpräsidenten Ehud Olmert von der Kadima-Partei wollte vor dem für den 10. Februar festgesetzten Wahltermin Boden gut machen. Nicht zuletzt, um von Korruptionsskandalen und den Folgen des Wirtschaftseinbruchs abzulenken.

Das israelische Militär und wichtige Teile der Herrschenden waren schon seit längerer Zeit auf diesen Krieg aus gewesen. Ihnen ging es darum, die Blamage vom Libanon-Krieg vor zweieinhalb Jahren vergessen zu machen.

Anfang 2006 hatte die Hamas die Wahlen in der Palästinensischen Autonomiebehörde (Gaza und Westjordanland) gewonnen. Seitdem bauten die israelischen Kapitalisten darauf, einen Keil zwischen die islamistische Hamas und den palästinensischen Massen zu treiben, in dem sie den PalästinenserInnen die Daumenschrauben immer fester zogen. In der trügerischen Hoffnung, die bei den Wahlen unterlegene – und für das israelische Regime genehmere – Fatah zu stärken, ließen sie außerdem Dutzende Hamas-Funktionäre ermorden, stellten die Zahlung sämtlicher der Autonomiebehörde zustehender Zollgelder ein, schlossen alle Grenzübergänge und verhängten eine Handelsblockade gegen den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen. Laut Weltbank stehen seit Beginn der Blockade 98 Prozent aller Betriebe still. Die Zahl der Armen erhöhte sich von 50 auf 80 Prozent. Die USA, die Bundesrepublik und weitere Staaten beteiligten sich am Embargo.

Wurzeln des Konflikts

Die Rechte der PalästinenserInnen werden mit Füßen getreten. Und das nicht erst seit Kurzem. Vor hundert Jahren wurden sie von arabischen Feudalherren geknechtet, die wiederum Marionetten des türkischen Osmanischen Reichs waren. Nachdem dieses Reich im Zuge des Ersten Weltkriegs zerfiel, gerieten die arabischen Massen unter die Herrschaft britischer und französischer Kolonialmächte.

Parallel dazu fand seit Ende des 19. Jahrhunderts der Zionismus vor allem unter Juden verstärkten Zuspruch. Angesichts der antisemitschen Hetze in Russland und Europa setzten wachsende Kreise ihre Hoffung in die Idee eines eigenen jüdischen Staates – in Palästina. Der Holocaust, die Vernichtung von sechs Millionen Juden im Hitlerfaschismus, ließ den zionistischen Gedanken schließlich zu einer mächtigen Kraft werden. Der Zustrom von Juden nach Palästina führte zu heftigen Auseinandersetzungen mit den dort ansässigen PalästinenserInnen. Auf die Errichtung des Staates Israel 1948 folgte ein Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten. In ihm mussten über eine halbe Million PalästinenserInnen fliehen. Nach dem Krieg wurden sie an der Rückkehr gehindert.

Seit den fünfziger Jahren erhielt Israel im Schnitt jährlich vier Milliarden Dollar Hilfsgelder vom US-Imperialismus. Washington war darauf aus, mit dem neuen Staat ein Bollwerk gegen die Aufstände und revolutionären Bewegungen in der arabischen Welt zu errichten. Aufgrund des Ölreichtums in der Region und der geostrategischen Lage bleibt der Nahe Osten bis heute zentral für die US-Interessen.

Die Gründung des Staates Israel in Palästina bedeutete nicht nur unendliches Leid für die arabischen Menschen, sondern erwies sich auch (wie der russische Revolutionär Leo Trotzki befürchtet hatte) als eine „blutige Falle“ für die Juden. Seit 1948 kam es zu nunmehr sechs Kriegen.

1964 wurde die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) gegründet. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzte Israel Gaza und das Westjordanland. Nach dieser Niederlage der arabischen Regime erlangte die Fatah unter Jassir Arafat die Führung der PLO.

Mit der von Israel zugestandenen Bildung der Palästinensischen Autonomiebehörde 1993 wurde die PLO zu einem neuen Unterdrücker für die PalästinenserInnen. Die Hamas, aus dem Zweig der ägyptischen Muslimbrüderschaft in Gaza entstanden (und vom israelischen Geheimdienst als PLO-Konkurrent ursprünglich gefördert), gewann an Unterstützung.

Operation „Gegossenes Blei“ beendet

Mit dem Gaza-Krieg konnte Israel weder die Hamas entscheidend schwächen noch den Widerstandsgeist der PalästinenserInnen brechen. Trotzdem zog die israelische Armee drei Wochen nach Beginn des Terrors ihre Truppen aus dem Gazastreifen wieder ab. Warum? Die israelischen Kriegstreiber schreckten vor einer sich lange hinziehenden „dritten Phase“ der Militäroffensive, dem Häuserkampf, zurück, weil ihnen die Niederlage im Libanon im Sommer 2006 noch in den Gliedern steckte.

Einer Umfrage am Beginn des Krieges zu Folge unterstützten 80 Prozent der Israelis die Luftschläge, aber nur 20 Prozent eine Bodenoffensive. Nachdem die Invasion begonnen hatte, stellte sich zwar eine Mehrheit hinter die „zweite Phase“. Trotzdem musste die Meinungsumfrage von Ende 2008 den Herrschenden in Israel als eine Warnung dienen, dass die Stimmung im Fall eines lang anhaltenden Gemetzels durchaus wieder kippen könnte.

Als das israelische Militär zum Angriff blies, schwieg Barack Obama. Auch unter dem 44. US-Präsidenten wird die israelische Brutalität gegenüber den PalästinenserInnen sanktioniert. Allerdings gab Obama der israelischen Regierung deutlich zu verstehen, dass ihm eine militärische Zuspitzung des Konflikts zum Beginn seiner Amtszeit denkbar ungelegen käme. Schließlich will er solange wie möglich eine „weiße Weste“ behalten und sich außerdem zunächst auf die Aufstockung der US-Truppen in Afghanistan konzentrieren.

Israel: „Die Krise ist da“

Mit dem begrenzten Militärschlag konnten die Kadima unter Tzipi Livni und die Arbeiterpartei unter Ehud Barak Boden gut machen. Benjamin Netanjahus noch weiter rechts stehender Likud und Avigdor Liebermans „Israel Beitenu“ gingen aus dem Gaza-Krieg jedoch ebenfalls gestärkt hervor; schließlich waren die letzten Wochen Wasser auf ihren Mühlen.

„Der bewaffnete Konflikt in Gaza“, schrieb die FAZ am 8. Januar, „überdeckt die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise, die Israel mit einiger Verzögerung getroffen hat“. Während die israelische Ökonomie 2008 insgesamt noch mit über vier Prozent wuchs, stagnierte die Wirtschaft im vierten Quartal abrupt. Der israelische Zentralbank-Chef Stanley Fischer musste eingestehen: „Die Krise ist da.“ Dabei werden die Kosten des Gaza-Krieges noch zusätzlich zu Buche schlagen. Der Krieg im Libanon führte zu einem Verlust des Bruttoinlandsprodukts um ein bis zwei Prozent.

Nach dem Einbruch beim Export von Diamanten und landwirtschaftlichen Produkten hoffen die Unternehmer auf den einheimischen Hightech-Sektor. Weil es aber weltweit in so gut wie allen Branchen riesige Überkapazitäten gibt, besteht für eine Sonderkonjunktur im „Silicon Wadi“ (zwischen Tel Aviv und Haifa) keine Grundlage.

Da die israelische Wirtschaft zwar schrumpft, aber nicht über Nacht in eine Depression kippt, ist es unwahrscheinlich, dass die arbeitende Bevölkerung in Israel von einer Schockstarre ergriffen wird. Zumal es in den jüngsten Jahren eine deutliche Zunahme von Arbeitskämpfen und Studierendenprotesten gab.

Islamisten

Die Hamas geht aus dem jüngsten Konflikt politisch gestärkt hervor. Selbst die militärischen Rückschläge wird sie bald verkraften können. Das Raketenarsenal der Hisbollah im Libanon soll heute sogar dreimal so groß sein wie zu Kriegsende Mitte August 2006.

Die Fatah hat sich in den Augen vieler PalästinenserInnen in den vergangenen Wochen weiter diskreditiert. So hat sie Demonstrationen im Westjordanland gegen die israelischen Angriffe unterbunden.

Mangels starker Arbeiterorganisationen mit sozialistischer Ausrichtung konnten sich die islamisch-fundamentalistischen Kräfte in der Region in der letzten Zeit behaupten. Mit der globalen Krise des Kapitalismus stellen sich die Fragen nach einer Systemalternative jedoch in aller Schärfe. Fragen, auf die Organisationen wie die pro-kapitalistische Hamas keine Antworten geben können.

In Ägypten demonstrierten nicht nur bis zu einer halben Million Menschen gegen den Krieg, sondern traten auch Hunderttausende von Beschäftigten in den letzten zwei Jahren in den Ausstand. Eine kommende Streikwelle, die möglicherweise zum Sturz des verhassten Präsidenten Husni Mubarak führt, könnte die Stärke der Arbeiterklasse in der Region unterstreichen und enorme Ausstrahlungskraft bekommen.

Ägypten mit 75 Millionen Menschen und einer besonders großen Zahl von Lohnabhängigen ist ein Schlüsselland im arabischen Raum. Sollte es – nach den Streiks der Teheraner Busfahrer und anderer Teile der Beschäftigten – im Iran einen neuen Aufschwung von Klassenkämpfen geben, hätte das ebenfalls einen herausragenden Stellenwert. Schließlich würde das zu einer Konfrontation mit Mahmud Ahmadinedschad führen, der sich als scheinbar unerbitterlicher Gegner des Imperialismus zu profilieren sucht. Eine Revolte in einer Hochburg des islamischen Fundamentalismus könnte vor Augen führen, dass die Politik der Islamisten nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist.

Weitere Konflikte vorprogrammiert

Der Gaza-Krieg wird einen neuen Kreislauf der Gewalt auslösen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass schon in nächster Zeit ein neuer bewaffneter Konflikt aufflammt. Entweder losgetreten durch Racheaktionen seitens der Hamas und ihrer Anhänger (zum Beispiel auf die in großer Zahl stationierten israelischen Soldaten an der Grenze zum Gaza) oder durch Hardliner in den Reihen des israelischen Staates. So erklärte Netanjahu direkt nach Beendigung der Kampfhandlungen, dass die Armee „Hamas einen schweren Schlag zugefügt hat, aber der Job leider noch nicht zu Ende geführt worden ist“.

Seit Jahren droht Israel damit, einer atomaren Bewaffnung des Iran militärisch zuvorzukommen. Unlängst berichtete die New York Times, dass auf Druck der USA das israelische Militär vor einem Jahr von einem solchen geplanten Angriff absehen musste. Obama wird im Gegensatz zur Bush-Regierung das Gewicht in den kommenden Monaten auf ein größeres diplomatisches Vorgehen legen. Er weiß, dass ein Angriff gegen den Iran einen Flächenbrand im Nahen Osten provozieren würde. Dennoch schwelt dieser Konflikt weiter.

Die Weltwirtschaftskrise wird alle Staaten im Nahen Osten erschüttern, soziale Unruhen hervorbringen und zu einer gewaltigen Destabilisierung beitragen. Damit wird sich die Spirale aus Krisen und Kriegen beschleunigt weiterdrehen. Vor diesem Hintergrund ist es dringender denn je, für eine Alternative zu kämpfen, die – im Interesse der arbeitenden und erwerbslosen Menschen in Palästina, in Israel und international – diesen Teufelskreis durchbrechen kann.