Island vom Wunderland zum Problemfall
Seit vergangenem Herbst schaut erstmals die ganze Welt auf Island, dem kleinen Inselstaat im Nordatlantik. Von Gerüchten über Milliardenkredite aus Russland (zur Verhinderung eines Staatsbankrotts) über wütende Massenproteste bis hin zum Sturz der Regierung erreichen uns täglich neue Nachrichten. Island, einst (pro Kopf gesehen) das sechstreichste Land der Erde, steckt knietief in einer wirtschaftlichen und politischen Krise.
von Nelli Tügel, Berlin
Erst 2003 wurden die isländischen Banken privatisiert. Spekulanten nahmen in Niedrigzinsländern Kredite auf, legten das Geld dann in Island an, um von der dortigen Hochzinspolitik zu profitieren. Damit wurde eine Kreditblase produziert, deren Platzen zur Folge hatte, dass sich die Schulden der drei größten – mittlerweile verstaatlichten – isländischen Banken Kaupthing, Landsbanki und Glitnir auf mehr als das Zehnfache des Bruttoinlandsprodukts Islands belaufen und Island nun in eine Depression geht.
Spekulationsblase geplatzt – Existenzen zerstört
Die Folgen für die isländische Arbeiterklasse sind katastrophal. Nahezu jeder ist betroffen. Und das, obwohl viele Angriffe auf Sozialleistungen und Massenentlassungen noch bevorstehen.
Für 2009 wird eine Arbeitslosenquote von bis zu zehn Prozent erwartet, in einem Land, in dem bis dato quasi Vollbeschäftigung herrschte. Es kursieren Zahlen, nach denen ein Drittel der Bevölkerung plant, das Land zu verlassen.
Zehn Prozent der 300.000 Menschen halten inzwischen völlig wertlose Bankaktien. 30.000 IsländerInnen haben Kredite für das Haus oder für PKWs aufgenommen, die in anderen Währungen als der Anfang Oktober völlig eingebrochenen isländischen Krone berechnet sind.
Studierende, die sich dank Stipendien im Ausland aufhalten, müssen zurückkehren, weil das Geld nicht mehr zum Leben reicht.
Aufruhr
Die enorme Wut darüber entlud sich in einer Welle von Protesten. Seit Mitte Oktober finden regelmäßig Demonstrationen von bis zu 7.000 TeilnehmerInnen statt, die immer wütender und militanter werden. Anfang Dezember stürmten mehrere hundert DemonstrantInnen die Zentralbank in Reykjavik. 500 brachen in das Hauptquartier der Polizei ein, um die Freilassung einer verhafteten Demonstrantin zu erzwingen. Im Januar kam es bei Protesten zu Zusammenstößen mit der Polizei. Nachdem Mitte Januar über eine Woche lang täglich bis in die Nacht hinein Parlament und Parteibüros belagert wurden, musste der konservative Ministerpräsident Geir Haarde für den 9. Mai Neuwahlen ankündigen.
Auf Demos wurden Manager-Puppen an selbst gebastelten Galgen aufgehängt. Ein Witz, der dort die Runde macht, lautet: „Weißt du, wie man einen Banker vor dem Ertrinken rettet?“ „Nein.“ „Gut so!“
Der einzige seit Oktober wachsende Wirtschaftszweig ist der Personenschutz, denn erstmals in der Geschichte verspüren Politiker das Bedürfnis, sich zu „schützen“.
Der isländische Gewerkschaftsverband ASI hat bisher nicht zu den Demonstrationen aufgerufen. Mit einem Organisationsgrad von 90 Prozent aller Beschäftigten hätte er jedoch die Macht, Streiks und Generalstreiks gegen Arbeitsplatz- und Sozialabbau durchzuführen.
Heute Island – und Morgen?
In den bürgerlichen Medien wird die Krise Islands als Folge besonders gieriger und rücksichtsloser Banker erklärt und als Ausnahmeerscheinung dargestellt. Aber was auf Island passiert ist, sind Symptome eines von Grund auf kranken Systems – international.