Ganzen Konzernen droht das Aus
Die weltweite Autoindustrie steht vor einer beispiellosen strukturellen Krise. Diese Branchenkrise beeinflusst in erheblichem Maß die Krise der sogenannten „Realwirtschaft“.
von Winfried Wolf
Vor gut hundert Jahren illustrierte Wladimir Lenin am Beispiel der damals vorherrschenden Transporttechnologie, wie festgefügt im „Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus“ (so sein Buchtitel) die Machtverhältnisse sind: „Rund 80 Prozent der gesamten Eisenbahnen der Welt sind (…) in den Händen von fünf Großmächten konzentriert.“ Gemeint waren England, Frankreich, Deutschland, die Vereinigten Staaten von Amerika und Japan.
Im Jahr 2009 konzentrieren sich mehr als 80 Prozent der Fertigung der aktuellen, Mobilität spendenden Transportmittel – Pkw, Lkw und Busse – auf Konzerne, die erneut in nur fünf Ländern beheimatet sind. Vier dieser Autogroßmächte – die USA, Japan, Deutschland und Frankreich – sind identisch mit den von Lenin identifizierten Eisenbahn-Großmächten (Nummer Fünf ist Südkorea).
Im Zentrum der globalen Krise
Der Niedergang der damals führenden Industrie, der Eisenbahn, stand im Zentrum großer Krisen, so derjenigen von 1873 und derjenigen von 1929. Heute erleben wir eine weltweite Krise, in der die Autoindustrie eine entscheidende Rolle spielt.
Nirgendwo wird dies deutlicher als im Mutterland der Autoproduktion, in den USA. Der Pkw-Absatz lag hier bereits in den Monaten November und Dezember 2008 um knapp 40 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Mitte Dezember 2008 beschlossen die drei Autokonzerne General Motors (GM), Ford und Chrysler, ihre Fabriken für mehrere Wochen komplett zu schließen. Am 5. Dezember 2008 konstatierte der Vorsitzende des Bankenausschusses des US-Senats, Christopher Dodd von den Demokraten, schlicht: „Es geht nicht darum, eine Handvoll Konzerne zu retten. Es geht um die gesamte Wirtschaft.“
Für die weltweite Automobilindustrie begann im Herbst 2008 eine tiefe Krise, die im Jahr 2009 zu einem desaströsen Einbruch der Produktion im zweistelligen Bereich führen wird. Die Krise dieses führenden modernen kapitalistischen Industriezweigs wird die übrigen negativen Tendenzen der weltweiten Krise – in der Realwirtschaft, aber auch im Finanzsektor (Autokreditbanken, Pkw-Kauf auf Kreditbasis) – massiv verstärken.
Entwicklung der Autoproduktion
Im Zeitraum 1960 bis 2007 wurde die Zahl der pro Jahr hergestellten Kraftfahrzeuge um das Viereinhalbfache – von 16,5 auf 73,2 Millionen – gesteigert. Die größte absolute Steigerung erfolgte im jüngsten, 2007 abgeschlossenen Zyklus, als binnen sieben Jahren der Ausstoß um 15 Millionen Kfz-Einheiten erhöht wurde.
Aktuell liegt die Beschäftigtenzahl in der weltweiten Autoindustrie bei 8,5 Millionen; damit blieb sie seit 1970 weitgehend konstant. Es gibt also eine extreme Auseinanderentwicklung von Output und Beschäftigungsniveau. Darin findet die immense Steigerung der Produktivkraft und die stark gestiegene organische Zusammensetzung des Branchenkapitals (beziehungsweise die ständig steigende Kapitalintensität) ihren Ausdruck.
Jüngster Branchenzyklus – jüngste Branchenkrise
2007 wurden knapp 25 Prozent mehr Kraftfahrzeuge gebaut als im Jahr 2000. In Europa stieg der Produktionsausstoß in der Kfz-Fertigung im genannten Zeitraum „nur“ um 3,9 Prozent. In Deutschland allerdings um neun Prozent.
In den USA gab es 1999 bis 2007 einen massiven Rückgang der Produktion (um gut 17 Prozent). Erst vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung des dramatische Einbruchs im Jahr 2008 verständlich – es handelt sich um einen zusätzlichen Einbruch im Rahmen eines allgemeinen Niedergangs (1937 entfielen 80 Prozent der weltweiten Autoproduktion auf die Fertigung in den USA selbst, 2007 nur noch ein gutes Siebtel).
Japan, das bis Ende der achtziger Jahre als der große Aufsteiger gefeiert wurde, büßte von 1999 bis 2007 Anteile ein (von 17,6 auf 15,9). Gleichzeitig gingen die Anteile der übrigen asiatischen Länder steil nach oben, am deutlichsten derjenige von China (von 3,3 Prozent im Jahr 1999 auf 12,1 im Jahr 2007). Allerdings wird dies durch die Tatsache relativiert, dass ein erheblicher Teil der Autofertigung in China und im übrigen Asien von den europäischen, japanischen und US-amerikanischen Konzernen dominiert wird.
Der Anteil Europas am Weltautomobilbau, der bis in die achtziger Jahre ansteigend war, ist inzwischen – trotz der gewaltigen Produktionssteigerungen in Mittel- und Osteuropa – rückläufig (1999: 33,5 Prozent; 2007: 26,9).
Branchenkrise als Exempel für die allgemeine Krise
Einiges spricht dafür, dass die aktuelle Krise der Autoindustrie charakteristisch ist für die gesamte gegenwärtige weltweite Krise. Dies kann auf drei Ebenen konkretisiert werden.
Erstens hinsichtlich der Tiefe der Krise: Die aktuelle globale Krise wird möglicherweise nicht ganz so gravierend wie die Branchenkrise im Fahrzeugbau ausfallen. Doch die Rückgänge im gesamten Bereich der Industrie könnten sich – bezogen auf einen Zeitraum von zwei und mehr Jahren – ebenfalls im zweistelligen Bereich bewegen. Das allerdings käme einer Steigerung der allgemeinen Massenarbeitslosigkeit um 30 bis 50 Prozent gleich.
Zweitens hinsichtlich der Rolle des Staates als „letzter Instanz“: Nur der Staat kann diese Branche in ihrer Substanz retten. Das ist so in den USA. Das ist so in Deutschland, wo das Land Hessen Ende 2008 erste Hilfsmaßnahmen für die GM-Tochter Opel beschloss und wo die Bundesregierung umfangreiche Stützungsmaßnahmen diskutiert. Das ist so in Schweden, in Italien oder in Spanien. Und das ist so in Frankreich, wo unter Präsident Nicolas Sárkozy bereits im November 2008 ein umfangreiches branchenspezifisches Stützungsprogramm beschlossen wurde.
Drittens hinsichtlich der Breite der Faktoren, die ursächlich für die Krise sind: Es gibt neben der Autoindustrie kaum eine Branche, die hinsichtlich der Nachfrage derart „breit aufgestellt“ ist. Die Autoindustrie zielt im Wesentlichen auf drei unterschiedliche Nachfragearten: auf die kaufkräftige Nachfrage der (überwiegend lohnabhängigen) Massen (in der Sprache der Marx’schen Analyse auf „v“, auf das sogenannte „variable Kapital“). Mit den Luxus-Pkw zielt die Autobranche sodann als zweites auf die Nachfrage der Reichen (und damit auf einen Teil des Mehrwerts, „m“, der als Einkommen der Vermögenden erscheint). Schließlich zielt die Autoindustrie mit ihren Nutzfahrzeugen auf die Nachfrage von Unternehmen (und damit auf „k“, einen Teil des konstanten Kapitals – zur Reproduktion des betrieblichen konstanten (fixen) Kapitals, und auf denjenigen Teil des Mehrwerts, der im Unternehmen verbleibt und der im Rahmen der erweiterten Akkumulation – als Expansion – investiert wird). Tatsächlich bricht in der gegenwärtigen Krise der Absatz bei allen drei Segmenten ein.
Kapitalkonzentration
Eine spezifische Auswirkung der neuen Krise in der internationalen Autoindustrie wird darin bestehen, dass es zu einem Schub mit Produktivitätssteigerungen und zu einer umfassenden Kapitalkonzentration kommt. Teilweise verschränkt sich dieser Prozess mit einem neuen, durch die Krise und die Subventionen bedingten Protektionismus. Teilweise werden in diesem Zusammenhang auch internationale Verbindungen aufgelöst.
Der US-Kongress gewährte im Dezember 2008 GM und Chrysler die neuen Kredite in Höhe von 17 Milliarden US-Dollar mit der Auflage, dass keine Gelder ins Ausland abwandern dürfen. Die Bundesregierung will Opel finanzielle Hilfen nur dann gewähren, wenn diese Gelder nicht in den GM-Gesamtverbund fließen. Und es gibt die Gedankenspiele, Opel als selbstständiges Unternehmen zu führen (was mittelfristig – siehe das Schicksal von Rover nach dem BMW-Ausstieg – nicht funktionieren kann).
In jedem Fall wird es zu einem neuen Schub der Kapitalkonzentration kommen. Die Überlebensfähigkeit etwa von Chrysler oder von Fiat ist kaum vorstellbar.
Die hundertjährige Geschichte der Branche ist zugleich eine beeindruckende Geschichte der Kapitalkonzentration. Als General Motors 1908 gegründet wurde, gab es allein in den USA Dutzende Autohersteller. GM allerdings war bereits der Beginn einer großangelegten Kapitalkonzentration. GM gründete bald auch eigene Unternehmen im Ausland. Am 17. März 1929, verkauften Adam von Opel und Fritz von Opel den damals führenden deutschen Autohersteller Opel an GM.
Damals gab es weltweit noch rund 50 relevante Autohersteller. 1974/75, zum Zeitpunkt der sogenannten „Ölkrise“, gab es noch rund 25 international relevante unabhängige Kfz-Hersteller. Bis Anfang 2009 wurde diese Zahl nochmals halbiert – auf dreizehn weltweit relevante Autokonzerne (mit ihren jeweiligen Töchtern): General Motors, Toyota, VW, Ford, Renault, Honda, Hyundai, PSA Peugeot, Suzuki, Fiat, Chrysler, Daimler und BMW. Die zwei Letzten, Daimler und BMW, können sich in dieser Liste nur aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaft als Hersteller von Luxusautos halten.
Arbeitsplatzabbau
Kommt es zu dem erwarteten Rückgang der weltweiten Kfz-Fertigung im zweistelligen Prozentbereich, dann stehen weltweit deutlich mehr als eine Million Arbeitsplätze direkt in der internationalen Automobilindustrie und mehr als 150.000 Arbeitsplätze in der deutschen Branche auf dem Spiel. Dabei dürfte diese Branchenkrise die Autozulieferer deutlich stärker als die eigentliche Autoindustrie treffen.
Insgesamt geht es weltweit um den drohenden Verlust von mehreren Millionen Arbeitsplätzen und in Deutschland um rund eine Million gefährdete Jobs allein im Fahrzeugbau.
Behält man die Aussage im Kopf, dass wir hier im Rahmen einer neuen Weltwirtschaftskrise die Krise der führenden industriellen Branche beschreiben, dann wird der exemplarische Charakter dieser Branchenkrise für den gesamten weltweiten Kapitalismus verdeutlicht. Deutlich wird dann auch, dass diese Krise nicht allein eine soziale und rein-ökonomische ist. Es handelt sich zugleich um eine Krise, die von der Zerstörung der Umwelt und von der Bedrohung des Klimas geprägt ist. Bei dieser Spezifikation der allgemeinen Weltwirtschaftskrise spielt die Autoindustrie eine entscheidende Rolle. Oder auch: Die neue Weltwirtschaftskrise ist vor allem auch eine Krise des auf Öl basierenden Kapitalismus.