Die Studierendenbewegung damals und heute
Der 68er-Bewegung schwebten radikale Veränderungen vor. Allerdings ist ihr politisches Erbe noch einzulösen.
von Max Brym, München
In der Bundesrepublik war fast das komplette Lehrpersonal der Nazis nahtlos übernommen worden. Der Lehrstoff wurde von alten Nazi-Professoren bearbeitet. Doch Mitte der sechziger Jahre wurde der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) immer stärker. Parolen wurden laut wie: „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren.“ Die Studierenden wollten einen anderen Unterricht und ein anderes Lehrpersonal.
Polarisierung
Am 2. Juni 1967 gab es den Schah-Besuch in Westberlin. Viele StudentInnen protestierten dagegen. Angehörige des iranischen Geheimdienstes SAVAK prügelten, gedeckt von der deutschen Polizei, auf die DemonstrantInnen ein. Am Abend wurde der unbewaffnete Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Dieser Tag stellte eine Zäsur für die damalige Studierendenbewegung dar, sie entwickelte sich deutlich nach links. Mehr und mehr stellten den bürgerlichen Staat und den Kapitalismus in Frage. Kampagnen gegen Notstandsgesetze, Vietnam-Krieg und die damals erstarkende NPD spielten eine große Rolle.
Das Establishment reagierte mit Härte. Nach dem großen Vietnam-Kongress des SDS in Westberlin und der anschließenden Demonstration im Februar 1968 kochten die Reaktionäre über. BILD schrieb von „den langhaarigen Affen Ulbrichts“. Der Berliner Senat veranstaltete eine Kundgebung gegen die Studierendenbewegung. Der charismatische Studentenführer Rudi Dutschke wurde als „Volksfeind Nr. 1“ angegriffen. Parolen wie „Tötet Dutschke“ waren keine Seltenheit. Im Frühjahr 1968 kam es dann zu einem Attentat auf Dutschke. Daraufhin wurden in vielen westdeutschen Großstädten die Druckzentren von BILD belagert. Die Parole hieß: „Enteignet Springer!“ In München wurden anlässlich der Belagerung durch die Polizei zwei Menschen getötet.
Verbindung zu den Beschäftigten?
Das Jahr 1968 war der Scheitelpunkt einer internationalen Bewegung. Phänomenal, wie fast zeitgleich Ende der sechziger Jahre in Westeuropa, Japan oder Mexiko die Jugend revoltierte, in den USA Massenproteste gegen den Vietnam-Krieg tobten, in Osteu-ropa der „Prager Frühling“ Hoffnungen weckte und in Afrika die Befreiungsbewegung einen Aufschwung nahm.
Was den StudentInnen in der Bundesrepublik in all dieser Zeit nicht gelang, war eine relevante Verbindung zur Arbeiterklasse herzustellen. Anders als in Frankreich zum Beispiel, wo die Studierendenunruhen in Generalstreik und Betriebsbesetzungen mündeten. Dabei gab es vor dem Hintergrund der Rezession 1966/67 auch in der BRD mit den Massenprotesten der Bergleute beispielsweise ausreichend Ansätze.
Heute genießen die Forderungen der Studierenden – anders als 1968 – Massensympathie in der Bevölkerung. Allerdings ist diese Sympathie bislang im Wesentlichen passiv. Es gibt zwar jede Menge Grußworte von den Gewerkschaften, aber von dieser Seite kommen fast keine Vorschläge für gemeinsame soziale Proteste. Auch bei vielen StudentInnen ist das Verständnis bezüglich der Notwendigkeit eines kollektiven Widerstands noch unterbelichtet. Trotzdem gibt es wichtige Debatten in den Plena der Hörsäle zu dieser Frage. In München wurde die Frage aufgeworfen, ob man wirklich „für freie Bildung und gleichzeitig für Hartz IV und Niedriglöhne sein“ könne. Viele StudentInnen merken, dass der Kontakt zu den Arbeitenden und Arbeitslosen wichtig ist. Dieses Bewusstsein gilt es auszubauen.
Kapitalismus-Kritik
In den sechziger Jahren setzte in der BRD sowohl unter den Studierenden als auch unter den Beschäftigten eine Linksentwicklung ein, die – nach dem Ende der Großen Koalition – der SPD/FDP-Regierung einige Reformen abtrotzen konnte. Darunter die Einführung des BAföG im Jahr 1971. Die bis 1970 üblichen Prügelstrafen an den Hauptschulen wurden verboten. Zudem entstand ein anderes Verhältnis zur Sexualität, der Kupplerparagraf (der Sex vor der Ehe untersagen wollte) wurde abgeschafft.
Die Studierendenaktivisten von heute definieren sich selbst großteils nicht als links. Dies ist ein gravierender Unterschied zu 1968. Dennoch ist jeder Akt des sozialen und demokratischen Protestes objektiv links. Letzteres merken auch schon viele Student-Innen. Vor vierzig Jahren stand immer die Systemfrage im Hintergrund. Weil die BRD sich als Frontstaat gegenüber dem Ostblock beweisen musste. Aber auch, weil eine gesellschaftliche Radikalisierung einsetzte. Die relativen Erfolge der damaligen Bewegung lagen jedenfalls gerade auch an diesen Faktoren.
Marx entdecken
Ende der sechziger Jahre gab Willy Brandt aus: „Holt sie uns von der Straße.“ Viele folgten diesem Ruf und wurden in das System integriert. Andere bildeten maoistische Kleingruppen oder organisierten sich in anderen antikapitalistischen Zusammenhängen; zudem entstand die Rote-Armee-Fraktion.
Es gab damals leider keine schonungslose Kritik am Stalinismus. Das erleichterte es der Spitze von Gewerkschaften und SPD, die Bewegung zu spalten.
Auch heute setzt wieder ein größeres Interesse an marxistischer Theorie ein. Um so wichtiger ist es – auf Grund der Erfahrungen von 1968 –, die gesellschaftliche Alternative, die Notwendigkeit einer sozialistischen Demokratie weltweit, klar herauszuarbeiten.