Das neue Jahr im Europaparlament
Das neue Jahr hat kalt und einsam begonnen im Europäischen Parlament. Die Flure, in denen für gewöhnlich ein geschäftiges Hin und Her von gehetzten AssistentInnen und ParlamentarierInnen herrscht, sind verlassen. Die dritte Etage des Altiero Spinelli Gebäudes am Luxemburgplatz, auf der sich sonst die internationalen Fernsehteams tummeln und O-Töne der EU-Parlamentsabgeordneten einfangen – menschenleer. Keine Schlange vor der Kaffeetheke, das ist gut so. In meinem Büro ist es kalt. Es ist der 4. Januar, die letzte Email datiert vom 22. Dezember – das Parlament hat zwei Wochen Winterschlaf gehalten.
von Tanja Niemeier, Brüssel
Das gibt mir als Neuankömmling und Mitarbeiterin in der Fraktion der GUE/NGL (Vereinte Europäische Linke/ Nordische Grüne Linke) etwas Atempause, um mich in die verschiedenen internationalen Handelsabkommen der Europäischen Union einzuarbeiten. Mein Job ist es, gemeinsam mit anderen KollegInnen von der Fraktion, die Entwicklungen im Internationalen Handelsausschuss zu verfolgen und vorbereitende Arbeit für die GUE-Abgeordneten des Ausschusses zu leisten. Joe Higgins, Abgeordneter der Socialist Party in Irland )dortige Sektion des Komitees für eine Arbeiterinternationale, CWI) und Helmut Scholz (DIE LINKE) sind die beiden vollwertigen GUE-Vertreter im Internationalen Handelsausschuss, der – wie das Parlament und alle anderen Ausschüsse – dominiert wird vom "neo-liberalen Konsens". Innerhalb der 35- köpfigen GUE-Fraktion gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen, wie man mit dem politischen Kräfteverhältnis im Europäischen Parlament umgehen soll.
Freihandel um jeden Preis
In ihrem Strategiedokument: "Global Europe: Competing in the world" macht die Europäische Kommission sehr deutlich, dass der freie Zugang zu Märkten und Rohstoffen entscheidend ist für die Wettbewerbsfähigkeit der EU gegenüber anderen Handelsblöcken und Ländern. Dass man dafür bereit ist über Leichen zu gehen, wird deutlich an den Verhandlungen über ein mögliches Freihandelsabkommen mit den Ländern der CAN (Community of the Andean Nations/Andean Community of Nations), zu denen auch Kolumbien gehört. Laut Jahresbericht des Internationalen Gewerkschaftsdachverbandes wurden im Jahr 2008 76 GewerkschafterInnen ermordet, 49 davon in Kolumbien. Bis Ende Oktober 2009 wurden mehr als dreißig weitere GewerkschaftsaktivistInnen ermordet.
Der beinahe unheimlichen Ruhe der ersten Januarwoche folgte hektisches Treiben in der zweiten Woche. Ende Januar wird die Barosso Kommission neu zusammengestellt. Zwanzig AnwärterInnen für die privilegierten und mächtigen Ämter der EU-Kommissare für die zwanzig verschiedenen parlamentarischen Ausschüsse werden bis Ende Januar durch Ausschussmitglieder befragt. Einer der begehrtesten und einflussreichsten Ämter ist der des Kommissars für Internationalen Handel. Der belgische Kandidat Karel De Gucht, bisher Kommissar für Entwicklungszusammenarbeit und prominentes Mitglied der Liberalen Partei (VLD) stellte sich am 14. Januar den Fragen. Am Tage darauf waren die Medien voll des Lobes über De Guchts "exzellente" Sachkenntnis in Fragen des Internationalen Handels. Nachdem ich die Zeitungsartikel gelesen hatte, dachte ich an einer anderen Anhörung teilgenommen zu haben. Wie naiv von mir. Natürlich ist er der richtige Mann für den Job. Er vertritt die Interessen der Herrschenden und der mächtigen Konzerne in Europa. Mehr Freihandel, besseren Zugang zu internationalen Märkten und Rohstoffen, den Wunsch, dass China seine Märkte weiter öffnen wird, kurzum: die Umsetzung des oben erwähnten Strategiepapiers. Hier und da wird dann natürlich auch von den "Europäischen Werten" gesprochen, die man verbreiten will: Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz. Das ist wahrscheinlich die Prise sozialer Rhetorik, die sich auch die Befürworter des Neoliberalismus in Zeiten des Verfalls ihrer eigenen Ideologie zugelegt haben: "Freihandel muss ein festes internationales Regelwerk kennen. Freihandel muss dem Konsumenten dienen aber muss auch fundamentale Grundwerte promoten". Als würde es süße Zitronen geben.
Sri Lanka
Ein echtes Highlight aus meiner Sicht, die ich als revolutionäre Sozialistin dazu beitragen will die "Bühne" des Parlamentes denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sonst kein Gehör finden, war die Anhörung zu Sri Lanka im Internationalen Handelsausschuss am 14. Januar. Seitdem der Tsunami 2005 weite Teile Sri Lanka´s verwüstet und tausenden Menschen die Lebensgrundlage entzogen hat, erhält das Land großenteils zollfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt (das System nennt sich "General System of Preference – GSP+").
Wegen der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen gegen die tamilische Minderheit in Sri Lanka und aufgrund öffentlichen Drucks, hat die Kommission Anfang des Jahres vorgeschlagen das GSP+ einzufrieren. Rat und Parlament müssen sich nun eine Meinung dazu bilden. Für diese Gelegenheit hat der internationale Handelsausschuss eine (!) Stunde Zeit zur Verfügung gestellt, um den Botschafter Sri Lanka´s als Vertreter der Regierung und einen Nichtregierungsvertreter anzuhören. Aus Angst vor möglichen Anschlägen auf sein Leben oder das Leben seiner Familie hat ein Vertreter der in Sri Lanka tätigen Organisation "Journalisten für Demokratie" die Einladung ausgeschlagen. Stattdessen konnte Senan, der internationale Koordinator der Kampagne "Tamil Solidarity", vor dem Ausschuss sprechen. Eine vierköpfige Delegation der srilankischen Botschaft versuchte ihn durch starke Präsenz einzuschüchtern. Sri Lanka sei nicht das einzige Land, in dem es Probleme gebe. Deshalb solle die EU nicht mit zweierlei Maß messen, wenn es um das GSP+-System geht. Das schien die Hauptverteidigungslinie des Botschafters zu sein. Auf eine sehr arrogante Art versuchte er Senans Anklage als typische Denunziationen der srilankischen Diaspora zu bezeichnen. Senan erklärte auch, dass er- gemeinsam mit Vertretern der Tamil Solidarity Kampagne in Sri Lanka- den Vorschlag für die Aufhebung des GSP+-Status begrüßt. Gleichzeitig sprach er davon, dass die eingeleitete Maßnahme der Kommission "too little too late" (zu wenig und zu spät) ist. Stattdessen wäre eine öffentliche Verurteilung Sri Lankas zu Beginn des Genozids notwendig gewesen. Die arbeitende Bevölkerung und die Armen profitieren nicht direkt von den Zollerleichterungen. Im Gegenteil: viele Arbeitsplätze, die durch den Tsunami verloren gegangen sind, bleiben verloren. Das Geld wird nicht für den Wiederaufbau eingesetzt, viel bleibt direkt in den Taschen der korrupten Rajapaksa-Dynastie stecken. Vorteilhaft ist das GSP+-System unter anderem auch für das British Retail Consortium (britische Handelsvereinigung). Direktor Alisdair Gray erklärte, dass das GSP+-System dazu beiträgt, dass sein Konsortium aufgrund der billigeren Einfuhrpreise gerne mit Stoffen und Textilien aus Sri Lanka Handel betreibt.
Sarkastisch spricht die Botschaft Sri Lankas von "welfare villages" wenn sie Internierungslager meint. Lager, deren Lage zum Teil geheim gehalten wird und in denen Kinder und Jugendliche festgehalten werden, wie Senan darlegte. Einige dieser Kinder sind erst acht Jahre alt; sie haben keinen Kontakt zu ihren Familien.
Dass Senan nicht für die isolierte Diaspora spricht wird deutlich an den vielen Reaktionen, die er nach seiner Rede erhalten hat: "Lieber Senan, Du hast einen fantastischen Beitrag im Europäischen Parlament geliefert und die Heuchelei des Srilankischen Botschafters aufgedeckt." oder "Du hast die Wahrheit ans Tageslicht gebracht über den Zustand der Tamilen in Eelam. Lass die Welt die Augen öffnen". Dann weiß ich, dass sich meine Arbeit hier lohnt.