Debatte zwischen Stephan Krull und Mustafa Efe
Zu Jahresbeginn wurde ein an die Opel-Betriebsräte gerichteter Offener Brief veröffentlicht. Darin wird vor Stellenabbau und Lohnverzicht – im Gegenzug für eine Beteiligung der Restbelegschaft am Unternehmenskapital – gewarnt. Konfrontiert mit der von oben geplanten Streichung von über 8.000 Arbeitsplätzen, mehr als die Hälfte davon in den deutschen Opel-Werken, plädieren die Initiatoren des Offenen Briefes dafür, „die Arbeitszeit zu verkürzen und die Vier-Tage-Woche (ähnlich dem VW-Modell) bei Opel einzuführen“. Unter den UnterzeichnerInnen befindet sich – neben dem emeritierten Politikwissenschaftler Peter Grottian, dem Publizisten Eckart Spoo, dem Verkehrsexperten Winfried Wolf und anderen – auch der Ex-Betriebsrat bei VW Wolfsburg, Stephan Krull. Der Offene Brief kann unter www.attac.de nachgelesen werden.
Pro
Stephan Krull, Betriebsrat bei VW in Wolfsburg bis 2006, aktiv in der bundesweiten attac-AG ArbeitFairTeilen, sowie in der gewerkschaftlichen und politischen Bildungsarbeit
Arbeitszeitverkürzung: Ein strategisches Projekt! Für maximalen Lohnausgleich und differenzierten Personalausgleich!
Unter Gewerkschaftern und Linken gibt es einen Streit um die beste Forderung, um die richtige Losung; manchmal schießen die Streitenden übers Ziel, so mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung „bei vollem Lohn- und Personalausgleich“. Mit dem nächsten Schritt müssen wir die Perspektive gesellschaftlicher Transformation ermöglichen und forcieren: Es geht um Macht und Klassenkampf!
Geld ist genug da – aber nicht immer dort, wo wir es uns holen können. Das ist bei Opel und anderen Betrieben so, die pleite sind. Also ist zu überlegen, wie die notwendige Umverteilung anders geht. Es ist dann vielleicht kein voller Lohnausgleich durch das einzelne Unternehmen, sondern ein teilweiser Ausgleich durch Steuern oder Versicherungsleistungen wie bei Kurzarbeit und Altersteilzeit. Das ist besser als Arbeitszeitverlängerung mit Lohnminderung, wie es gerade Mode ist!
„Voller Lohn- und Personalausgleich“ konnte selten erreicht werden. Kosten von Arbeitszeitverkürzung wirken in Tarifrunden Lohn mindernd – das Volumen dessen, was Arbeiterinnen und Arbeiter mit den Gewerkschaften durchsetzen können, ist ökonomisch begrenzt. Die Erhöhung der Produktivität, die Verschärfung des Leistungsdrucks und die Flexibilisierung der Arbeit nach Arbeitszeitverkürzungen führen bei Beschäftigten zur Ablehnung weiterer Arbeitszeitverkürzung – obwohl dies nicht Ursache für Produktivität, Leistungsdruck und Flexibilität ist!
Es gibt andere Gründe, nicht pauschal „vollen Lohn- und Personalausgleich“ zu fordern.
1. Der Kampf gegen die Lohnschere: Mit jeder prozentualen Lohnerhöhung bekommen die oberen Lohngruppen mehr mehr und die unteren Lohngruppen weniger mehr an Geld. Das ist ungerecht und hat zur Spaltung der Belegschaften geführt – die Gewerkschaften sind nun selbst Opfer dieser Spaltung.
Es ist vertretbar, dass Beschäftigte mit hohen Einkommen (zum Beispiel ab 4.000 Euro monatlich) bei Arbeitszeitverkürzung keinen oder nur einen teilweisen Entgeltausgleich bekommen. In mittleren und unteren Einkommensgruppen ist ein voller Lohnausgleich erforderlich. Deshalb plädiere ich für einen „maximalen Lohnausgleich“. Viele gut Verdienenden leisten bei so genannter Vertrauensarbeitszeit unentgeltliche Mehrarbeit. Für sie ist freie, disponible Zeit wichtiger als ein paar Euro und die Lohnschere klafft weniger auseinander.
2. Zum „vollen Personalausgleich“: Wer will dies fordern bei riesigen Überkapazitäten zum Beispiel in der Automobilindustrie? Wir brauchen eine radikale Arbeitszeitverkürzung, um Überkapazitäten abzubauen. Das ist nicht durch „vollen Personalausgleich“ zu konterkarieren – ganz anders als in der Kita oder im Krankenhaus! Es werden zu viele Autos gebaut und die Überkapazitäten werden vernichtet – durch Entlassungen und Werksschließungen oder durch radikale Arbeitszeitverkürzung. Die Absurdität der Forderung nach „vollem Personalausgleich“ wird in der Rüstungsindustrie deutlich (andere Beispiele spare ich mir). Es gibt Bereiche, zum Beispiel Auto- und Zulieferindustrie, da geht es um Schrumpfung oder Liquidierung. Es geht um Umstrukturierung, Konversion und andere Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und global. Das ist mit „vollem Personalausgleich“ nicht zu machen. Neben Arbeitszeitverkürzung müssen weitere Mechanismen treten – Bildung und Qualifizierung, Grundeinkommen für soziale oder für kulturelle Tätigkeiten und auskömmliche Absicherung für die, die in neuen Produktionsbereichen nicht arbeiten können.
3. Dauernde Erwerbslosigkeit führt zur existenziellen Schwäche von Gewerkschaften (es gibt mehr Gründe dafür). Um die Macht zugunsten der Gewerkschaften zu verschieben, ist Überwindung von Erwerbslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung unverzichtbar. Wenn wir wegen unserer Schwäche keinen vollen Lohnausgleich erreichen, müssen wir durch Arbeitszeitverkürzung stärker werden und dann gestärkt das holen, was uns zusteht.
Das ist im Übrigen auch die Erfahrung der Vier-Tage-Woche bei Volkswagen: Der erzwungene Lohnabschlag von 1994 wurde überwiegend zurückgeholt, als der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen langfristig vereinbart war. Dauerhaft und vollständig wurde das auch bei VW nicht gesichert wegen Leiharbeit, wegen der Konkurrenzsituation, der Erwerbslosigkeit und des gesellschaftlichen Umfeldes, das mächtig wirkt.
Arbeitszeitverkürzung ist neben der Lohnfrage das zentrale strategische Projekt der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Viel zu lange hat dies in der (tarif)politischen Praxis keine Rolle gespielt. In der Krise wird offensichtlich, dass Arbeitszeitverkürzung das einzige Mittel ist, Massenerwerbslosigkeit zu verhindern, extreme Arbeitsbelastungen zu reduzieren und mehr Zeit für Partizipation und das Leben an sich zu gewinnen. Erforderlich ist eine breit angelegte Kampagne und geduldige Überzeugungsarbeit, an deren Beginn der Kampf gegen Überstunden und Arbeitszeitverlängerung stehen sollte – nicht der Streit über die „radikalste“ Forderung, die wir dann doch nicht umsetzen wollen und können!
Contra
Mustafa Efe, IG-Metall-Vertrauensmann und Betriebsrat* bei Daimler in Berlin-Marienfelde, Sprecher der Betriebsgruppe „Alternative“, die zur Betriebsratswahl Mitte März antritt
Die Forderung nach drastischer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich bleibt richtig
Eine drastische Arbeitszeitverkürzung ist nötiger denn je. Denn das ist die Antwort auf Massenerwerbslosigkeit und Entlassungen. Die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ hat ausgerechnet: Würde das jetzige Arbeitsvolumen auf alle 44 Millionen Erwerbspersonen aufgeteilt, dann würden etwa 28 Wochenstunden reichen, um das heutige Bruttoinlandsprodukt zu erwirtschaften. Während heute Millionen zum Nichtstun verdammt sind, ist für viele KollegInnen die Arbeitshetze unerträglich geworden. Die körperliche Belastung zum Beispiel bei uns in der Montage ist so groß, dass einige KollegInnen nicht ohne Medikamente auskommen.
Warum Personalausgleich? Seit 1960 wurde der Ausstoß von Kraftfahrzeugen im Jahresdurchschnitt um das Viereinhalbfache gesteigert. Die Anzahl der Beschäftigten blieb weltweit aber fast gleich. Das zeigt, wie die Produktivität gesteigert wurde – allein zugunsten der Profite. Deshalb muss die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit einem vollen Personalausgleich verbunden werden. Nur so können die Arbeitsplätze auch für die Jugendlichen gesichert werden.
Warum Lohnausgleich? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schreibt in seiner Studie über die Jahre 2004 bis 2008, dies ist „eine in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Entwicklung, denn nie zuvor ging ein durchaus kräftiges Wirtschaftswachstum mit einer Senkung der realen Nettolöhne über mehrere Jahre einher“. Die Lebenshaltungskosten hingegen stiegen in dieser Zeit weiter und werden auch in Zukunft steigen. Schon allein deshalb darf kein Lohnverlust akzeptiert werden.
Das Problem der Überkapazitäten, unter anderem in der Autoindustrie, hat seine Ursache in der auf Profit und Konkurrenz ausgerichteten Wirtschaft. Innerhalb des Kapitalismus gibt es keinen Ausweg aus diesem Problem: Überfluss auf der einen Seite, Mangel und Armut auf der anderen führen zu Krisen. Das ist der Wahnsinn dieses Systems! Wenn wir diese „Logik“ akzeptieren, müssen wir auch die Verzichtslogik teilen. Denn wie sonst soll „unser Unternehmen“ konkurrenzfähig bleiben, wenn wir nicht verzichten? Wenn wir nur noch einen maximalen, mit anderen Worten einen Teillohnausgleich fordern, wird aber der katastrophalen Politik der heutigen Gewerkschaftsspitze kein grundlegend anderes Programm entgegengesetzt.
Nehmen wir den jüngsten Metall-Abschluss, der die „tarifliche Kurzarbeit“ vorsieht: Den KollegInnen drohen damit Verluste von bis zu 25 Prozent. Da der Staat einbezogen werden soll, zahlen die Belegschaften gleich nochmal: durch eine steuerpolitische Bezuschussung ihrer eigenen Löhne! Gleichzeitig haben wir schon jetzt die Situation, dass KollegInnen, die für eine Vier-Tage-Woche bezahlt werden, tatsächlich fünf Tage arbeiten! Die aufgestauten Stunden sollen sie dann irgendwann abfeiern. Das heißt: Dieser Abschluss dient der Flexibilisierung, was weiteren Stellenabbau ermöglicht, und gleichzeitig der Absenkung der Löhne.
Wenn die heutigen Gewerkschaftsspitzen solche Abschlüsse machen, die von der Unternehmerseite als großer Erfolg gefeiert werden, wundert das wenig. Das ist die Fortsetzung der jahrelangen Politik des Co-Managements. Für den Aufbau einer kämpferischen Linie in den Gewerkschaften müssen wir aber als Linke ein anderes Programm anbieten. Die Forderung nach der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich muss für uns zentral sein.
Die Forderung nach „vollem Lohn- und Personalausgleich“ mobilisiert auch. Ein Beispiel dafür ist der Kampf für die 35-Stunden-Woche 1984. Damals hatte es auch gerade eine Wirtschaftskrise gegeben. Die Erwerbslosigkeit verdoppelte sich auf zwei Millionen. Trotzdem streikten die MetallerInnen sechs Wochen.
Und wenn Unternehmen wie Opel heute behaupten, vor der Pleite zu stehen? Dann wollen wir zuerst mal wissen, wo die Gewinne der Aufschwungsjahre geblieben sind. Dafür müssen die Geschäftsbücher offengelegt werden. Dieter Zetsche hat jetzt zwar Verluste von 2,6 Milliarden Euro verkündet. Aber bei Daimler beliefen sich die Gewinne allein 2007 noch auf 8,7 Milliarden Euro vor Steuern. Seit wann sollen wir uns überhaupt den Kopf für die Kapitalisten zerbrechen? Wenn uns die Bosse mit Lohnverzicht und Hartz IV drohen, dann müssen wir dafür eintreten, den „Laden“ zu übernehmen. Produktionsanlagen und Belegschaften mit ihrem Know-How könnten so genutzt werden, den gesellschaftlichen Reichtum zu vermehren. In der Autoindustrie und in anderen Sektoren muss das mit der Umstellung der Produktion – zum Beispiel hin zur Förderung von Bussen und Bahnen – verbunden werden.
Ich sage: Nein zum Verzicht! Was Arbeitsplätze rettet, neue schaffen kann und Lohnraub verhindert, ist allein der gemeinsame Widerstand der Beschäftigten. Wir sollten nicht unsere Forderungen herunter schrauben, sondern sie offensiv verteidigen und KollegInnen so für einen gemeinsamen Kampf mobilisieren.
*Angabe der Funktion dient nur zur Kenntlichmachung der Person