Agenda für die Herbst-Proteste
Am 12. Juni demonstrierten in Berlin und Stuttgart insgesamt 40.000 Menschen gegen die Krisenfolgen. Diese Manifestation wurde von unten, von den Anti-Krisen-Bündnissen, in die Wege geleitet. Sie erreichten nicht nur viele AktivistInnen, sondern konnten auch in Linkspartei und Gewerkschaften hineinwirken. Zur Stuttgarter Kundgebung rief auch ver.di Baden-Württemberg auf, dort sprach zudem ver.di-Chef Frank Bsirske.
Für den 29. September hat der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) zu einem europäischen Aktionstag aufgerufen, in Brüssel soll eine zentrale Demonstration stattfinden. In mehreren Städten in der Bundesrepublik organisieren die Anti-Krisen-Bündnisse lokale Aktionen und örtliche Demos, darunter auch in Berlin.
Die DGB-Gewerkschaften haben für den Spätherbst, vom 24. Oktober bis zum 13. November, Aktionswochen geplant. Am Samstag, den 13. November soll es regionale Demonstrationen in Nürnberg, Stuttgart, Hannover und Kiel geben.
Zuvor sollen „möglichst viele Betriebs- und Personalversammlungen (…) am selben Tag und zur selben Zeit stattfinden“, heißt es in einem Rundschreiben der Gewerkschaften. „Was im Einzelnen betrieblich geht, muss vor Ort eingeschätzt werden und wird von Fall zu Fall sicherlich sehr unterschiedlich sein.“
Für den 18. Oktober rufen die Aktionsgruppe Georg Büchner und die Hessische LINKE in Frankfurt am Main zu einer „Blockade der Frankfurter Finanzzentren“ auf. Bei der Verabschiedung des Bundeshaushalts im November soll es zu einer „Blockadeaktion des Sparpakets“ der Krisenprotestbewegung in Berlin kommen.
Christina Kaindl, Gruppe Soziale Kämpfe (GSK), Berlin
Generalstreik ist immer gut – aber was machen wir bis dahin?
Das sogenannte Sparpaket der Bundesregierung ist ein Angriff auf Erwerbslose und ArbeitnehmerInnen, RentnerInnen – auf alle, die nicht die Macht des Kapitals hinter sich haben. Die Gesundheitsreform sägt an der solidarischen Finanzierung der Krankenversicherungen, der Atomausstieg scheint abgesagt. Die Politik ist ungerecht und gefährdet die Gesundheit – und sie entspricht dem politischen Programm und Klientel der Bundesregierung.
Es ist ein Zeichen für die strukturelle Machtlosigkeit der Vielen: Die Demokratie endet an den Toren der Fabrik, die Produktion entzieht sich demokratischer Planung, die Sozialdemokratie hat spätestens seit „New Labor“ und der „Neuen Mitte“ keine wirkliche Alternative zur neoliberalen Vergesellschaftung geboten – auch als Ergebnis der erodierten Macht der Arbeiterklasse, die in den transnationalen Konkurrenzverhältnissen noch keine ebensolche Kampfstrategie entwickelt hat.
Streik ist eines der wichtigsten Kampfmittel der Arbeiterklasse. Ihn auf Tarifverhandlungen zu beschränken, blendet aus, dass die politische Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion Teil des „sozialen Lohns“ ist, auf den angewiesen ist, wer nicht über genug Vermögen besitzt, sich die privatisierten Dienstleistungen zu kaufen. Er ist auch ein Mittel, das strukturelle Machtgefälle zu korrigieren, das die Demokratie untergräbt. Die weltumspannenden Krise macht in ihren multiplen Gesichtern (Ernährungskrise, Wirtschaft, Arbeit, Reproduktion und so weiter) den globalen Zusammenhang der kapitalistischen Produktion deutlich. Das Kapital und seinen politischen Vertretern ist es gelungen – zum Teil gegen Warnungen aus den eigenen Reihen – die Priorität des Schuldenabbaus international zu verankern und wird so die Politik wieder aufnehmen und verschärfen, die bereits in die Krise geführt hat. Wenn es gelänge, einen Generalstreik in mehreren Ländern zu koordinieren, wäre das ein machtvolles Zeichen, dass wir bereit und in der Lage sind, auch den Kampf dagegen international aufzunehmen, auch jenseits der Kämpfe um die Gipfeltreffen.
Nur: Wir alle wissen, dass es in der BRD nicht dazu kommen wird, dass für den 29. September 2010 – oder zu einem anderen Zeitpunkt in nächster Zeit – ein Aufruf zum Generalstreik von den Gewerkschaften gestartet wird oder dass dieser unabhängig davon von unten durchgesetzt würde. Die politischen Traditionen in der deutschen Arbeiterbewegung sind anders – man mag das bedauern, aber es nützt nicht, darauf mit einer dauernden Anrufung an oder Klage über die Gewerkschaftsführungen zu reagieren. Die Klage „nach oben“ lenkt von den eigenen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten ab und bringt die Sprechenden in eine subalterne Position. Wenn von der Basis Druck entfaltet wird, kann die Diskussion um den politischen Streik in den Gewerkschaften erzwungen werden; wenn dieser Druck nicht gelingt, entmutigt die Konzentration auf den Generalstreik eher, als gäbe es sonst nichts zu tun. So werden die Strategien auf eine einzige Frage gebündelt (noch dazu eine, die in absehbarer Zeit nicht zu einem Erfolg führen wird), statt zu fragen, wie Bündnisse mit denen möglich werden, die nicht streiken können, weil sie aus dem Arbeitsmarkt ganz oder teilweise (Kurzarbeit) ausgeschlossen sind oder auf unbezahlte Arbeit zurückgeworfen sind. Wie kann ein Bündnis gefunden werden mit Eltern, Erwerbslosen, PatientInnen und Angestellten im gesetzlichen Gesundheitswesen, Studierenden, RentnerInnen, Umwelt- und Friedensbewegungen? Und wie kann eine politische Praxis und eine Praxis von Protest und zivilem Ungehorsam entwickelt werden, die den Lauf der Dinge ebenfalls anhält, die sichtbar ist und geeignet, weitere Menschen zu Protest und Widerstand zu inspirieren?
Das bundesweite Krisenbündnis „Wir zahlen nicht für Eure Krise“ hat zu Demonstrationen um den 29. September herum aufgerufen, für die Verabschiedung des sogenannten Sparpakets im Bundestag sind Aktionen von zivilem, sozialem Ungehorsam geplant: Am Tag X soll das Sparpaket in Berlin blockiert werden. Es wäre ein gutes Zeichen, wenn diese von betrieblichen Aktionen begleitet werden. Das bedarf der Basisarbeit, die nur von Leuten in und aus den Betrieben geleistet werden kann. Bündnisse mit sozialen Bewegungen könnten genutzt werden, um gemeinsame Aktionsstrategien zu entwickeln, die auch das Risiko für die Beschäftigten senken könnten. Wenn wir schon nicht die gesamte Produktion lahmlegen können, sollten wir uns konzentrieren auf Aktionen, die eine ähnliche Symbolik entwickeln können und eine breitere Beteiligung ermöglichen. Unsere Strategien müssen die vielfältige Betroffenheit von Krise und Krisenpolitik deutlich machen – und die Erfahrung ermöglichen, dass wir politisch handlungsfähig sind. Die Kräfteverhältnisse müssen an vielen Punkten verschoben werden. n
Simon Aulepp, GEW-Vorsitzender Kassel*
Das Sparpaket und die geplanten Verschlechterungen im Gesundheitsbereich sind – angesichts des Ausmaßes der Krise des Kapitalismus – erst der Anfang einer ganzen Welle von Angriffen auf unseren Lebensstandard. Die vor uns liegende Periode wird von Kürzungen im Öffentlichen Dienst, von Entlassungen und Lohndrückerei geprägt sein. Griechenland zeigt schon jetzt, wohin die Reise geht. Auch die deutschen Regierenden haben die hiesigen Banken mit Finanzspritzen in Milliardenhöhe unterstützt – dieses Geld holen sie sich jetzt bei uns wieder.
So wie die Angriffe von einer neuen Qualität sein werden, muss auch unser Widerstand dagegen eine neue Qualität erreichen. So ist Griechenland nicht nur ein Versuchsfeld für die Abwälzung der Kosten auf die breite Bevölkerung, sondern auch für unsere Gegenwehr.
Die Widerstandsbündnisse können einen wichtigen Beitrag zur Vernetzung verschiedener Akteure leisten. Der Aktionstag des Europäischen Gewerkschaftsbundes bietet eine Möglichkeit, unsere Kräfte zu sammeln. Am 29. September sollten vor Ort Demonstrationen und Streiks angestrebt werden. Auch die gewerkschaftlichen Aktionswochen ab dem 24. Oktober und die geplanten Demonstrationen am 13. November sind Ansatzpunkte.
Aber wir brauchen unbedingt eine Strategie, um den Widerstand gegen die Auswirkungen der Krise erfolg-reich aufbauen zu können. Eine solche Strategie fehlt zur Zeit leider sowohl in den Gewerkschaften als auch in den existierenden Aktionsbündnissen. Angeboten wird lediglich ein Sammelsurium an Einzelaktionen der verschiedenen Akteure. Eine Zusammenführung und Steigerung fehlt.
Die Forderung nach einem eintägigen Generalstreik in Deutschland bietet die Möglichkeit, den einzelnen Herbstaktionen eine Richtung zu geben. Ein solcher Generalstreik würde massiven ökonomischen und politischen Druck erzeugen. Er würde zeigen, wer den gesellschaftlichen Reichtum produziert, wer das öffentliche Leben am Laufen hält. Dafür gibt es auch keinen „Ersatz“; keine Reihe von Demos und Protesten kann die gleiche Wirkung erzielen.
Ein solcher Generalstreik kann natürlich nicht einfach ausgerufen werden. Man muss ihn organisieren. Da kommen wir an den Gewerkschaften nicht vorbei, die trotz sinkender Mitgliederzahlen noch immer über sechs Millionen ArbeitnehmerInnen in allen Bereichen organisieren.
Zudem müssen Streiks bis hin zu einem 24-stündigen Generalstreik auch vorbereitet werden. Nötig ist es, in den Gewerkschaften Aufklärungsarbeit zum Sparpaket zu leisten. Es gilt, die Forderung nach einem Generalstreik innerhalb der Gewerkschaften zu diskutieren. Und es ist erforderlich, eine gemeinsame Protest- und Streikbewegung real aufzubauen: durch Mobilisierungen zu Demos am 29. September, durch betriebs- und branchenübergreifende Streiks – statt unkoordinierter Proteste – während der gewerkschaftlichen Aktionswochen.
Es ist keine Frage, dass es in Ländern wie Griechenland andere Kampftraditionen gibt. Aber auch in Südeuropa ist die Gewerkschaftsführung seit Jahrzehnten der Sozialpartnerschaft verpflichtet. In Spanien zum Beispiel war massiver Druck von unten und die Forderung nach einem Generalstreik nötig, um zu erreichen, dass ein solcher dort am 29. September endlich durchgeführt wird. Die geplanten nationalen Streiks in Spanien, Griechenland, Frankreich könnten auch auf Deutschland zurückwirken.
Auch hier hat die Vergangenheit gezeigt, dass auf die Gewerkschaftsspitzen Druck ausgeübt werden kann und diese sich – gegen ihren Willen – bewegen mussten. Als es bei Daimler in Sindelfingen gegen die Verlagerung der C-Klasse zu spontanen Streiks kam, musste die IG Metall letzten Dezember zuvor nicht geplante Demos und Kundgebungen durchführen. Als der DGB nach der Verkündung der Agenda 2010 völlig untätig blieb und einzelne Untergliederungen von unten gemeinsam mit Organisationen der sozialen Bewegung die Demonstration von 100.000 Menschen am 1. November 2003 auf die Beine stellte, mussten die Gewerkschaften nachziehen und im April 2004 Demos von einer halben Million organisieren. 1996, als Helmut Kohl damals sein Sparpaket plante, war der Druck so groß, dass VertreterInnen aller DGB-Gewerkschaften in einer Schaltkonferenz über einen Generalstreik diskutieren mussten.
Deshalb sollten jetzt einzelne Untergliederungen entsprechende Anträge zum gemeinsamen Kampf in ihre jeweiligen Gewerkschaften einbringen. In den Betrieben müssen Betriebsräte- und Vertrauensleuteversammlungen organisiert werden. Natürlich darf nicht auf die Gewerkschaftsoberen gewartet werden. Notwendig sind Mobilisierungsaktionen von betrieblichen AktivistInnen und Gruppen für den 29. September und für weitere Termine. Gleichzeitig gilt es aber, in den Gewerkschaften für eine Kampfstrategie, für branchenübergreifende Streiks im Herbst und für einen eintägigen Generalstreik vor der Verabschiedung des Sparpakets zu streiten – und damit der Bewegung in der neuen Periode eine Richtung zu geben.
* Angabe der Funktion dient nur zur Kenntlichmachung der Person