Interview mit Dejona Mihajli nach den Massenprotesten in Tirana.
Frau Mihajli, können Sie sich kurz vorstellen?
Ich habe Soziologie und Philosophie studiert und habe an verschiedenen Universitäten in Albanien in diesen Studienfächern unterrichtet. Diesen Unterricht habe ich mit verschiedenen Kollegen auch als politische Aktivität gesehen. Wir haben uns in Studentengruppen mit den linken philosophischen Strömungen vertraut gemacht. Auf der anderen Seite bin ich auch politisch aktiv beim “Antonio Gramsci Institut” in Tirana.
Wieso nennt sich das Institut eigentlich Antonio Gramsci?
Antonio Gramsci ist albanischer Herkunft. Er hat einen wichtigen Beitrag zur linken Philosophie geleistet. Deshalb haben wir unser Institut nach ihm benannt.
Kommen wir jetzt zu den jüngsten Ereignissen in Albanien. Am 21. Januar sind bei einer Massendemonstration drei Menschen von der Republikanischen Garde erschossen worden. Was ist an diesem Tag geschehen?
Die sogenannte “Sozialistische Partei” (SP), die von Edi Rama geführt wird, hat wegen eines Videos, in welchem ein Korruptionsskandal des Vizepremierminister Albaniens Ilir Meta
dargestellt wird, zu der Demonstration aufgerufen. Die Masse der Menschen, die am 21. Januar demonstriert hat, war sehr groß. Es waren über 200.000. Und es war nicht so, wie es die sogenannten Analytiker in Albanien sagen, dass eine kleine
organisierte Gruppe von Menschen, die Polizisten – die den Regierungssitz schützten – angegriffen hat. In der ersten Reihe der Demonstranten waren Arbeiter, Arbeitslose, Studenten, Intellektuelle, Rentnerinnen usw. Menschen, die einfach nicht mehr so leben möchten, wie sie bislang in Armut und sozialem Elend leben.
Hier muss man noch erwähnen, dass Edi Rama, der zum Protest aufgerufen hat, nicht an der Demo teilgenommen hat. Er versteckte sich im Büro der SP. So hat die Masse angefangen, die Polizisten mit Steinen zu bewerfen und die Republikanische Garde hat eiskalt mit Schüssen geantwortet. Drei Demonstranten wurden erschossen.
Der Regierungschef, Sali Berisha, hat die Anklage der obersten Staatsanwältin gegen sechs Gardisten für den Mord an drei Demonstranten einstellen lassen. Er hat auch dem Präsidenten unterstellt, dass er die Demonstration indirekt unterstützt habe. Versucht Sali Berisha eine absolute Diktatur zu errichten?
Ja, Sali Berisha versucht auf der einen Seite, eine Diktatur zu errichten. Aber auf der anderen Seite existiert auch eine große Kluft zwischen dem, was die Menschen verlangen, und dem, was die sogenannte “Sozialistische Partei” propagiert. In Albanien fehlt eine richtige sozialistische Partei, die die große soziale Unzufriedenheit der Menschen politisch gerecht artikulieren würde.
Könnte dies nicht das Institut Antonio Gramsci werden?
Es ist wirklich die Zeit gekommen, dass wir diesen Schritt unternehmen. Aber da gibt es Schwierigkeiten in Albanien. Um eine Partei offiziell anzumelden, braucht man viel Geld. Man benötigt mindestens 10.000 Mitglieder, und für jedes Mitglied muss eine Abgabe an den Staat bezahlt werden. Dies bedeutet konkret bei 10.000 Mitgliedern einen Betrag von mehr als 300.000 Euro. Daran sehen Sie, dass nur die Reichen einfach eine Partei gründen können. Dennoch müssen wir den Versuch wagen, eine linke Alternative zu Rama und Berisha aufzubauen.
In den bürgerlichen Zeitungen in Deutschland wurde über die Demonstrationen gesagt, dass es an der Mentalität des Balkans liege, wenn es zu solchen bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt. Was halten Sie davon?
Solche Aussagen sind vom Kern her rassistisch. Sie abstrahieren von den konkreten Verhältnissen in Albanien. Hier ist der Gegensatz zwischen Arm und Reich besonders ausgeprägt. Zusätzlich leidet Albanien unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise. Dies betrifft nicht so sehr die albanische Industrie, die ohnehin kaum konkurrenzfähig ist. Das Handelsbilanzdefizit Albaniens wird immer größer. Im Jahr 2009 war das Handelsbilanzdefizit besonders ausgeprägt. Exporten im Wert von 1,1 Milliarden Dollar standen Importe im Wert von 4,3 Milliarden Dollar gegenüber.
Die Lage für die meisten Menschen ist fürchterlich. Die Preise steigen, die Arbeiter haben keine Rechte und es gibt eine enorme Kinderarmut. Viele albanische Arbeiter fristen ihr Dasein in Griechenland. Dort werden sie als Billigarbeiter besonders ausgebeutet und gleichzeitig von griechischen Faschisten angegriffen. Ihre Zahl liegt bei 500.000.
In Albanien wächst die Zahl der frustrierten Jugendlichen enorm. Viele arbeiten nach ihrem Studienabschluss im Billiglohnbereich. Berisha ist verhasst und auch die ausländischen Kapitalisten, welche von Berisha den Status der “Immunität” zugesprochen bekamen. Dies heißt, diese Unternehmen sind keinerlei Tarifverträgen und keinem Mindestlohn verpflichtet. Speziell italienische Textilfabrikanten investieren wieder vermehrt in das Ausbeutungparadies Albanien.
Benötigen Sie internationale Solidarität und internationale Kontakte?
Ja, aber nicht nur per E-Mail. Die E-Mails haben nur einen begrenzten Wert. Die “Internationalisten” sollten hierherkommen und sich mit der Situation genau vertraut machen. Wir sind uns der Notwendigkeit von internationalen Kontakten bewusst.