Riesige Menschenmenge und ein Meer von roten Fahnen am Taksimplatz. Ein Augenzeugenbericht.
Das Wiedererwachen der türkischen und kurdischen Arbeiterbewegung geht weiter. Nach dem Kampf der TekelarbeiterInnen, dem UPS–Streik und dem Metallarbeiterstreik vor einigen Wochen war auch der diesjährige 1. Mai ein wichtiger Schritt für die Stärkung des Selbstbewusstseins der türkischen und kurdischen Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften planten im Vorfeld eine Million Menschen auf den Taksimplatz zu bringen. Ob dies gelungen ist, darüber gehen die Meinungen in den bürgerlichen Medien auseinander. Doch schon allein dieses Ziel der Gewerkschaften drückt ein gestiegenes Selbstbewusstsein aus.
Die Stimmung für größere soziale Kämpfe ist im Moment durch die bevorstehenden Wahlen unterbrochen. Die großen Gewerkschaften und größeren linken Organisationen wirken beruhigend bzw. bremsend auf ihrer UnterstützerInnen ein. "Mal-sehen-was-die-Wahlen-bringen" ist die Haltung vieler Menschen auf der Straße. Diese Stimmung kann aber schnell in eine Kampfbereitschaft kippen, wenn etwa neue Angriffe einer neuen Regierung kommen, oder die Wirtschaftskrise erneut durchbricht. Dies wurde durch die Stimmung und die Teilnehmerzahl am 1.Mai deutlich. Selbst die reaktionärsten Medien schrieben, anhand verschiedener Fotovergleiche, dass dieses Jahr mehr Menschen am Taksimplatz waren als beim blutigen 1. Mai 1977. Damals wurde die Kundgebung von Dächern aus beschossen.
Es gab auch heuer wieder mehrere Märsche, viele DemonstrantInnen kamen gar nicht bis auf den heillos überfüllten Taksimplatz. Einige ließen sich in Nebenstraßen und Parks nieder andere gingen nach dem langem Aufmarsch gleich nach Hause. Spannend auch, dass sich, neben den traditionellen Gewerkschaften und diversen linken Gruppen, viele unabhängige linke Jugendliche am linken Demonstrationszug beteiligten. Auffallend waren einige lose linke Studierendengruppen (in den letzten Monaten gab es heftige politische Auseinandersetzungen an den türkischen Unis) und eine große Gruppe linker Fußballfans der Istanbuler Großclubs, die gemeinsam mit marschierten. Beindruckenden natürlich auch die großen Blöcke der Türkischen Kommunistischen Partei und der kurdischen BDP. Auch in Ankara, Izmir und in den kurdischen Gebieten gingen insgesamt 100.000 auf die Straße.
Leider nutzten die organisierenden Gewerkschaften die Gelegenheit nicht, um weitere Schritte für den politischen Kampf vorzuschlagen. Die Chance, die Menschen am Taksim und die Millionen hinter den Bildschirmen zu Hause zu erreichen, wurde verpasst. Die zwei Konzerte populärer linker Bands beendeten die Kundgebung in einer würdigen politischen Feier. Die Stimmung blieb allerdings durchgehend politisch, was sich auch in vielen politischen Gesprächen mit CWI-Mitgliedern ausdrückte.
Die Einigung auf nächste gemeinsame Kampfschritte ist in der Türkei ein Gebot der Stunde. Der Kampf für soziale und politische Rechte muss weitergehen, die Frage der Rechte der KurdInnen ist nach wie vor ungelöst. Zur Zeit versuchen kurdische AktivistInnen auf die verheerende Lage in den kurdischen Gebieten aufmerksam zu machen. Es werden Zeltstädte (sog. Friedens – und Demokratiezelte) errichtet, nach dem Vorbild der arabischen Revolutionen öffentliche Plätze besetzt und "ziviler Ungehorsam" geleistet. Oft werden diese Zelte in der Nacht von der Polizei angegriffen, abgerissen und von AktivistInnen wieder aufgebaut. Auch bei den Parlamentswahlen im Juni werden zehntausende Linke nicht nur mit einem undemokratischen Wahlrecht, sondern auch mit dem Fehlen einer linken Massenpartei konfrontiert sein. Auch aus diesem Grund ist eine neue sozialistische Massenpartei nötig. Sie muss aus den kommenden Kämpfen entstehen und von Linken und GewerkschafterInnen aufgebaut werden. Es ist an der Zeit das die türkisch/kurdische Arbeiterklasse und Jugend endlich eine starke einheitliche Stimme und ein Werkzeug für den politischen Kampf hat.