Warnendes Beispiel einer gekaperten Revolution

Imperialisten versuchen in Libyen und Nordafrika Fuß zu fassen


 

Nach einem halben Jahr Bürgerkrieg haben die sogenannten Rebellen, begleitet von 20.000 NATO-Luftangriffen auf 4.000 Ziele, Tripolis eingenommen. Was bedeutet das für die libyschen Massen und für ganz Nordafrika?

von Sascha Wiesenmüller, Aachen

Was im Februar als Aufstand gegen die korrupte Diktatur Muammar al-Gaddafis begann und stark von den revolutionären Bewegungen in Tunesien und Ägypten beeinflusst war, wurde vom Regime zunächst schnell und brutal niedergeschlagen.

Von der Volksbewegung zum Bürgerkrieg

Waren zuerst einfache ArbeiterInnen, Jugendliche und Arme die treibende Kraft der Protestbewegung, so bildete sich in Bengasi bald ein neues oppositionelles Zentrum. Bestimmt wurde es von abtrünnigen Repräsentanten des alten Regimes, Monarchisten und neoliberalen Politikern.

Diese formierten sich im „Nationalen Übergangsrat“ zu einer Gegenregierung. Im Gegensatz zur Bewegung in der frühen Phase der Rebellion traten diese Kräfte offensiv für die Kollaboration mit der NATO ein, die ihnen dann auch schon ab März mit Luftschlägen assistierte. Spätestens von da an wurden Libyens ArbeiterInnen und Jugendliche von der politischen Bühne gedrängt und gerieten zwischen die Fronten eines brutalen Krieges zwischen den Gaddafi-Treuen und den von der NATO gestützten pro-westlichen Rebellen.

Die brutalen Bombardements der NATO erlaubten es Gaddafi, sich einer antiwestlichen Rhetorik zu bedienen. Das trieb Teile der Bevölkerung wieder in die Reihen des Regimes.

Imperialistische Ziele

Genau vor hundert Jahren nutzte Italien innere Machtkämpfe im heutigen Libyen, um das Land seinem Kolonialreich einzuverleiben. Italien stellte sich dabei auf die Seite einer Konfliktpartei und übte das erste Mal in der Geschichte Bombenterror aus der Luft aus. Die Folge war die koloniale Unterjochung (in den vierziger Jahren auch von Frankreich und Großbritannien) des heutigen Libyen, das 1951 seine Unabhängigkeit erklärte.

Den heute unter dem Dach der NATO organisierten Kräften ging es niemals darum, eine Bewegung von unten gegen eine Diktatur zu unterstützen. Natürlich versuchen die Großmächte bei der Neuaufteilung der libyschen Ressourcen (vor allem Erdöl) sich die Löwenanteile zu sichern. Die Ölindustrie Libyens ist bis heute in Staatshand. Dies hat – dank großzügiger Konzessionen – den Westen nicht an der Ausbeutung des libyschen Öls gehindert. Von der Machtübernahme des Nationalen Übergangsrats aber, dessen wirtschaftspolitischer Sprecher sich für den Ausbau eines „leistungsfähigen Privatsektors“ ausgesprochen hat, erhoffen sich die Kapitalisten einen besseren Zugriff darauf.

Es ist aber kein reiner Krieg für Öl. Viel bedeutender noch ist aktuell der politisch-geostrategische Aspekt. Die ganze Region Nordafrika ist ein brodelnder Hexenkessel, ein Hort sozialer und politischer Unruhen. Die revolutionäre Welle hat dem Westen Angst gemacht. Deshalb haben die westlichen Imperialisten ein großes Interesse daran, einen politischen und militärischen Brückenkopf in Nordafrika zu sichern. Dieses aktuelle Ziel mischt sich mit uralten Kolonialinteressen. Nicht umsonst sind Italien und Frankreich bei der Intervention federführend dabei. Mit dem Nationalen Übergangsrat hoffen die imperialistischen Mächte in Libyen – anstelle des unberechenbaren Gaddafi – auf eine verlässliche Marionettenregierung (wie sie diese auch im Irak und in Afghanistan im Zuge ihrer Militärinterventionen anstrebten).

Für eine unabhängige Bewegung von unten

Auch wenn der Sturz des Tyrannen viele LibyerInnen freut, bedeutet der Verlauf der Entwicklungen, dass die Imperialisten jetzt einen Fuß in der Tür haben. Sie werden versuchen, diese Position zu nutzen, um unabhängige revolutionäre Initiativen in der Region abzuwürgen beziehungsweise unter ihre Kontrolle zu bringen.

Ob sich in Libyen derweil eine neue Regierung wirklich durchsetzen kann, ist mehr als fraglich. Vieles deutet auf einen Prozess wie im Irak oder in Afghanistan hin, wo weiter Chaos und Gewalt herrschen. In jedem Fall sind Libyens Massen vom Regen in die Traufe gekommen: vom sich bereichernden Diktator Gaddafi zu den Privatisierern des Westens und des Nationalen Übergangsrats. In Libyen drohen zudem heftige Stammeskonflikte und eine Zunahme ethnischer und religiöser Spannungen.

Es führt kein Weg daran vorbei, dass die benachteiligten Massen neue Anstrengungen unternehmen müssen, eine unabhängige Bewegung im Interesse von ArbeiterInnen, Jugendlichen und Armen aufzubauen. Statt sich in irgendeiner Weise auf das Postengeschacher einer kapitalistischen Regierung einzulassen, sollten in den Nachbarschaften, Betrieben und in anderen Bereichen eigene Strukturen geschaffen und der Brückenschlag zu den revolutionären Bestrebungen in Ägypten, Tunesien und anderswo gesucht werden.