Versuche, eine neue breite linke Partei zu gründen
Während einer Offensive Mitte August wurden nach Angaben der türkischen Armee 100 KämpferInnen der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) getötet und weitere 80 verwundet. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hat einen Angriff der PKK auf einen Militärkonvoi, bei dem acht Soldaten und ein Mitglied einer regierungsnahen kurdischen Miliz starben, benutzt, um eine riesige Militärkampagne zu starten. Sie umfasste Luftangriffe auf Basen der PKK im Nordirak und koordinierte Aktionen mit dem iranischen Regime, wie Berichte über einen Telefonanruf bei Ahmadinedschad nahelegen.
von Nihat Boyraz (SAV) und Jan Kowalski (CWI)
Das iranische Regime hat am 16. Juli eine eigene Offensive gegen kurdische KämpferInnen begonnen. Darüber berichtete der Kurdische Nationalkongress, der die Türkei davor warnte, für die kurdische Frage auf eine „tamilische Lösung“ zurückzugreifen – ein weiteres Abschlachten von KurdInnen. In den türkischen Medien wird über eine Bodenoffensive der Regierung in der Region nach dem Ende des Ramadan (30.8.) spekuliert.
Erdoğan verband diese Militäraktionen mit einer Drohung: dass die, die sich nicht vom Terror distanzierten, einen „Preis bezahlen“ müssten. Das richtet sich mehr oder weniger offen gegen die BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), eine linke kurdische Partei.
Die Regierung der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) hat bisher den Eindruck erweckt, nach einer friedlichen und demokratischen Lösung für die kurdische Frage zu suchen und sogar einige Reformen durchgeführt, zum Beispiel wurde die Verwendung der kurdischen Sprache erlaubt. Jetzt sitzen tausende kurdische PolitikerInnen in den Gefängnissen dieser Regierung und die Repression gegen kurdische AktivistInnen, aber auch gegen die Linke und GewerkschafterInnen wird verstärkt.
Erdoğan versucht seine gestärkte Position nach der Wahl im Juni zu nutzen, bei der der Stimmenanteil der AKP leicht von 47 auf 50 Prozent anstieg. Danach konnte Erdoğan die Opposition der „kemalistischen“ – traditionell säkularistischen – Militärführung zurückdrängen. Der offene Machtkampf zwischen verschiedenen Flügeln des Staatsapparats, der die Türkei für über ein Jahrzehnt erfasst hatte, hat sich jetzt qualitativ zugunsten der AKP verändert. Die alte kemalistische Bürokratie im Staatsapparat – zum Beispiel beim Militär und den Gerichten – die versucht hat, sich gegen die AKP zu stellen, hat stark an Einfluss und Macht verloren.
Daher kann sich Erdoğan bei diesem Feldzug erstmals nicht hinter einer kriegstreiberischen Militärelite verstecken, die ein eigenes Interesse an einer Eskalation habe – was bisher teilweise gestimmt hat. In den Augen vieler KurdInnen wird jetzt Erdoğan die volle Verantwortung tragen.
Wahlen im Juni und die Perspektiven des Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit
Bei den Wahlen im Juni stieg auch die Zahl der von der BDP und einem Bündnis überwiegend linker Parteien unterstützten Abgeordneten von 20 auf 36. Um die landesweite 10-Prozent-Hürde zu umgehen, traten diese KandidatInnen als Unabhängige an. Insgesamt bekam der „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ landesweit 6,6 Prozent der Stimmen, obwohl er nicht in allen Wahlkreisen antreten konnte. In den kurdischen Gebieten ist sein Stimmenanteil gegenüber 2007 gewachsen. Für den Block konnten auch VertreterInnen linker Parteien antreten, zum Beispiel in Istanbul und anderen großen Städten, wo die Wahlergebnisse überdurchschnittlich gut waren. Unter den gewählten Abgeordneten sind Sırrı Süreyya Önder, ein bekannter Filmregisseur, der in den Achtzigern im Widerstand gegen die Militärdiktatur aktiv war; Leven Tüzel, Mitglied und ehemaliger Vorsitzender der EMEP (Arbeitspartei) und Ertuğrul Kürkçü, ein führendes Mitglied der linken Widerstandsorganisation THKP-C (Türkische Volksbefreiungsfront) in den Siebzigern, die in der Türkei bis heute sehr bekannt ist.
Allerdings wurde einigen gewählten VertreterInnen nicht erlaubt, ihre Mandate anzunehmen. Hatip Dicle, in Diyarbakir mit 78.000 Stimmen gewählt, aber wegen seines pro-kurdischen Aktivismus eingesperrt, durfte nicht ins Parlament einziehen. Stattdessen wurde sein Sitz dem AKP-Kandidaten aus seinem Wahlkreis gegeben, der deutlich weniger Stimmen bekommen hat. Neben Hatip wurden vier andere gewählte VertreterInnen ausgeschlossen. Aus Protest haben die anderen Abgeordneten des Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit sich geweigert, an der Vereidigung des neuen Parlaments teilzunehmen.
Nach dem Wahlerfolg des Blocks hat Abdullah Öcalan, der Führer der PKK, vom Gefängnis aus seinen Vorschlag wiederholt, das Wahlbündnis in eine neue, breite Partei aus BDP, SozialistInnen, UmweltaktivistInnen und Feministinnen umzuwandeln. Das Wahlergebnis hat AktivistInnen ermutigt, Schritte in diese Richtung zu machen. Der Vorschlag hat viel Aufmerksamkeit in der Linken und der Arbeiterbewegung bekommen. Die türkischen Medien haben nicht viel darüber berichtet, aber die Diskussionen gehen weiter. An ihnen beteiligen sich die EMEP (eine legale Partei aus ehemaligen StalinistInnen, die Albanien unterstützt haben und sich noch als SozialistInnen sehen, sie vertreten hauptsächlich ein reformistisches Programm, international sind sie mit Day-Mer in Großbritannien oder DIDF in Deutschland verbunden) und die SDP (Partei der Sozialistischen Demokratie – auch sie besteht aus ehemaligen linken AktivistInnen, eine Abspaltung von der ÖDP – Partei für Freiheit und Solidarität) ebenso wie die BDP. Leider ist es kein Prozess von unten, an dem sich neue AktivistInnen beteiligen, sondern wird von oben von den verschiedenen Führungen dieser Gruppen betrieben.
Vor der Wahl hat Öcalan der Regierung vorgeschlagen, die PKK in eine politische Bewegung umzuwandeln und den bewaffneten Kampf zu beenden. Die PKK steckt seit vielen Jahren in einer Sackgasse. Es ist offensichtlich, dass der bewaffnete Kampf nirgendwohin führt. Öcalan und die PKK fordern kein unabhängiges Kurdistan mehr, sondern „demokratische Autonomie“ innerhalb des türkischen Staates.
Die Regierung hat zwar Verhandlungen mit ihrem Gefangenen und Staatsfeind Nummer Eins Öcalan aufgenommen, aber nichts angeboten. Im August antwortete die PKK, indem sie ihren einseitigen Waffenstillstand beendete und die Angriffe wieder aufnahm. Mit diesen Angriffen gab die PKK Erdoğan die Möglichkeit, mit blutigen Bombardierungen zurückzuschlagen. Jetzt wird in der Regierung sogar über den Einsatz spezieller Elite-Bodentruppen spekuliert, um den Kampf gegen die PKK zu intensivieren. Öcalans Haftbedingungen wurden verschärft. Wie der Kurdische Nationalkongress berichtet, durften seine Anwälte ihn „aus willkürlichen Gründen“ seit dem 27. Juli nicht mehr besuchen
Eine neue Welle von Verhaftungen gegen die BDP und kurdische Intellektuelle zeichnet sich ab. Die ganze Rhetorik der Regierung und der kapitalistischen Medien weist darauf hin. Eine Erdoğan-nahe Zeitung bezeichnete die BDP als „Mörder“.
Bis jetzt haben sich die Spannungen zwischen der türkischen und der kurdischen Bevölkerung nicht so aufgeheizt wie nach anderen Angriffen der PKK in den letzten Jahren, als türkische Nationalisten Gruppen aufhetzten, die kurdische Geschäfte und Zentren angriffen. Aber die Regierung und die Medien haben zur Begleitung der Militäraktion die Verleumdungen gegen die BDP wieder verstärkt.
Perspektiven für eine neue linke Partei
Die türkische Arbeiterbewegung befindet sich seit einigen Jahren in einem Prozess des Wiedererwachens, mit der Versammlung von Hunderttausenden auf dem Taksim-Platz in Istanbul an jedem 1. Mai, dem Streik der Tekel-ArbeiterInnen im letzten Jahr und anderen kleineren Arbeitskämpfen. Vor diesem Hintergrund und angesichts der sozialen Instabilität in der Türkei hat eine neue Formation, die sich aus dem Block entwickelt, viel Potenzial, einer Schicht von neuen SozialistInnen und GewerkschaftsaktivistInnen eine Plattform zu bieten.
Gleichzeitig ist die Attraktivität der BDP (und ihrer verbotenen Vorgängerinnen) für türkische ArbeiterInnen wegen ihrer hauptsächlich nationalistischen Positionen begrenzt, obwohl sie sich als links darstellt. Der BDP ist es nie gelungen, eine wirklich Türkei-weite Partei zu werden.
Um der Demagogie der Nationalisten, von der neofaschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) bis zur kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei) und der regierenden AKP (der anderen drei im Parlament vertretenen Parteien) entgegenzutreten, muss eine neue linke Partei auf der Grundlage eines gemeinsamen Kampfes der Arbeiterklasse gegen jede Unterdrückung und für volle demokratische Rechte – gewerkschaftliche Rechte, das Streikrecht und das Recht der KurdInnen über ihre Autonomie oder sogar Unabhängigkeit zu entscheiden – stehen.
Auf kapitalistischer Grundlage gibt es keinen Ausweg für die Entwicklung der Wirtschaft in den kurdischen Gebieten. Es gibt auch keine Perspektive für eine stabile Fortsetzung des Booms der türkischen Wirtschaft. Im Gegenteil gibt es viele Gemeinsamkeiten mit den südeuropäischen Staaten, bevor sie von der letzten Krise getroffen wurden (siehe den Hintergrund-Kasten zur türkischen Wirtschaft unten). Die Zahl der prekären, niedrig bezahlten Jobs steigt und der Boom der letzten Jahre hat weite Teile der Arbeiterklasse nicht erreicht. Die Kreditkartenblase hat ArbeiterInnen geholfen, ihren Lebensstandard zu halten. Wenn sie platzt, werden sie schwer darunter leiden.
Eine neu gegründete linke Formation könnte sich auch in der türkischen Arbeiterklasse verwurzeln. Leider beschränken sich die BündnispartnerInnen des Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit auf gemäßigte reformistische Forderungen und verbinden den Kampf für Tagesforderungen nicht mit dem Kampf für eine sozialistische Lösung für Armut und Arbeitslosigkeit in der Türkei und Kurdistan. Dadurch ist die Entwicklung der neuen Partei in Frage gestellt.
Allerdings ist eine Plattform dringend notwendig, die ArbeiterInnen, Jugendliche und AktivistInnen sozialer Bewegungen zusammenbringt, um über ein Programm zu diskutieren und gemeinsamen Widerstand gegen die AKP-Regierung und die Angriffe des Kapitals und des Imperialismus zu entwickeln. Eine neue Partei könnte ein Schritt vorwärts in diese Richtung sein.
Marxistische Kräfte werden gebraucht, um sicherzustellen, dass AktivistInnen in Betrieben, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen und kurdische AktivistInnen, die sich an der neu entstehenden Partei orientieren, mehr vorfinden als das, was die Führungen der an der Gründung beteiligten Parteien zu bieten bereit sind. Eine revolutionäre sozialistische Alternative ist notwendig, um eine neue Massenpartei der ArbeiterInnen zu bilden, bewaffnet mit einem Programm zum Sturz der AKP-Regierung und zur Abschaffung der Unterdrückung der KurdInnen, des Kapitalismus und des Imperialismus.
Hintergrund:
Drohender wirtschaftlicher Niedergang
Das alles ist in einer für die Kapitalisten noch günstigen wirtschaftlichen Lage passiert.
Im ersten Quartal 2011 ist die türkische Wirtschaft um elf Prozent gewachsen – sogar stärker als die chinesische. Aber im August hat die US-Bank Morgan Stanley ihre Wachstumsprognose für 2012 von 4,5 auf 3,5 Prozent gesenkt. Das Wachstum basiert auf einem riesigen Leistungsbilanzdefizit, das der IWF für diess Jahr auf circa 10,5 Prozent schätzt.
„Heißes Geld“, „Fluchtgeld“ fließt in die Türkei, die als Ort für profitable Investitionen gesehen wird. Aber das kann nicht nur aufhören, sondern komplett die Richtung ändern und zu einem Abfluss von Kapital führen.
Die türkische Lira hat seit Jahresanfang im Verhältnis zum Euro 23 Prozent ihres Wertes verloren, der Aktienindex der Istanbuler Börse ist in diesem Jahr bis jetzt um 21 Prozent gefallen.
Das deutet auf ähnliche Entwicklungen wie die hin, die in Südeuropa der Krise vorausgingen.
Entwicklungen in der Region sind ein weiterer destabilisierender Faktor. In der letzten Phase ist der Umfang des Handels mit Syrien von 700 Millionen Euro auf drei Milliarden gestiegen. Aber seit das syrische Regime den Bürgerkrieg gegen die Protestbewegung begonnen hat und die Zahl derer, die vor Repression über die Grenze fliehen deutlich gestiegen ist, sind Handel und Investitionen stark zurückgegangen.