Jetzt geht’s um jede Stimme gegen S21 und um weitere Gegenwehr oder „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“
Als ich am 11. Oktober im Zug von Berlin nach Stuttgart saß, gab es im Viertelstundentakt Durchsagen, wonach es aufgrund von „Vandalismus“ zu Verspätungen kommen würde. Nach ein, zwei Stunden war das dann wieder vergessen, weil – wie man es bei Bahnfahrten gewohnt ist – „Betriebsprobleme“ bald für den üblichen Verspätungsärger sorgten. Ein Hohn, wenn die Deutsche Bahn von Vandalismus spricht – zählen Rüdiger Grube und Konsorten doch zu den größten Vandalen der Republik! Nachdem die Massenproteste der völligen Zerstörung von Schlossgarten und Kopfbahnhof anderthalb Jahre Einhalt gebieten konnten, wittern die Herrschenden mit der Volksabstimmung am 27. November nun eine neue Chance, für ihr Profitvorhaben doch noch „freie Bahn“ zu bekommen.
von Aron Amm
Wenn es bei dieser Volksabstimmung in Stadt und Land Mehrheiten für Stuttgart 21 geben sollte, dann könnte dies – trotz der vorherigen beispiellosen Welle von Massenprotesten – einen „moralischen Genickbruch“ für die Bewegung bedeuten. „Seht her, ihr seid ja doch nur eine Minderheit“ wird es heißen. Und: „Dabei wolltet ihr diese Volksabstimmung doch.“ Dieses Szenario gilt es zu verhindern. Die Bewegung muss noch einmal voll durchstarten und alle Möglichkeiten für eine erfolgreiche Informationskampagne ausschöpfen. Eine solche intensive Aufklärungsarbeit könnte dann auch dazu dienen, den ebenfalls weiter nötigen Widerstand zu stärken.
Warum die Grünen immer wieder auf die Volksabstimmung zurückkamen
Ursprünglich war die Forderung nach einer Volksabstimmung über das Wahnsinnsprojekt in der Bewegung tatsächlich einmal populär gewesen. Aber schon vor mehr als einem halben Jahr hatten die meisten AktivistInnen verstanden, wie undemokratisch die baden-württembergische Gesetzeslage in Sachen „direkter Demokratie“ ist. Darum wurden die Rufe danach deutlich leiser. Mehr und mehr erkannten, dass eine solche Abstimmung zu einem Eigentor führen und der Gegenseite zum Erfolg verhelfen könnte.
Allerdings gab es – neben der SPD – auch einen relevanten Teil der Bewegung, der die Volksabstimmung immer wieder ins Gespräch brachte. Das waren die Grünen, die zwar gegen das Mammutprojekt sind, denen aber noch mehr an einer „Befriedigung“ der Auseinandersetzung liegt, um ihre Karrieren nicht zu gefährden.
Nachdem Kretschmann angesichts der wachsenden Proteste im August 2010 schon einen „Runden Tisch“ vorgeschlagen hatte, antwortete er Tagesthemen-Sprecher Tom Buhrow nach der Schlichtung auf die Frage, ob er als Ministerpräsident das Projekt zu stoppen gedenke: „Ja, das werden wir auf jeden Fall versuchen und jedenfalls darüber einen Volksentscheid herbeiführen, damit das Volk in dieser wichtigen Frage das letzte Wort hat.“ Hoppla, da war es plötzlich, dieses Hintertürchen (wie Jutta Ditfurth treffend meinte). Obwohl Tausende wöchentlich aktiv waren, Zehntausende am 30. September gegen die Baumfällarbeiten protestierten und über hunderttausend Menschen im Oktober auf die Straße gingen und Grube, Mappus und Co. in die Defensive drängten, brachten Kretschmann und andere die Volksabstimmung ins Spiel. Jutta Ditfurth, die in ihrem neuen Buch „Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen“ die Stationen der Umfallerpartei bei Bundeswehr-Auslandseinsätzen, „Atomkonsens“ und Hartz IV Revue passieren lässt, schrieb: „Und wieder einmal besteht, jetzt beim Widerstand gegen das Projekt Stuttgart 21, die konkrete Gefahr, dass sie dem Protest den Hals brechen, solange sie nur ein bisschen Regierungsmacht dafür bekommen.“
Debatten in der Bewegung über die Abstimmung
Am 28. September beschlossen die baden-württembergischen Regierungsfraktionen SPD und Grüne die Volksabstimmung für den 27. November. Das formal notwendige Quorum beläuft sich auf 33,33 Prozent der Wahlberechtigten, nicht der TeilnehmerInnen! Mehr als 2,5 Millionen Menschen müssten sich also gegen S21 beziehungsweise für den „Ausstieg“ (die Rücknahme der Finanzierungszusage des Landes über 824 Millionen Euro) aussprechen. Zum Vergleich: Die Grünen als einzige Landtagsfraktion gegen S21 kamen bei der Wahl im März auf 1,2 Millionen Stimmen (auch die jetzige Landesregierung, SPD und Grüne zusammen, erhielten weniger Stimmen als die bei der Volksabstimmung benötigten 2,5 Millionen).
Da schon die grün-rote Koalitionsbildung mit der Volksabstimmung verknüpft wurde und die Durchführung sich seit den Wochen des Stresstests immer konkreter abzeichnete, gab es im Frühherbst intensive Debatten in der Bewegung. Durchaus kontroverse Debatten. Beim „Demokratie-Kongress“ am Wochenende 17. und 18. September zum Beispiel plädierte etwa die Hälfte der gut 150 TeilnehmerInnen für einen Boykott. Bei den „Parkschützern“ und „Blockierern“ argumentierten nicht wenige dafür, sich erst gar nicht auf diese Abstimmung einzulassen. Der Friedensforscher Wolfgang Sternstein beispielsweise meinte, bei einer Beteiligung würde man ja das Verfahren akzeptieren, folglich an das Ergebnis gebunden sein und sich so jede Handlungsfreiheit nehmen. Aber weshalb denn? Parteien treten auch zu Wahlen an, ohne im Fall einer Niederlage die Regierungspolitik zu unterstützen. Die Argumente gegen S21 bleiben nach der Volksabstimmung genau so richtig – die Frage ist nur, wie viel Gewicht sie nach einer verlorenen Abstimmung noch haben werden…
Viele der dauerhaft Aktiven – ob MontagsdemonstrantInnen oder in diversen Gruppen organisierte S21-Gegner – zeigten sich in den letzten Wochen jedoch vor allem verunsichert. Gerade für diese ist eine klare Ansage nötig: Rein in die Kampagne für ein „Ja“ zum Ausstieg, raus auf die Straße!
In den letzten Wochen setzte sich beim Gros der Gruppen und Aktiven durch, in die Volksabstimmung-Auseinandersetzung einsteigen zu müssen. Ende September verkündete das Aktionsbündnis eine massive Kampagne. Die „Infooffensive“ gehörte zu den ersten, die Materialien produzierten. Auch verschiedene Gruppen des „Parkschützer-Rats“ haben die Weichen dafür gestellt, die Volksabstimmung als ein weiteres Mittel für den Kampf gegen S21 zu nutzen. Bei der ersten Sitzung des landesweiten Bündnisses für eine „Ja“-Kampagne zum Ausstieg – im Anschluss an das Aktionsbündnis – nahmen am 18. Oktober an die 100 Personen teil, waren voller Tatendrang und stellten einen ambitionierten Terminkalender für Aktivitäten zusammen.
Zu Recht schreibt die SAV Stuttgart im Flugblatt vom 30. September 2011: „Wenn die Bewegung gegen S21 selber entscheiden könnte, ob eine Volksabstimmung gemäß der Landesverfassung stattfindet, müsste sie diese stoppen. Aber die Entscheidung liegt nicht bei uns. Wir müssen uns zu ihr verhalten.“ Und weiter: „Die S21-Anhänger wissen, dass eine Abstimmungsniederlage die GegnerInnen demoralisieren und den Widerstand schwächen kann. Dies dürfen wir nicht zulassen.“ Genau deshalb muss die Bewegung jetzt mit aller Kraft für so viele Stimmen gegen S21 wie nur möglich kämpfen – ohne natürlich den Widerstand aufzugeben. Schließlich helfen die Montagsdemonstrationen, die landesweite Großdemo am Samstag vor der Volksabstimmung (26. November), aber auch Blockadeaktionen gegen etwaige Bautätigkeiten, die Bewegung zu stärken, Selbstbewusstsein zu geben und das Abstimmungsergebnis zu verbessern. Gleichzeitig hilft die Aufklärungs- und Informationskampagne, den Widerstand auszudehnen. SAV-Mitglieder haben in den letzten Wochen auch gegenüber denjenigen AktivistInnen, die mit einem Boykott der Abstimmung sympathisierten, betont: Sollte die Bewegung bei dem Volksentscheid eine Niederlage kassieren, dann wäre auch der Rückhalt für den nötigen konkreten Widerstand bis hin zu Massenblockaden und gegebenenfalls Besetzungsaktionen ernsthaft gefährdet.
Stand der Bewegung
Aus den bundesweiten Medien ist die S21-Bewegung weitgehend verschwunden. Darum fragen sich viele außerhalb der Region, ob der Widerstand überhaupt noch lebt.
Am 8. Juli schrieben wir vom „Beginn eines neuen "heißen Sommers"“. Dazu kam es nicht. Allerdings war auch dies eher Ausdruck der Stärke der Bewegung. Denn ursprünglich wollte Grube direkt nach dem „Stresstest“ aufs Gaspedal treten und mit Südflügel-Abriss, Räumung der S21-Zelte im Schlossgarten und forcierter Rohrverlegung (für das Grundwassermanagement) Fakten schaffen. Doch dann zog sich die Stresstest-Auswertung über Wochen hin. „Schlichter“ Heiner Geißler sorgte mit seinem „Kombivorschlag“ für zusätzliche Irritationen. Das waren aber auch Reaktionen auf die Bewegung, die in den Wochen nach der Landtagswahl zwar zurückging, jedoch weiter Montag für Montag zu Tausenden demonstrierte, mit der 1.500 TeilnehmerInnen starken Baustellenbesetzung am 20. Juni einen Warnschuss abgab, Blockadeaktionen von 50, 100, sogar 250 und in einem Fall gar 400 Beteiligten durchführte und sich mit den 15.000 auf der Großdemo am 9. Juli eindrucksvoll zurückmeldete.
Da durch die Verzögerung des Stresstest-Verfahrens das Zeitfenster zur noch vor Weihnachten anvisierten Volksabstimmung immer kleiner wurde, agierten die S21-Befürworter sicherlich im Hintergrund, um Grube zurückzupfeifen. Eine Eskalation hätte der Bewegung nur neue MitstreiterInnen und mögliche AktivistInnen im Kampf um die Stimmen bei dem Volksentscheid beschert.
Dennoch waren auch am Jahrestag des „Schwarzen Donnerstags“ 20.000 auf den Beinen. Woche für Woche nehmen zwischen 3.500 und 5.000 weiter an der Montagsdemo teil. Dutzende von Gruppen sorgen dafür, dass es täglich Veranstaltungen, Aktionen oder auch nur „Schwabenstreiche“ in einzelnen Stadtteilen gibt. Ein Beispiel von vielen: Als der Landesumweltminister der Grünen, Franz Untersteller, an einem stinknormalen Mittwoch (12. Oktober) um 18 Uhr auf dem Markplatz zu einer „Volksversammlung“ kam, waren ebenfalls mehrere hundert S21-Gegner anwesend, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen, obgleich eigentlich andere Themen an diesem Abend im Vordergrund stehen sollten.
Ins Auge springt auch, dass der der 15. Oktober, an dem weltweit gegen die Bankenmacht protestiert wurde, was Deutschland betrifft – neben Berlin und Frankfurt am Main – gerade in Stuttgart mit 5.000 TeilnehmerInnen eine besonders bemerkenswerte Demo sah. Dies unterstreicht einmal mehr, dass die S21-Auseinandersetzung bei einer ganzen Schicht von AktivistInnen den Horizont erweitert hat und die Rolle von Kapitalinteressen, Polizeiapparat, Gerichten und so weiter klarer gesehen wird.
Aussichten für den Volksentscheid
Und was ist mit den Umfragen, die Mehrheiten für Stuttgart 21 signalisieren? Im Sommer gab Infratest-dimap 51 Prozent in Baden-Württemberg für, 34 Prozent gegen S21 an. In Stuttgart soll es ebenfalls, sogar noch deutlichere Mehrheiten für S21 gegeben haben. Fakt ist, dass die Umfragen sich für die S21-Gegner schon nach der Schlichtung verschlechterten. Mitte Dezember 2010 war die CDU, die zuvor über zehn Prozent eingebüßt hatte, plötzlich wieder bei 41 Prozent. Auch nach dem Stresstest – in einer Zeit schwächerer Bautätigkeit und Protesten – sah es schwieriger aus. Trotzdem kann man die Umfragen auf keinen Fall eins zu eins nehmen. Selbst die Stuttgarter Zeitung schrieb am 19. August: „Eine vergleichende nicht-repräsentative Online-Befragung bei Studierenden an der Uni Hohenheim vom März ergab tatsächlich, dass sich signifikant mehr Personen gegen Stuttgart 21 aussprachen, als bei der Abfrage auch auf die Möglichkeit des Erhalts des Kopfbahnhofs hingewiesen wurde.“
Interessanterweise zeigt sich Rüdiger Soldt in der FAZ vom 29. September im Hinblick auf den Volksentscheid alles andere als siegessicher. Er nennt es „fraglich, ob die Volksabstimmung zur Befriedigung der Gesellschaft“ beiträgt. Den Ausgang hält er für „schwer voraussehbar, weil es sich um die erste Volksabstimmung handelt und eine Kampagne noch bevorsteht“. In der Tat ist es eine zentrale Frage, welche Seite in welchem Maße mobilisieren kann. Während die S21-Befürworter bei ihren Versuchen, im Wahlkampf für das Projekt zu joggen oder zu demonstrieren, nur Dutzende oder höchstens mal Hunderte zusammenbrachten und sich in den vergangenen Monaten nichts dergleichen mehr zutrauten, hat die Protestbewegung Tausende, wenn nicht Zehntausende von potenziellen AktivistInnen. Es ist auch offen, in wie weit die CDU ihre konservativen Anhänger nach der Wahlniederlage in Baden-Württemberg animieren kann, an dem Volksentscheid teilzunehmen. Zumal solche Abstimmungen traditionell eher von denjenigen aufgegriffen werden, die gegen „die da oben“ mal ein Zeichen setzen möchten.
Dementsprechend herrschte zum Beispiel bei der Großdemo gegen S21 am 30. September bei vielen TeilnehmerInnen Zuversicht vor. Allerdings besteht die Gefahr, dass viele AktivistInnen sich von der Einstellung in ihrem persönlichen Umfeld blenden lassen. Über die Zahl der dauerhaft Aktiven hinaus gibt es viele in Stuttgart und erst recht außerhalb der Stadt, die nicht völlig festgelegt sind, schwanken und sich auch von einer massiven Kampagne der S21-Befürworter beeindrucken lassen könnten. Und diese Kampagne wird kommen. Das S21-Lager weiß um seine Chance und wird alles auf eine Karte setzen. Da sie die Medien auf ihrer Seite haben, über ihre Positionen in Staat, Betrieben, Schule, Unis geschickt Einfluss nehmen können und sowieso über die meisten Geldgeber (für Anzeigen, Plakate, Faltblätter – und Leute, die dieses Material gegen Bezahlung verbreiten) verfügen, müssen die S21-Gegner alles in die Waagschale werfen. Hinzu kommt, dass sich auch in Stuttgart manche vom Dauerkonflikt schon leicht genervt zeigen und meinen, dass der Streit doch irgendwann einmal ein Ende haben müsse. Zu unterschätzen ist zudem nicht, dass die CDU als jahrezehntelange Regierungspartei weiterhin über eine gewisse Basis verfügt und außerdem bemüht sein wird, viele konservativer eingestellte Menschen im ländlichen Raum zu mobilisieren.
Mögliche Ergebnisse und Auswirkungen
Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass die Protestbewegung das Quorum – also 2,5 Millionen Stimmen gegen S21 – am 27. November erreichen kann. Natürlich werden die Zeitungen am Folgetag titeln: „S21-Widerstand gescheitert – das Großprojekt wird gebaut.“ Allerdings ist in der Bewegung seit einem Jahr bekannt, wie undemokratisch dieses Quorum ist. Selbst der bürgerliche Blätterwald sah sich schon vor Monaten gezwungen (da viele S21-Gegner regelmäßig öffentlich die Parteinahme von Stuttgarter Zeitung, Stuttgarter Nachrichten, SWR und so weiter anprangerten), die hohen Hürden zu thematisieren. In „Stadt.Plan 5/2011“ erklärt Gangolf Stocker (SÖS-Gemeinderat): „Undemokratische staatliche Spielregeln haben wir noch nie anerkannt. (…) Das Quorum gilt für uns nicht.“ Das sehen viele in der Bewegung ähnlich. So schreibt die Schwabenstreich-Gruppe Gaußstraße/Zeppelinstraße in einem kritischen offenen Brief an Kretschmann und die grünen Minister zum Beispiel von der „fragwürdigen Volksabstimmung“.
Ein verpasstes Quorum würde die Bewegung sicherlich nicht aus der Bahn werfen. Vielmehr kämen die Grünen bei einer relativen Mehrheit für den „Ausstieg“ in allerhöchste Nöte. Zwar würden sie zunächst wiederkäuen, was Kretschmann ständig sagt: „Gesetz ist Gesetz. Verloren ist verloren. Darum muss jetzt gebaut werden.“ Aber der Druck auf sie wäre immens. Nicht auszuschließen, dass es bei einer solchen Konstellation sogar zum Bruch von Grün-Rot kommen könnte.
Sollte es in Stuttgart eine relative Mehrheit gegen S21, Baden-Württemberg-weit jedoch dafür geben, würde ebenfalls das gesamte Establishment tönen: „Stuttgart 21 kommt – die Mehrheit hat entschieden.“ Sicherlich würde dies die Bewegung extrem verunsichern. Die Teilnehmerzahlen an den Montagsdemos könnten zunächst stark zurückgehen. Allerdings ist die Haltung recht weit verbreitet: Über die Zerstörung vom Stuttgarter Bahnhof, Schlossgarten-Anlagen, Gefährdung der Mineralquellen und 20 Jahre Dauerbaustelle im Stadtzentrum darf nicht über die Stuttgarter Bevölkerung hinweg entschieden werden. Sollten – wovon auszugehen ist – dann rasch die Bagger anrücken, um den Südflügel zu zerlegen und sogar Baumfällarbeiten ins Visier genommen werden, könnte es schnell zu einem Wiederaufleben des Widerstands kommen. Eine Niederlage in Baden-Württemberg, aber eine Mehrheit für die S21-Gegner in Stuttgart könnte die Bewegung also überleben.
Anders würde es sich wahrscheinlich verhalten, wenn es auch zu einer Mehrheit pro Stuttgart 21 in der Landeshauptstadt selber kommen sollte. Auch dann würde es sicherlich noch Proteste gegen die Zerstörung von Park und Bahnhof geben. Allerdings wären diese dann deutlich schwächer. Vor allem würde eine Spaltung der Bewegung drohen. Während das Gros sich resigniert zurückziehen könnte, würde eventuell eine kleine, politisch zudem radikaler eingestellte Minderheit Blockaden und Besetzungsversuche starten, die nur zu einer weiteren Isolierung des Widerstands führen könnten.
Aufgaben für die Bewegung
Um ein solches Szenario abzuwenden, ist es jetzt wichtig, sich auf keine Mehrheit gegen S21 in Stuttgart zu verlassen, sondern hier prioritär den Kampf während der Wochen vor der Volksabstimmung aufzunehmen. – Auch wenn Cesar Luis Menotti (argentinischer WM-Coach von 1978) und seine Philosophie vom „linken Fußball“ äußerst sympathisch sind, ist es doch nicht falsch, sich – will man ein Spiel gewinnen – auf seine Stärken zu besinnen. Die Devise, „die Null muss stehen“, schadet dabei auch nicht. In dem Sinn sollte die Bewegung gegen S21 sich auf seine Stärke – auf Stuttgart – konzentrieren und durch eine intensive Aufklärungs- und Informationskampagne verhindern, dass die Gegenseite hier zum Zuge kommt.
Das heißt natürlich nicht, dass die vielen geplanten Aktivitäten der Gruppen gegen S21 in Baden und anderswo ihre Arbeit einstellen sollten. Nein, das Engagement ist absolut wichtig. Ebenfalls der dezentrale landesweite Aktionstag am 12. November. Nur sollten die StuttgarterInnen nicht alle „ausfliegen“ – auch wenn natürlich gezielte Teilnahmen an Veranstaltungen und bestimmten Aktionen in Tübingen, Karlsruhe oder am Bodensee durchaus wünschenswert sind.
Ende Oktober werden bereits die Wahlbenachrichtigungen verschickt. Ab 7. November ist Briefwahl möglich. Deshalb ist keine Zeit zu verlieren. Aber die Bewegung steckt auch schon in den Startlöchern. Auf der ersten Sitzung des landesweiten Bündnisses am 18. Oktober wurden die Prototypen der Kampagne-Materialien vorgestellt. Ein Beispiel von vielen: Allein die „Schwabenstreich“-Gruppe Gaußstraße/Zeppelinstraße hat schon ein eigenes Flugblatt für die Nachbarschaft verfasst und lässt es 25.000 Mal drucken.
SAV-Mitglieder gehörten zu den treibenden Kräften bei der Gründung der Stadtteilgruppe Bad Cannstatt. Diese, die seit einem Jahr zu den aktivsten Stadtteilgruppen zählt und schon größere Veranstaltungen und Demos auf die Beine gestellt hat, will für eine Mehrheit gegen S21 in ihrem Bezirk kämpfen und dafür den Stadtteil für Verteilaktionen aufteilen, Infotische durchführen und Versammlungen organisieren. Damit kann ein Beispiel für andere Gruppen gesetzt werden.
Bei der „Jugendoffensive“ soll es in einer Auflage von 15.000 Flugblätter mit den Hauptargumenten gegen S21 für Jugendliche geben. Überlegt wird auch ein Plakat. Wichtig sind zudem Podiumsdiskussionen an Schulen sowie Veranstaltungen an den Hochschulen zum Semesterbeginn.
SAV-Mitglieder machen sich auch in der LINKEN dafür stark, die Mitglieder zu aktivieren. Die Gewerkschaften – die ebenfalls dem Bündnis zum „Ausstieg“ angehören – haben potenziell natürlich noch eine qualitativ andere „Hebelwirkung“. Darum sollten sie Gelder für Material locker machen, vor allem aber Infoveranstaltungen durchführen, Verteilaktionen vor Betrieben starten, aber auch probieren, S21 und die Volksabstimmung zum Thema von Betriebsversammlungen zu machen. Hier gilt es, die Verbindung zwischen den geplanten Milliarden für Bau- und Autokonzerne und dem gleichzeitigen Druck auf Löhne und Sozialleistungen herzustellen.
Dieter Rucht vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung fand mittels einer Umfrage im Oktober 2010 heraus: „Als Hauptmotive des Widerstands wurden die hohen Kosten für das Projekt, Demokratiedefizite bei der Umsetzung der Baupläne sowie die Profite für Banken und Baukonzerne genannt.“ Diese Erkenntnis sollte bei der inhaltlichen Ausrichtung von Flugblättern, Plakaten und Argumentationen in den Volksabstimmungs-Wochen berücksichtigt werden.
Auch wenn der Friedensforscher Wolfgang Sternstein einem Boykott der Volksabstimmung das Wort redet, hat er mit einem Punkt recht: In der Debatte über die Positionierung erinnerte er daran, dass es einmal die Forderung nach „Waffengleichheit“ (was die Ausstattung mit Finanzen und dem Zugang zu den Medien betrifft) im Wahlkampf gab. Dementsprechend sollte die Bewegung die Meinungsmache von Stuttgarter Zeitung und anderen Privaten attackieren und die Forderung erheben, gleichberechtigt in den sogenannten öffentlich-rechtlichen Medien zu Wort zu kommen. Außerdem sollten die Beträge, die seitens der Industrie- und Handelskammer (IHK) und anderen in die Kampagne der Befürworter gehen, thematisiert und hierzu ebenfalls Forderungen aufgestellt werden.
Keine sechs Wochen mehr
Beim Fußball heißt es gern: „Das nächste Spiel ist immer das schwerste.“ Für die S21-Protestbewegung ist da im Hinblick auf die Volksabstimmung einiges dran. Es besteht sogar die Gefahr, sich zu disqualifizieren und danach aus dem Rennen zu sein. Darum ist jetzt, wie beim Sport, voller Einsatz und die ganze Konzentration gefragt. – Der stellvertretende Ministerpräsident Nils Schmid von der SPD sagte: „Wenn das Volk gesprochen hat, dann herrscht Schweigen“ (Stuttgarter Zeitung vom 17. November). Das hätten Schmid, Grube, aber auch Ramsauer und Merkel nach dem 27. November gern. Was es zu verhindern gilt.