Revolution im arabischen Raum sollte Vorbild für türkische Arbeiterklasse sein
Das Jahr 2011 begann mit einem Paukenschlag: Die langjährigen Diktatoren Zine al-Abidine Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten wurden durch Massenaufstände gestürzt. Bei den Herrschenden in den USA, in Europa, aber auch in der Türkei machte sich Angst breit. Schließlich wurden in der beginnenden arabischen Revolution nicht nur ihre engsten Freunde zum Teufel gejagt. Schlimmer noch: Sie mussten um ihre eigenen ökonomischen und geostrategischen Interessen in Nordafrika und im Nahen Osten fürchten. Da in Ägypten und Tunesien die alten Potentaten zwar zu Fall gebracht wurden, aber umfassende demokratische Rechte und grundlegende soziale Verbesserungen verwehrt bleiben, ist schon von einer nötigen „zweiten Revolution“ die Rede. Aber Gott bewahre, dass die Revolutionen fortgeführt werden! Da sind sich Barack Obama, Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einig. Vor diesem Hintergrund ist jetzt oft vom „türkischen Modell“ die Rede. Was verbirgt sich dahinter? Warum kann das für die unterdrückten Massen der arabischen Welt kein Vorbild sein?
von Festus Okey, Bremen
Unter dem „türkischen Modell“ wird ein NATO-Staat von über 70 Millionen Menschen mit einer weitgehend muslimischen Bevölkerung (etwa 80 Prozent Sunniten, an die 20 Prozent Aleviten), einer parlamentarischen Demokratie und bemerkenswertem wirtschaftlichen Wachstum verstanden. Sicherlich existieren in einigen Ländern des arabischen Raums heute durchaus Illusionen in das „türkische Modell“. Die Realität von Millionen türkischer ArbeiterInnen, Bauern und den über zehn Millionen KurdInnen sieht anders aus.
Aufstieg der AKP
Die islamisch-konservative „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) unter Erdogan ist nach einer tiefen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise 2002 an die Regierung gekommen. Zuvor war eine Mehrparteienkoalition am Ruder, die aber im Zuge der verheerenden Wirtschaftskrise 2001 scheiterte.
Durch das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) der Türkei aufgezwungene Programm und dem neoliberalen Kurs der AKP wurde das Land zu einem Paradies für das Auslandskapital. Seit der Privatisierungswelle machen die staatlichen Investitionen heute zum Beispiel nur noch 20 Prozent der Gesamtinvestitionen aus. Fast 80 Prozent aller Privatisierungen der letzten 25 Jahre fanden in der Zeit der AKP-Regierung statt.
Historisch ist die Türkei durch eine schwache Kapitalistenklasse gekennzeichnet. Erst 1923 als Staat unter Mustafa Kemal Atatürk gegründet, sind große Teile des Landes jahrzehntelang sehr rückständig geblieben. Heute wird es vom Human Development Index der Vereinten Nationen (das Pro-Kopf-Einkommen, Gesundheit, Bildung und anderes berücksichtigt) hinter Ländern wie Jamaika und Georgien auf Platz 83 von 169 untersuchten Staaten eingestuft. Mehrfach riss das Militär die Macht an sich (1960, 1971 und 1980), wenn die Lage zum Zerreißen gespannt war und die Arbeiterklasse – wie in den siebziger Jahren – massenhaft in Aktion trat.
Wachsende Teile der Bourgeoisie, vor allem der neuen Kapitalisten, die ihre Wurzeln in Anatolien haben und eine eher islamische Wertvorstellung mitbringen, wollen die Macht nicht länger mit dem Militär und der Staatsbürokratie teilen (deren Interessen vor allem von der Republikanischen Volkspartei CHP vertreten werden). Diese setzten ihre Hoffnung im letzten Jahrzehnt in die AKP.
Die Konflikte zwischen dem Militär und den Kräften um die AKP gingen auch mit der Auseinandersetzung um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einher. Diese gab nach der Verhaftung ihres Führers Abdullah Öcalan 1999 einen einseitigen Waffenstillstand bekannt. In Kurdistan wurde der Ausnahmezustand aufgehoben und hie und da kleine Reformen zugestanden. Dieser Prozess führte dazu, dass die Einmischung der Generäle in die Politik vielen nunmehr weniger nötig schien und stärker als Störfaktor gesehen wurde.
Im Juni 2011 gewann die AKP zum dritten Mal in Folge die Parlamentswahl. Während die alten Kräfte des Staatsapparates geschwächt sind und die kemalistische CHP bloß auf 26 Prozent kam, konnte die AKP und mit ihnen verbundene Teile des bürgerlichen Lagers ihre Position ausbauen. Allerdings gelang es der rechtsextremen MHP, sich mit 13 Prozent auch weitgehend zu halten.
„Ergenekon“-Ermittlungen
„Ergenekon“ ist ein ultrarechtes, kriminelles Untergrundnetzwerk, das zahlreiche Anschläge gegen Politiker, Oppositionelle und andere verübte. Ihre Mitglieder stehen in direkter Verbindung mit dem Staat, der sich im Kampf gegen Linke und kurdische AktivistInnen lange Zeit seiner Hilfe bediente.
Seit 2007 laufen offiziell Ermittlungen gegen „Ergenekon“, 2008 startete eine Regierungsoffensive mit einer Welle von Razzien und Festnahmen. Die AKP begründete dies damit, dass dieses Netzwerk seit 2003 den Sturz von Erdogan betrieben haben soll. Im Kern verfolgte die Regierung zweierlei: Zum einen wollte sie eine sogenannte „Magenspülung“ durchführen, das heißt all die Leute, die für den Staat in Verbrechen verwickelt waren und jetzt nicht mehr gebraucht wurden, beseitigen; zum anderen sollte dieses Vorgehen als Warnung gegenüber allen Oppositionellen dienen und die eigene politische Herrschaft festigen. Auch Politiker, Offiziere, kritische Akademiker und andere knöpfte man sich vor.
Referendum über Verfassungsänderung
Am 12. September 2010 – dem Jahrestag des Militärputsches von 1980 – fand ein folgenschweres Referendum statt. Neben einzelnen kleinen Verfassungsänderungen, die einen Fortschritt bedeuten, ging es in der Hauptsache um eine stärkere Kontrolle der AKP über die Justiz. Tatsächlich konnte sie auf diesem Weg ihre Machtposition weiter ausbauen.
Auf das Referendum, das der Türkei angeblich mehr Demokratie bringen sollte, folgten verschärfte Repressalien gegen Studierende, KurdInnen und linke Aktivist-Innen. Nach Angaben des „Vereins zeitgenössischer Juristen“ (ÇHD) sitzen heute mehr als 500 Schüler- und StudentInnen im Knast, weil sie sich an Protesten, unter anderem für kostenlose Bildung, beteiligten. Cihan Kırmızıgül, ein Student der Galatasaray-Universität, steckt seit 22 Monaten im Gefängnis. Als einziger „Beweis“ für die angebliche Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung wird ein Palästina-Tuch angeführt, das er getragen hatte, als er an einer Haltestelle von der Polizei mitgenommen wurde.
Kurdistan und die KCK
Die AKP-Regierung vollführte in der Kurdenfrage einen Zickzack-Kurs. Immer wieder – gerade in Wahlkämpfen – signalisierte Erdogan „Entspannung“. Bis auf einige Sprachkurse oder Fernsehsendungen in kurdischer Sprache ist aber nicht viel passiert.
In der Kurdenfrage gab es mehrere Wendepunkte. Ein einschneidendes Ereignis war zweifelsohne der Besuch von 34 „Friedensbotschaftern“, PKK-Vertretern, die auf Vorschlag von Öcalan 2009 in die Türkei kamen. Damit wollte die PKK ihren guten Willen demonstrieren. Man erhoffte sich, so einen echten Friedensprozess einzuleiten. Die Veranstaltungen zur Begrüßung dieser „Friedenbotschafter“ hatten riesige Teilnehmerzahlen. Die Stimmung unter vielen KurdInnen war sehr hoffnungsvoll. Damit war es aber abrupt vorbei, als unter der AKP plötzlich eine neue Welle von Repression einsetzte. Der Vorgänger der „Partei für Frieden und Demokratie“ (BDP), die kurdische DTP, wurde verboten. Seitdem hat man Tausende kurdischer AktivistInnen und gewählte Mandatsträger, sogar Bürgermeister, inhaftiert.
Im Zentrum der staatlichen Angriffe gegen KurdInnen stand die „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK). Diese KCK ist eine breite Struktur, die Kurd-Innen aus allen vier Teilen Kurdistans (Iran, Irak, Syrien und Türkei) unter dem von Öcalan deklarierten „Demokratischen Konföderalismus“ – als Keimzelle einer von den heutigen Staaten unabhängigen eigenen Gemeinschaft – zusammenbringen soll.
Bei der Parlamentswahl 2011 konnte die BDP und andere mit ihr verbundene Kräfte – als „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ – die Zahl der Sitze von 20 auf 36 erhöhen (wobei manchen Abgeordneten untersagt blieb, ihr Mandat nach der Wahl wahrzunehmen). Direkt danach, im August 2011, startete die AKP-Regierung eine neue Militäroffensive gegen die PKK. Vor diesem Hintergrund beendete die PKK ihren letzten von zahlreichen einseitig erklärten Waffenstillständen. Während die AKP im Kurdenkonflikt jahrelang lavierte, ist sie jetzt – nachdem sie sich gegen die CHP durchgesetzt hat – zur Konfrontation mit der PKK und anderen kurdischen AktivistInnen übergegangen.
Seit Juli 2011 werden Öcalan Besuchsempfänge in seinem Gefängnis unterbunden. Zudem wurden viele seiner Anwälte festgenommen. Darüber hinaus hat man auch bekannte Intellektuelle und Akademiker wie Ragıp Zarakolu und Büsra Ersanlı im Rahmen der KCK-Operationen inhaftiert. Die Bilanz der Verhaftungen zeichnet ein klares Bild der AKP-Politik: Zwischen April 2009 und Oktober 2011 wurden 7.748 Menschen im Rahmen der KCK-Operationen festgenommen.
Parallel dazu hat die nationalistische Hetze gegen KurdInnen erschreckende Ausmaße angenommen. Insbesondere nach dem Tod von türkischen Soldaten in Gefechten mit der Guerilla werden KurdInnen von türkischer Seite in Städten im Westen der Türkei oft angegriffen. Nicht weniger häufig wachsen sich gewöhnliche Streitereien zu ethnischen Konflikten aus.
Lage der Arbeiterklasse
Unsichere Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten, tariflich nicht abgesicherte Arbeitverhältnisse haben in den letzten Jahren massiv zugenommen – das ist der Preis, den die Beschäftigten in der Türkei für das Wirtschaftswachstum zahlen mussten. Die Situation ist besonders heikel, weil viele horrende Kredite aufnehmen mussten und inzwischen hoch verschuldet sind.
Was die Lage nicht einfacher macht, ist der geschwächte gewerkschaftliche Organisationsgrad. Dennoch markiert der monatelange Streik beim Alkohol- und Tabakmonopol Tekel einen Wendepunkt. 2010 – also noch vor der Zeltstadt auf dem Tahir-Platz von Kairo – campierten die Streikenden über Monate hinweg auf den Straßen von Ankara. Dieser Arbeitskampf – sowie weitere kleinere Streiks und die großartigen Teilnehmerzahlen am 1. Mai – widerspiegelte, dass die Arbeiterbewegung sich allmählich von ihren schweren Rückschlägen seit dem Militärputsch 1980 erholt hat.
Auch die Notwendigkeit einer politischen Interessenvertretung der Arbeiterklasse ist dringender denn je. Nach den Wahlen im Sommer 2011 erneuerte Öcalan seinen Vorschlag, das Wahlbündnis „Arbeit, Demokratie und Freiheit“ in eine neue, breitere politische Kraft umzuwandeln, die die BDP, SozialistInnen, Umweltaktive und Feministinnen einschließt. Im Oktober kam auf Einladung dieses Bündnisses in Ankara ein Kongress zusammen, an dem auch VertreterInnen der „Partei der Arbeit“ (EMEP), der „Partei für Sozialistische Demokratie“ (SDP), der Gewerkschaftskonföderation KESK und andere teilnahmen. Dort wurde die Bewegung „Demokratischer Kongress der Völker“ ins Leben gerufen, die das Ziel der Gründung einer neuen linken Partei verfolgt.
Leider hört man von dieser neuen Formation bislang wenig. Der BDP (und ihren Vorgängern) gelang es aufgrund ihrer kurdisch-nationalistischen Ausrichtung nie, größere Schichten der türkischen Arbeiterklasse zu erreichen. Wichtig ist, dass eine neue politische Kraft die Kämpfe von türkischen und kurdischen Arbeiter-Innen entschlossen unterstützt, gegen jede Form von Unterdrückung und für umfassende demokratische Rechte kämpft und für das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen (einschließlich Autonomie oder, wenn gewünscht, Unabhängigkeit) eintritt. Angesichts der Weltkrise des Kapitalismus wird jede erkämpfte soziale Reform rasch wieder bedroht sein, weshalb der Kampf für Arbeit, Soziales und demokratische Rechte mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbunden werden sollte.
Vor turbulenten Zeiten
Die Ereignisse in Nordafrika und im Nahen Osten haben unmittelbare Folgen für die Türkei. Die brisante Lage in Syrien beispielsweise führt derzeit zu einem Flüchtlingsstrom in Richtung Türkei. Erdogan nahm das zum Anlass, mit einer militärischen Intervention der Türkei zu drohen. Zwischen der Türkei und Israel ist die Lage ebenfalls angespannt. Im Sommer koordinierte das türkische Militär seine Luftschläge gegen Stellungen der PKK mit dem Iran.
Einige islamistische Kräfte in Nordafrika orientieren sich heute an der türkischen AKP. Das gilt für die Partei der Muslimbrüderschaft („Freiheit und Gerechtigkeit“) in Ägypten, die für Freihandel plädiert und unabhängige Gewerkschaften ablehnt, aber auch für die islamistische Ennahda-Partei in Tunesien.
Neoliberalismus, Niedriglohnpolitik, Repression und die Verfolgung der kurdischen Minderheit zeigen, dass die Türkei unter der AKP alles andere als ein Modell für die unterdrückten Massen im arabischen Raum darstellt. Sicherlich gibt es heute, aufgrund der katastrophalen Bedingungen in einigen Ländern, gewisse Illusionen in die „stabile“ Türkei. Aber mit der wirtschaftlichen Erholung, die auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausgetragen wurde, kann es bald vorbei sein. Neben den destabilisierenden Tendenzen durch die Krise Syriens und anderer Länder in der Region kann auch die türkische Kreditblase jederzeit platzen, ein neuer Einbruch der Weltwirtschaft die Türkei treffen und eine Kapitalflucht einsetzen.
Nicht die Türkei Erdogans ist ein Modell für Ägypten oder Tunesien. Vielmehr sollten die dortigen revolutionären Kämpfe Inspiration für die türkische und kurdische Arbeiterbewegung sein.