dokumentiert: Stellungnahme des Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ver.di zum vorläufigen Tarifergebnis
Hunderttausende Kolleginnen und Kollegen haben sich an den Warnstreiks
der letzten Wochen beteiligt. 23.000 Kolleginnen und Kollegen konnten
neu für die Gewerkschaft gewonnen werden. Damit wurde mehr als deutlich
gemacht, dass die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst kampfbereit sind
und endlich mehr Geld haben wollen, dass Schluss sein soll mit der
Verzichtspolitik im Öffentlichen Dienst. Noch in den Tarifverhandlungen
wurde auch von der ver.di-Spitze verbreitet, dass es dies Mal anders
laufen werde: Keine Schlichtung, Aufholen der Lohnverluste der letzten
Jahre, Verbesserungen für Auszubildende und Geringverdiener. Das drückte
die Forderung aus: 6,5 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 200 Euro, bei
12 Monaten Laufzeit. 100 Euro für die Auszubildenden mit anschließend
unbefristeter Übernahme.
Das nun vorliegende Tarifergebnis für die Beschäftigten bei Bund und
Kommunen vom 31. März 2012 ist leider kein Ergebnis „mit viel Licht,
aber auch Schatten”. Denn mit einem Streik hätte den Arbeitgebern mehr
abgerungen werden können, hätte ein Zeichen für eine grundlegend andere
Politik gesetzt werden können.
Die politische Ausgangslage war gut und die Unterstützung innerhalb der
Bevölkerung zur Durchsetzung der Forderungen war gegeben. Die Ablehnung
des Niedriglohnsektors ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Sogar die
arbeitnehmerfeindliche Ursula von der Leyen hatte sich für „kräftige
Lohnerhöhungen“ ausgesprochen und dafür, dass die „Arbeitnehmer jetzt an
den Erfolgen der Wirtschaft beteiligt werden“.
Offensiv hätte ver.di argumentieren können, dass diese
Auseinandersetzung Teil des politischen Kampfes gegen Prekarisierung und
Lohndumping ist und dass mit dieser Tarifrunde eine Wende eingeläutet
werden muss und dass deshalb der Kampf um den Sockelbetrag von 200 Euro
mehr für jeden Kollegen und jede Kollegin geführt wird. Der laufende
Wahlkampf in NRW hätte die Parteien zusätzlich unter Druck gesetzt.
Es wäre möglich gewesen, die Streikaktionen der Metallbeschäftigten und
der Telekom-KollegInnen mit den Streiks der Beschäftigten in Bund und
Kommunen zu synchronisieren. Die Gewerkschaftsführungen hätten gemeinsam
ausrufen können: „Für die Rettung von Banken werden Milliarden
ausgegeben, Wulff erhält einen Ehrensold von mehreren Hunderttausend
Euro. In der Privatindustrie steigen die Profite. Wo ist das Geld für
die Beschäftigten und wer will uns erzählen, es sei kein Geld da?
Millionen sind stärker als Millionäre!“
Mit einer solchen Strategie und politischen Zuspitzung hätten die
Forderungen durchgesetzt werden können. Das dies nicht geschehen ist,
ist eine verpasste Chance. Damit wurde auch eine große Gelegenheit
versäumt, den Niedriglohnsektor – der bei Bund und Kommunen ja schon
lange Einzug erhalten hat – endlich wieder zurückzudrängen.
Keine soziale Komponente
Zentraler Bezugspunkt der aktuellen Tarifrunde waren die mindestens 200
Euro. Das hätte für die unteren Einkommensgruppen angesichts der
explodierenden Lebenshaltungskosten den dringenden Nachholeffekt bewirkt
und den immer größer werdenden Abstand zu den oberen Lohngruppen
verringert. Doch hier wurden die KollegInnen mit geringem Einkommen im
Stich gelassen. Für viele KollegInnen in den unteren Lohngruppen heißt
es weiterhin: Aufstocken mit Hartz IV. Allein die „kategorische
Weigerung der Arbeitgeber“ in diesem Punkt hätte für die ver.di-
Verhandlungsführer ausreichend sein müssen, die Gespräche für
gescheitert zu erklären. Es wurde ja nicht einmal der Versuch
unternommen, soziale Komponente und prozentualer Zuwachs zu kombinieren.
Laut Tabelle TVÖD VKA ab 1. März 2012 macht die Lohnerhöhung für die
Gruppen 1 – 9/3 +10/1 zwischen 50,71 und 96,52 Euro aus, erst darüber
beträgt das Lohnplus zwischen 100,58 und 192,81. Selbst bei der
2-jährigen Laufzeit haben die Lohngruppen bis 9/4, bzw.10/3 die 200
Euro-Marke nicht erreicht (Diff. Tabelle-Summe TsöD wp 30. März 2012).
Viel zu lange Laufzeit
Niemand kann sagen, wie sich die Inflation in den nächsten zwei Jahren
entwickeln wird. Die Laufzeit wurde auf 24 Monate verlängert und dafür
benutzt den Abschluss auf 6,44 Prozent hochzurechnen. Zum vierten Mal in
Folge wurde die Chance verspielt die Tariflaufzeiten von Bund und
Kommunen mit denen der Länder zu synchronisieren und so gemeinsam in die
Tarifauseinandersetzung gehen zu können. Auch ein Arbeitskampf vor den
Bundestagswahlen wurde so verhindert.
Ein Tag Urlaub geopfert
Beim Urlaubsanspruch wurde ohne Not ein Urlaubstag geopfert. Der Urlaub
war in einer Gehaltsrunde nicht Thema der Verhandlungen. Erst Tage zuvor
wurde vom Bundesarbeitsgericht (BAG) festgestellt, dass die Aufsplittung
des Urlaubsanspruchs im Manteltarifvertrag (26, 29, 30 Tage) nach Alter
nicht zulässig sei, sondern das alle Beschäftigten, egal welchen Alters
Anspruch auf 30 Tage haben.
In seinem Flugblatt vom 26. März 2012 hat das Stuttgarter Netzwerk schon
darauf hingewiesen, dass Urlaub nicht als Kompensation genommen werden
dürfe, zu Mal es sowieso nur eine Gehaltsrunde sei. Doch dazu ist es
gekommen. Nun sollen die Auszubildenden 27 Tage Urlaubsanspruch haben,
die Beschäftigten bis 55 (!) Jahre 29 Tage und danach 30 Tage.
Sicherlich hätten die Arbeitgeber die Urlaubsregelung von sich aus
gekündigt. Nun gut, dann hätte ver.di eben einen Streik zur Verteidigung
des Urlaubsanspruchs führen müssen. Dieser wäre angesichts der
zunehmenden Arbeitsverdichtung sicherlich auf große Unterstützung
gestoßen.
Bescheidene Lohnerhöhung
Das Ergebnis lässt sich verschieden interpretieren. Selbst Michael
Wendl, ehemals stellvertretender ver.di-Vorsitzender in Bayern, schreibt
in seiner Stellungnahme: „Lineare Erhöhungen mit vom Kalenderjahr
abweichender Laufzeit werden zur Bewertung unterschiedlich gerechnet.
Einmal nach der so genannten Westrick-Formel, um einen Vergleich mit der
jährlich fixierten Inflationsrate zu haben, zum zweiten nach dem
tabellenwirksamen Effekt, auf dem die Lohn- oder Entgelterhöhungen der
folgenden Jahre aufsetzen. Nach der Westrick-Formel bekommen wir 2012
eine Erhöhung von umgerechnet 2,92 Prozent und 2013 von rund 1,98
Prozent.”
Gleichzeitig werden aber auch die Entgelte am 28. Februar 2014 6,3
Prozent über denen vom 28. Februar 2012 liegen. Wie sich die
Inflationsrate im gleichen Zeitraum entwickelt ist aber völlig offen.
Die steigenden Benzinpreise (und damit auch steigende Heizkosten)
verheißen jedenfalls nichts gutes. Ebenso stiegen 2011 Steuern und
Sozialabgaben so stark wie seit 17 Jahren nicht mehr. Im Schnitt stieg
die Abgabenbelastung damit um 553 Euro im Jahr. Da bleibt von der
jetzigen Lohnerhöhung wenig übrig.
Das Aufsummieren über zwei Jahre bringt aber auch nichts. Dieser Logik
folgend hätte auch ein Tarifabschluss von 15,75 Prozent, aufgeteilt in
verschiedene Abstufungen über 60 Monate ausgehandelt und als Erfolg
verkauft werden können. Ein Grund mehr, warum sich das Netzwerk für
klare Festgelderhöhungen auf jährlicher Basis einsetzt. Die sind für
jeden einfach nachprüfbar.
Aber vor allem wäre mehr drin gewesen und auch mehr nötig gewesen. Nicht
zu Unrecht hieß es den Tarifinfos, dass im Öffentlichen Dienst
mittlerweile deutlich schlechter als in der Privatwirtschaft bezahlt
wird.
Erfolg für Auszubildende?
Die Lohnerhöhungen für Auszubildende fallen zwar höher aus als ingesamt.
Das ist gut, aber angesichts steigender Kosten und vor allem der
Tatsache, dass mehr Jugendliche früher auf eigenen Beinen stehen müssen
als früher, weil die Eltern einfach weniger Geld haben, bleibt es zu
wenig. 750 Euro pro Monat. Das reicht kaum zum Leben.
Auch die Übernahmeregelung ist bescheidener als sie verkauft wird. In
den FAQ zum Abschluss heißt es: „Gibt es jetzt eine unbefristete
Übernahme für Auszubildende?!Eine echte unbefristete Übernahme für alle
Auszubildenden gibt es leider nicht. Hierzu waren die Arbeitgeber nicht
bereit.” (Quelle: ver.di FAQ zum Tarifabschluss)
Natürlich waren die Arbeitgeber dazu nicht bereit. Warum sollten sie
auch? Sie waren auch nicht zur Zahlung von Lohnerhöhungen bereit und
mussten durch Warnstreiks dazu gezwungen werden.
Was die ver.di-Spitze als „unbefristet“ bezeichnet, relativiert sie
selbst im Nachsatz. Denn die folgenden Zusätze und genaugenommen
Einschränkungen sind so schwammig formuliert, dass sich der
auszubildende Betrieb aussuchen kann wie er es drehen und wenden möchte.
Tatsächlich heißt es zum Beispiel bei der Frage des Bedarfs: „Der
dienstliche bzw. betriebliche Bedarf muss zum Zeitpunkt der Beendigung
der Ausbildung nach Satz 1 vorliegen und setzt zudem eine freie und
besetzbare Stelle bzw. einen freien und zu besetzenden Arbeitsplatz
voraus, die/der eine ausbildungsadäquate Beschäftigung auf Dauer
ermöglicht.” (Endfassung der Einigung)
Sprich, wenn zum Abschluss der Ausbildung ein unbefristeter Arbeitsplatz
im Beruf des Azubis vorhanden ist, dann wird er nach einjähriger
Bewährung unbefristet eingestellt. Nur das passiert auch heute schon.
Zur Frage der Bewährung heißt es in den FAQ: „Zu der Frage der Bewährung
kann auf zurückliegende Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem früheren
Bewährungsaufstieg verwiesen werden. Folglich hat sich bewährt, wer die
aus der übertragenen Tätigkeit resultierenden, arbeitsvertraglichen
Pflichten und Anforderungen erfüllt. Kommt jemand diesen Pflichten nicht
nach, bzw. kann die Anforderungen nicht hinlänglich erfüllen, hat der
Arbeitgeber dies innerhalb der Bewährungszeit mitzuteilen und dem
Beschäftigten Gelegenheit auf Nachbesserung zu geben.” (Quelle: ver.di
FAQ zum Tarifabschluss).
Das lässt leider auch wie bisher Interpretationspielräume zu. Es ist zu
befürchten, dass der wahre Wert der getroffenen Regelung erst durch
viele Arbeitsgerichtsverfahren wird erstritten werden müssen.
Wir sagen „Nein” bei der Mitgliederbefragung
Wie zu erfahren war (Junge Welt 2. April 2012), hat die Tarifkommission
den ausgehandelten Kompromiss zunächst abgelehnt. Das man so lange
abstimmt, bis das Ergebnis passt, dass kannten wir bisher nur aus der
Politik.
Wir forderten in der Vergangenheit und fordern für die Zukunft: Keine
geheimen und abgeschlossenen, sondern transparente und für die
Mitglieder jeder Zeit nachverfolgbare Verhandlungen. Es darf nicht sein,
dass man drei Tage nur Gerüchte hört und in Unwissenheit gehalten wird.
Transparenz drückt sich in soweit aus, dass nach jedem
Verhandlungsteilschritt informiert wird und dass vor einer Abstimmung
die Möglichkeit der Rückmeldung der Mitlieder an die (einzelnen)
Tarifdelegationen besteht. Im Zeitalter der elektronischen Kommunikation
sollte das keine unüberwindbare Hürde sein.
Die Vorraussetzungen in dieser Tarifrunde waren günstig zumal es die
Perspektive gab mit den Kolleginnen von Telekom und Metall gemeinsam zu
streiken. Mehr als 300.000 KollegInnen beteiligten sich an der zweiten
Warnstreikwelle. In vielen Bereichen war die Beteiligung sehr groß bis
nahezu 100 Prozent. Darauf hätte man aufbauen können. Druckpotenzial war
also mehr als vorhanden. In Ostdeutschland wäre es schwieriger gewesen,
heißt es . Doch wie soll man denn eine Gewerkschaft aufbauen, wenn man
nicht kämpft? In Berlin haben die KollegInnen bei Charite und CFM
gezeigt, dass auch mit niedrigen Organisationsgrad Verbesserungen
erkämpft und neue Mitglieder für die Gewerkschaft gewonnen werden können.
Aber von der ver.di-Spitze wurden die Warnstreiks nicht als
Ausgangspunkt eigener Stärke begriffen, um darauf aufbauend die mehr als
berechtigten Forderungen in einem Erzwingungsstreik durchzusetzen,
sondern es wurde ohne Not ein Abschluss vereinbart. Daher lehnen wir das
vorläufige Verhandlungsergebnis ab und fordern alle KollegInnen auf,
dies in der Mitgliederbefragung ebenfalls zu tun.
Die ver.di-Spitze droht nun mit einem Zurück auf Null, und damit dass
die Arbeitgeber eine harte Linie fahren werden. Die Antwort kann nur
sein, dass wir dann auch eine harte Linie fahren müssen. Mal sehen was
passiert wenn nicht nur die Kitas geschlossen sind sondern auch am
Frankfurter und anderen Flughäfen nichts mehr geht. Die
Kampfbereitschaft ist da. Das haben die Warnstreiks mehr als deutlich
gezeigt.
Gleichzeitig endet der Tarifvertrag in der Metall- und Elektroindustrie,
ver.di-Mitglieder bei der Deutschen Telekom bereiten sich auf einen
Streik vor. Dies wäre DIE Chance, durch zeitgleiche Streiks, gemeinsame
Demonstrationen und Kundgebungen den Druck aus den Betrieben aufzubauen,
um tatsächlich die massiven Reallohnverluste aus den letzten zehn Jahren
zurückzuholen. Mehr noch – es wäre eine Möglichkeit, gemeinsam Stärke zu
zeigen, Kampfkraft zu erproben. Die Bedeutung der Gewerkschaften als
Kampforganisationen würde wieder aufgezeigt und viele Beschäftigte
würden wieder einen Sinn darin sehen, sich zu organisieren. Noch
wichtiger: die Beschäftigten würden ihre eigene Stärke spüren und die
Arbeitgeberseite in ihre Schranken verwiesen. Es würde die
Ausgangsposition für die Masse der Beschäftigten in zukünftigen
Auseinandersetzungen, die in Anbetracht der Krise des Kapitalismus sehr
hart werden, enorm verbessern. Mit einer solchen Bewegung würden die
Arbeitgeber zum Nachgeben gezwungen werden können. Es wird also Zeit,
Alleingänge und Konkurrenzverhalten der Einzelgewerkschaften
abzuschaffen und stattdessen dafür zu sorgen, dass an einem Strang
gezogen wird. Davon profitieren letztlich alle Einzelgewerkschaften und
ihre Mitglieder.
Radikalen Kurswechsel durchsetzen
Gerade aufgrund der sich verschärfenden Staatschulden- und
kapitalistischen Krise brauchen wir dringender denn je kämpferische und
demokratische Gewerkschaften. Wenn wir nicht die volle Kampfkraft der
Gewerkschaften in die Waagschale werfen, werden Unternehmer und
Regierungen ihre Politik der Umverteilung von unten nach oben radikal
fortsetzen. Wir brauchen konsequent geführte Tarifkämpfe, Streiks in
einzelnen Branchen, branchenübergreifend.