Als Erdbeben bezeichnet man messbare Erschütterungen des Erdkörpers, die zumeist aus ruckartigen Verschiebungen der Erdplatten resultieren. Nichts anderes markieren die Wahlen in Frankreich und Griechenland: politische Erdbeben im Zuge massiver Stimmungsumschwünge, die die Parteienlandschaft gewaltig durcheinander wirbelten. Auch bei den Kommunalwahlen in Großbritannien und in Italien fuhren die nationalen Regierungsparteien krachende Niederlagen ein. Gleiches gilt für die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Damit brachte der Wonnemonat Mai herbe Wahlschlappen für die Austeritätspolitik, während sich die Schuldenkrise in Europa weiter zuspitzt und ein Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone immer wahrscheinlicher wird.
von Aron Amm, Berlin
Als die Finanz- und Wirtschaftskrise vor fünf Jahren ihren Lauf nahm, zeigten sich große Teile der Arbeiterklasse zunächst schockiert und teilweise gelähmt. Dann schlug vor allem in Südeuropa die Wut in den letzten zwei Jahren vermehrt in Widerstand um: ob die 17 Generalstreiks in Griechenland, die Indignados-Bewegung oder die Zunahme von Kämpfen in Portugal und Spanien, aber auch in Großbritannien. In diesem Frühjahr wandte sich ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung nun der politischen Ebene zu, um der kapitalistischen Krisenpolitik eine Absage zu erteilen – was in Griechenland, Frankreich oder anderswo auch bald schon wieder den betrieblichen und sozialen Kämpfen neuen Schwung verleihen kann.
Mit den jüngsten Wahlen wurden nicht nur Nicolas Sarkozy oder Lucas Papademos abgestraft, sondern auch Kanzlerin Angela Merkel ein Schlag versetzt. Hierzulande drückten die vergangenen Wahlen ebenfalls eine Ablehnung des bürgerlichen Establishments im Allgemeinen und der Kürzungspolitik im Besonderen aus. Die „Welt am Sonntag“ wähnt Merkel nun „mitten im Endspiel um die Macht. Während das Gespenst der Euro-Krise zurückkehrt, kämpft die Kanzlerin nach dem Rauswurf von Bundesumweltminister Norbert Röttgen nicht nur in der Regierung, sondern auch in der eigenen Partei um Autorität.“
Wahldebakel für Schwarz-Gelb
Sowohl in Schleswig-Holstein als auch in Nordrhein-Westfalen votierte nur noch gut jeder dritte Wähler für Schwarz-Gelb. Gerade die NRW-Wahl geriet für die CDU zum Desaster: Nachdem sie 2010 mit 34,6 Prozent schon ein Rekordtief verbuchen musste, stürzte die „Volkspartei“ jetzt auf 26,3 Prozent ab.
Als Röttgen die NRW-Wahl kurz vor Torschluss zu einer Abstimmung über Merkels Euro-Kurs deklarieren wollte, wurde er flugs zurückgepfiffen. Beharrlich erklärte die Kanzlerin, dass das Stimmergebnis an Rhein und Ruhr nichts, aber auch gar nichts mit der Politik der Bundesregierung zu tun hätte. Allerdings kommt die Entlassung ihres Bundesumweltministers und langjährigen Vertrauten einem nachträglichen „Schuldeingeständnis“ gleich. (Übrigens mag zu Röttgens Entlassung „auch das Gespräch mit den Spitzen der deutschen Energiewirtschaft am 2. Mai im Kanzleramt beigetragen haben“, so EU-Kommissar Günther Oettinger.)
Aber widerspricht das Abschneiden der FDP nicht der Einschätzung, dass die Wahlergebnisse ein Votum gegen die Bundesregierung darstellten? Im Gegenteil. Schließlich konnten die Freien Demokraten in Schleswig-Holstein und NRW nur deshalb wie Phönix aus der Asche steigen, weil ihre Spitzenkandidaten Wolfgang Kubicki und Christian Lindner als Kritiker, wenn nicht gar als Gegner des Kabinetts von Angela Merkel und Philipp Rösler gesehen wurden. Dass mit den Liberalen nun Totgesagte länger leben dürfen, hängt jedoch auch damit zusammen, dass einige Bürgerliche ein Ableben der kleinen Partei des großen Geldes ernsthaft fürchteten und durch bewusste Wechselstimmen verhindern wollten.
Während Schwarz-Gelb die Felle davon schwimmen, scheint dies dem Ansehen von Merkel keinen Abbruch zu tun. Zwar nahm auch ihre Beliebtheit leicht ab, trotzdem bleiben die Popularitätswerte der Kanzlerin relativ hoch. Obwohl Merkels Europa-Politik allen Beschäftigten, Erwerbslosen und RentnerInnen schadet, meinen derzeit viele, dass sie mit ihrem dominanten Auftreten in Brüssel angeblich „deutsche Interessen“ vertreten würde.
Die jüngsten Wahlausgänge lassen SPD und Grüne hoffen, bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr Schwarz-Gelb beerben zu können. Allerdings lag die Wahlbeteiligung sowohl in Schleswig-Holstein als auch in Nordrhein-Westfalen bei etwa 60 Prozent; diese Tiefstände zeigen, dass wachsende Schichten sich von den etablierten Parteien generell nicht mehr viel erwarten. Zwar ist die SPD derzeit in beiden Bundesländern dabei, unter ihrer Führung neue Regierungen zu bilden, doch muss dazu im nördlichsten Bundesland erstmals auf die „Dänen-Ampel“ (also Rot-Grün unter Einbeziehung des Südschleswigschen Wählerverbandes) gesetzt werden. Und im Bund sitzt die Sozialdemokratie weiterhin im 30-Prozent-Turm fest.
Trotzdem bemüht sich gerade SPD-Chef Sigmar Gabriel, seine Partei als Alternative zur Bundesregierung zu präsentieren. Angesichts der instabilen wirtschaftlichen Lage und der Verschärfung der Euro-Krise, bei der bereits die anstehenden Entscheidungen über Fiskalpakt und Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Sprengstoff bieten, könnte sich die SPD in der kommenden Zeit als Partei der „Wachstumsimpulse“ zu profilieren versuchen.
Und DIE LINKE?
Bedauerlicherweise konnte die Linkspartei aus der Absage an die Kürzungspolitik und der wachsenden Entfremdung vom Establishment keinen Nutzen ziehen. Nach dem die Partei letztes Jahr schon in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg den Einzug in die Landtage verpasste, verlor sie in Schleswig-Holstein und NRW ebenfalls erschreckend deutlich.
Ein Blick auf die Wählerwanderungen in NRW gibt Aufschluss über die Ursachen: So verlor DIE LINKE 90.000 Stimmen an die SPD, 80.000 an die Piraten, 30.000 an die Grünen und 20.000 an die NichtwählerInnen. Das zeigt das Dilemma der LINKEN, die in den letzten Jahren überwiegend als parlamentarische Ergänzungspartei betrachtet wurde. Obgleich die Piraten politisch brav und bieder sind, werden sie zur Zeit eher als Anti-Establishment-Kraft gesehen. Zudem nehmen viele WählerInnen DIE LINKE als soziales Korrektiv der SPD wahr, die dann an Bedeutung verliert, wenn die Sozialdemokratie – wie unter Hannelore Kraft – mehr als „Kümmerin“ der sozial Schwachen erscheint.
Die Fehler, die zu dieser Schwächung der LINKEN führten, haben schon viel früher ihren Anfang genommen. Bis auf wenige Ausnahmen war sie nie „Motor“ sozialer Bewegungen (wie der Stuttgarter ver.di-Geschäftsführer Bernd Riexinger das noch 2004 für die damals entstandene WASG postulierte). Die Führung von Partei und Bundestagsfraktion versagte dabei, überzeugende Antworten auf die Krise vorzubringen. Dazu kommen die wiederholten Erfahrungen mit Beteiligungen an SPD-geführten Regierungen.
Tarifrunde 2012: Verpasste Möglichkeiten
Während in einem Land nach dem anderen die Risikoaufschläge für Staatsanleihen nach oben schnellen, zahlte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble Mitte Mai erstmals in der Geschichte der BRD für zweijährige Anleihen gar keine Zinsen mehr – so hoch sind die Kurse. Warum dann die breite Unzufriedenheit in der arbeitenden Bevölkerung? Ganz einfach, weil die gegenwärtige Sondersituation der deutschen Industrie wesentlich auf Kosten der Arbeiterklasse herbeigeführt wurde. Die verbesserten Konkurrenzbedingungen basieren gerade auf der Agenda 2010. Viele der „Strukturreformen“, die in Spanien und anderswo gegenwärtig durchgeführt werden sollen, haben in der Bundesrepublik ihre Vorbilder. Die deutsche „Schuldenbremse“ stand dem jetzt EU-weit anstehenden Fiskalpakt Pate.
Die Stimmungslage ist derzeit sehr komplex. Zum einen herrscht gerade in den Großbetrieben ein Gefühl vor, dank Konjunkturprogrammen, Kurzarbeit und Flexkonten mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Zum anderen ist der Ärger über die jahrelange Kürzungs- und Umverteilungspolitik weit verbreitet. Die vorherrschende Stimmung gegen das „Lügenpack“, den Filz aus Politikern, Banken- und Konzernchefs, Immobilienhaien und Justiz, brach sich bei der Massenbewegung gegen Stuttgart 21, aber auch bei kleineren davon inspirierten Protesten Bahn. Dass die Verscherbelung öffentlichen Eigentums, anders als noch vor 20 Jahren, auf breiter Front abgelehnt wird, zeigten beispielsweise die Volksabstimmungen zur Offenlegung der Berliner Wasser-Verträge oder gegen die Umwandlung der Dresdner Krankenhäuser in eine (g)GmbH.
Eine verallgemeinerte Bewegung gegen Sozialabbau blieb hier bislang aus; auch deshalb, weil es – trotz der Serie einzelner Rotstift-Maßnahmen in Bund, Ländern und Kommunen – bislang keine den EU-Nachbarländern vergleichbare Provokation (zum Beispiel ein besonders heftiges Sparpaket) gab.
Eine Chance hatte sich in den letzten Monaten allerdings aufgetan: In einer ganzen Reihe von Bereichen (Chemie, Telekom, Banken, vor allem aber Öffentlicher Dienst und Metallindustrie) standen in diesem Frühjahr beinahe zeitgleich Tarifauseinandersetzungen an. Nach über zehn Jahren stagnierenden Reallöhnen existierte hier erheblicher Nachholbedarf. Bemerkenswerterweise sahen sich die Gewerkschaftsoberen genötigt, nicht nur für generelle Lohnerhöhungen einzutreten, sondern auf die Ausweitung des Niedriglohnsektors zu reagieren: So forderte ver.di mit dem Festbetrag von 200 Euro eine „soziale Komponente“, so gehörte eine Besserstellung der LeiharbeiterInnen zum Forderungskatalog der IG Metall. Die hohe Beteiligung an den Warnstreiks demonstrierte eindrucksvoll die Kampfbereitschaft. Leider wurde auch dieses Mal nicht zur Waffe des Streiks gegriffen – in der Metallindustrie schon das zehnte Jahr in Folge. Mehr noch: Die Gelegenheit, die Konflikte bei Metall und Öffentlichen Dienst zusammenzubringen und eine Tariffront von über 5,5 Millionen Beschäftigten aufzubauen, ließen die Gewerkschaftsspitzen fahrlässig verstreichen. Letztendlich wurde davor zurückgeschreckt, in der aktuellen Lage die politische Stabilität weiter zu gefährden. Dazu kommt, dass der Druck von kritischen und kämpferischen Vertrauensleuten, Betriebsräten oder anderen AktivistInnen nicht stark beziehungsweise nicht effektiv genug war.
„Blockupy“ in Frankfurt: Besonderes Ausmaß staatlicher Repression
Vom 16. bis 18. Mai setzte der Staatsapparat das Versammlungsrecht in Frankfurt am Main vollständig außer Kraft. „Durch die Bank“ wurden alle Demonstrationen, Kundgebungen, Infostände gegen die Krisenpolitik der Troika (EU, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) verboten. Offenkundig erwarten die Herrschenden auch für Deutschland eine andere Stufe von gesellschaftlichen Konflikten und treffen ihre Vorkehrungen.
Sicherlich gehörte es auch zum Kalkül der Obrigkeit, durch die Kriminalisierung von AktivistInnen auf andere Teile der Bevölkerung eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Ohne Frage fehlte es der Mobilisierung in die Mainmetropole in den Wochen und Monaten zuvor an Dynamik (auch weil sich die Gewerkschaften weitgehend passiv verhielten), bei politisch kritischeren und engagierteren Teilen der Gesellschaft führte das repressive Vorgehen aber eher zu einer Gegenreaktion und verhalf der Demonstration am 19. Mai zu einer größeren Teilnahme. Zudem war „Blockupy“ ein Zeichen dafür, dass sich eine relevante Zahl von Jugendlichen als Teil internationaler Gegenwehr versteht, andere mitreißen kann und darauf drängt, der Konzernherrschaft mit radikalen Aktionen zu begegnen.
Nicht nur die lebendige und kämpferische Demo von 30.000 war positiv. Auch die wiederholten Platzbesetzungen am 17. und 18. Mai trotz aller Einschüchterung und Polizeigewalt stellten einen Erfolg dar – zumal das Bankenviertel (dank der weiträumigen Absperrungen der „Freunde und Helfer“) tatsächlich einer Geisterstadt glich. Dass sich die DemonstrantInnen besonnen verhielten und der Staatsapparat keine Bilder präsentieren konnte, die sein repressives Vorgehen legitimiert hätten, bedeutet ein reales Problem für Justiz, Polizei und Politiker (nicht zuletzt des schwarz-grünen Magistrats der Stadt).
Wird Merkels „Endspiel“ vorzeitig abgebrochen?
Die Wut wächst – gegen Billigjobs, Lohn- und Sozialraub. Einer der populärsten Sprüche bei Protesten lautet heutzutage: „Eine Bank müsste man sein.“ Mehr und mehr hinterfragen ein System, in dem für die Finanzhäuser Milliarden hingeblättert werden, während in Schulen der Putz von der Decke kommt oder bezahlbarer Wohnraum Mangelware wird. All das fand bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen seinen Niederschlag. Da die Pleite der Union abzusehen war, kam im Wahlkampf die Frage auf, ob diese „kleine Bundestagswahl“ sogar vorgezogene Wahlen im Bund zur Folge haben könnte. 1966 oder 1995 war NRW Vorreiter einer sozialliberalen beziehungsweise rot-grünen Koalition auf Bundesebene gewesen. 2005 hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den Einbruch seiner Partei in NRW mit Neuwahlen beantwortet. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass Merkel ihrem Vorgänger darin folgt. Schließlich hat sie aktuell keine Aussicht auf eine neuerliche schwarz-gelbe Regierungsmehrheit. Zudem bedeutet das Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde bei den Wahlgängen im Mai durch ihren Koalitionspartner eine gewisse Stabilisierung der Bundesregierung.
Allerdings geht die Merkel-Regierung mit vielen Blessuren und gelben Karten in ihr „Endspiel um die Macht“. Seit ihrer Koalitionsbildung 2009 konnte sie bei keiner Landtagswahl einen schwarz-gelben Sieg erzielen. Die Bundesratsmehrheit ist flöten; eine halbe Woche vor der NRW-Wahl stimmten dort sogar zwei Drittel gegen die Pläne der Bundesregierung zur Kürzung der Solarförderung oder gegen ihre Steuerreform (weil auch sechs Länderregierungen, an denen die CDU beteiligt ist, Merkel die Gefolgschaft verweigerten).
Das Projekt „Schwarz-Grün“, das nie wirklich abhob, ist spätestens nach dem Ende Röttgens (der als erklärter Anhänger davon galt) vorläufig gescheitert. Natürlich wird Merkel sich sagen, in 15 Monaten kann noch viel passieren und Schwarz-Gelb doch nochmal Boden unter den Füßen kriegen. Die einzige Hoffnung, die der Kanzlerin aber gegenwärtig zu bleiben scheint, ist eine Neuauflage der Großen Koalition unter ihrer Führung.
In der SPD schielt man derweil wieder nach dem Kanzleramt (vor allem Parteichef Sigmar Gabriel, der gegenüber seinen Kontrahenten Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier zuletzt, auch aufgrund des Wahlsieges von Francois Hollande, Boden gut machte). Allerdings reicht es laut Umfragen auch für Rot-Grün nicht – zumal mit einem Einzug der Piraten 2013 (abhängig natürlich auch von FDP und LINKE) sechs Parteien im Bundestag vertreten sein könnten. Eine von der Piratenpartei tolerierte SPD/Grüne-Regierung erscheint, bei allem Opportunismus der Piraten, aus Sicht des Kapitals derzeit noch ziemlich heikel.
Demnach könnte den Bürgerlichen am Ende nichts anderes übrig bleiben als eine Große Koalition zu zimmern. Wobei über weite Strecken schon heute – gerade in der Euro-Politik – bereits eine inoffizielle Große Koalition besteht.
Aber auch ein vorzeitiges Aus für das Merkel/Rösler-Kabinett ist nicht vom Tisch – so instabil und von raschen Wandlungen geprägt erweist sich die heutige Situation. Ob es doch zu vorgezogenen Wahlen oder sogar zu einer neuen Regierungskoalition im Bundestag und erst später zu Neuwahlen kommt, steht und fällt maßgeblich mit der weiteren ökonomischen Entwicklung.
BRD-Wirtschaft: Krise? Was für eine Krise?
Zwar übertrifft die deutsche Wirtschaft – im Gegensatz zu vielen anderen Ökonomien – inzwischen ihr Vor-Krisen-Niveau, allerdings ist die Investitionstätigkeit auch hier weiterhin niedriger als vor 2009. Überhaupt bleibt das Wachstum der BRD-Wirtschaft schwach. Die Arbeitslosigkeit beläuft sich zwar nur auf die Hälfte des Schnitts von dem in den Euro-Ländern, die Kehrseite ist jedoch ein dramatischer Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse.
Da die Exportabhängigkeit seit der Rezession sogar noch gewachsen ist, kann sich die deutsche Wirtschaft nicht vom Verlauf der Euro- und der Weltwirtschaft abkoppeln. Kein Wunder, dass es auch hierzulande im Winterhalbjahr zu einer Stagnation kam. Wie angespannt die Lage bleibt, zeigen die von Januar bis April um fünf Prozent schrumpfenden Absatzzahlen in der Autoindustrie – und der starke Rückgang des ifo-Geschäftsklimaindex im Mai.
Während die Produktion von Flensburg bis Konstanz längerfristig von den internationalen Prozessen negativ betroffen sein wird, kann Deutschland aber kurzfristig vom schwachen Euro profitieren. Abgesehen von den verbilligten Ausfuhren nach Übersee beginnen die ungewöhnlich niedrigen Zinsen, die Hypotheken begünstigen, einen Immobilienboom zu befeuern. Dazu kommt, dass ein Haus oder eine Wohnung als krisensichere Anlageform gilt. Das „Wall Street Journal“ sieht schon erste „Anzeichen eines Überschäumens“. Nach Preissteigerungen von höchstens zwei Prozent jährlich seit 1975 gingen die Immobilienpreise letztes Jahr um fünf Prozent in die Höhe, Tendenz steigend.
Euro-Zone weiter im „Krisenmodus“
Bei allen Turbulenzen im Euro-Raum darf man den Rest der Weltwirtschaft nicht aus den Augen verlieren. Mittels größerer Ankurbelungsmaßnahmen konnte zwar die US-Ökonomie erst mal stabilisiert werden, dafür schwächt sich das Wachstum in China, Brasilien und anderen sogenannten Schwellenstaaten – trotz mehrerer Zinssenkungen – gefährlich ab; auch weil ihre Währungen im Zuge des schwachen Euro teurer werden.
Überhaupt ist die Krise längst nicht vorbei: Abgesehen von 1945 war die Schuldenlast der Staaten nie so beträchtlich wie heute. Gleichzeitig haben die Großkonzerne gigantische Kapitalmengen auf der hohen Kante, für die sie keine Verwendung finden: allein in den USA zwei Billionen Dollar. Obwohl sich etliche Kapitalbesitzer in den letzten Jahren auf den Finanzmärkten die Finger verbrannt haben, wird – auch ermuntert durch Niedrigstzinsen und Liquiditätshilfen der Zentralbanken – wieder kräftig spekuliert; so setzte die größte US-Bank JP Morgan gerade vier Milliarden Dollar in den Sand.
Unmittelbar ist es aber weiter die europäische Gemeinschaftswährung, die den Kapitalisten am meisten Schweiß auf die Stirn treibt. Aus gutem Grund. Nachdem die eine Billion Euro starke Beruhigungspille der EZB (im Dezember und Februar extrem günstig verliehene Gelder an die Banken) aufgebraucht ist, bleiben nicht nur die südeuropäischen Staaten „im Krisenmodus“ (FAZ vom 21. Mai), auch Teile der sogenannten Kernunion geraten in den Fokus: So wird in Bezug auf die Niederlande nach dem Scheitern ihrer Regierung ein Ende ihrer Top-Bonität erwartet. Gleichzeitig halten die Probleme in Ländern wie Spanien nach wie vor an: Über die Hälfte der 320 Milliarden Euro Immobiliendarlehen werden inzwischen als faule Kredite eingeschätzt. Und zu alledem das Pulverfass Griechenland. „Das Problem Griechenland könnte der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt – oder eher zum Explodieren, denn es handelt sich um einen Tropfen Nitroglyzerin …“ (schrieb die französische Zeitung L’Alsace am 19. Mai).
Wachsen und sparen, bremsen und beschleunigen
Der russische Revolutionär Wladimir Lenin sprach einmal davon, dass die Bürgerlichen nicht groß anfangen nachzudenken, wenn sie am Rande des Abgrunds stehen. In der Tat zeigen sie sich im Hinblick auf Griechenland kopflos. Generell agieren sie international seit Beginn des Einbruchs nicht mehr, sondern reagieren bloß noch. Begannen sie vor fünf Jahren damit, panikartig Unsummen in Rettungsprogramme zu stecken, so stellten sie vor zwei Jahren – konfrontiert mit den exorbitant angestiegenen Staatsdefiziten – die Weichen auf Austerität. Da sie auf diese Weise den ohnehin extrem kümmerlichen Konjunkturmotor wieder abzuwürgen drohten, gleichzeitig aber die Schuldenmisere eindämmen wollten, drehten die Zentralbanken weltweit den Geldhahn auf. Aber mit diesen Maßnahmen, die unter bürgerlichen Ökonomen auch „Finanzrepression“ genannt werden, tun sich neue Schwierigkeiten auf: Die Zinssätze lassen sich kaum noch senken, Spekulation bekommt neue Nahrung, zu einem späteren Zeitpunkt könnte dadurch die Inflation angeheizt werden. Deshalb plädiert der Keynesianer Paul Krugman in seinem neuen Buch „Vergesst die Krise! – Warum wir jetzt Geld ausgeben müssen“ wenig überraschend für umfassende Konjunkturhilfen.
Auf dem informellen Brüsseler Gipfel am 24. Mai gerieten Merkel und Hollande heftig aneinander. Hollande (international übrigens unterstützt von US-Präsident Barack Obama, der um seine Wiederwahl bangt) fordert „Wachstumsimpulse“. Die Bundeskanzlerin verweist hingegen darauf, dass die Schulden der (Euro-)Staaten aus dem Ruder laufen. Da die Kapitalisten indes auf eine Verbesserung ihrer Konkurrenzsituation aus sind, reden sie fast unisono „Strukturreformen“ das Wort.
Als die G8-Regierenden sich Mitte Mai im US-amerikanischen Camp David trafen, beschlossen sie eine Erklärung, die zu einer Kombination von Wachstums- und Sparpolitik rät. Das gleicht dem Versuch, sich bei einer Talfahrt in einem ramponierten Wagen dafür zu entscheiden, im fünften Gang auf das Gaspedal zu treten, und einen Augenblick später den Fuß auf die Bremse zu legen.
Noch stehen die Zeichen auf Sparen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass tatsächlich zu neuen Konjunkturmaßnahmen gegriffen wird. Maßgeblich wird der weitere Verlauf der Klassenkampfes sein. Momentan steht Hollande jedenfalls massiv unter Druck, da am 10. und 17. Juni in Frankreich Parlamentswahlen abgehalten werden. Mit seinen Wahlversprechen könnte er aber auch Erwartungen wecken, die ihn – möglicherweise verbunden mit wachsender Gegenwehr auf der Straße und in den Betrieben – zwingen könnten, weiterzugehen, als ihm eigentlich lieb ist.
Wann kommt der „Grexit“?
Wenn die GriechInnen bei der Parlamentswahl am 17. Juni den Auflagen der Troika erneut eine schallende Ohrfeige verpassen, dann muss Hellas die Gemeinschaftswährung aufgeben. Dann kommt der „Grexit“, so die neue Wortschöpfung, der Exit Griechenlands, der Rauswurf aus der Euro-Zone. Europaweit stoßen jetzt fast alle Kapitalisten in dieses Horn. Die Wahl soll zu einem Referendum über den Euro hochstilisiert werden. Wohl wissend, dass derzeit noch drei Viertel der GriechInnen daran festhalten möchten.
Bei all diesen Drohgebärden schwingt jedoch die Angst mit, dass die sogenannte Brandmauer doch nicht reichen könnte. Denn trotz aller gegenläufiger Beteuerungen sprechen die Kapitalmärkte eine andere Sprache: Nach der Bekanntgabe der griechischen Neuwahl büßten die Aktienkurse europaweit binnen Wochenfrist knapp zehn Prozent ein. Die Risikoaufschläge für spanische und italienische Staatsanleihen erreichten ein Zwei-Jahres-Hoch.
Die Deutsche Bank hält es deshalb für erforderlich, die Brandmauer (also den ESM) von 700 auf eine Billion Euro auszuweiten. Aber auch mit diesen Beträgen könnte man höchstens die viertgrößte Euro-Ökonomie Spanien kurzfristig auffangen; sollte Italien mit seinen beinahe zwei Billionen Euro Schulden gleichzeitig ins Schlittern geraten – weil Risikozuschläge auf die Zinsen für Staatsanleihen den Schuldendienst wie in Griechenland unfinanzierbar machen – dann reißt jedes Rettungsnetz.
Im Mai haben griechische Bankkunden in wenigen Tagen bereits 700 Millionen Euro abgehoben, da sie eine Welle von Bankenpleiten befürchten. Das kann in den nächsten Wochen noch zunehmen. Wenn der „Grexit“ akut werden sollte, gäbe es kein Halten mehr. Dann könnte aber auch ein Run auf die Banken Spaniens, Portugals und Italiens und eine weiter um sich greifende Kapitalflucht einsetzen; sogar an der Liquidität französischer Banken könnte gezweifelt werden, schließlich haben sie in Griechenland besonders viele Kohlen im Feuer. Angesichts einer solchen denkbaren Kettenreaktion hat sich die „Financial Times Deutschland“ kürzlich für eine Lockerung der Bedingungen für Hellas ausgesprochen und dies „Europas letzte Hoffnung“ genannt. Diese Haltung, also erneute Bemühungen, den Exit Griechenlands zu verhindern, könnten sich im bürgerlichen Lager nochmal durchsetzen – vorausgesetzt, ihnen bleibt dafür überhaupt die Zeit.
Dennoch hat der Keynesianer Paul Krugman recht, wenn er im SPIEGEL 21/2012 prophezeit, dass der „Grexit“ kommt: „Nichts von dem, was derzeit diskutiert wird, hat eine Chance, das Desaster wieder in Ordnung zu bringen.“ Jedenfalls nichts, was seitens der Bürgerlichen diskutiert wird. So ist es auch nicht überraschend, dass schon ernsthaft Vorbereitungen für den Tag X getroffen werden und zum Beispiel über eine „Parallelwährung“ nachgesonnen wird. Selbst wenn eine Eskalation vereitelt werden sollte, wäre der Rauswurf Griechenlands der Anfang vom Ende der Euro-Zone – da die miteinander in Konkurrenz stehenden Nationalstaaten trotz aller Beteuerungen keine politische Union realisieren können, die Schulden zu gewaltig sind und ArbeiterInnen und Jugendliche auf Dauer nicht bereit sein werden, diese drakonischen Kürzungsmaßnahmen zu schlucken.
Schon jetzt zeichnen sich Bruchstellen in der französisch-deutschen Achse ab. Bezeichnenderweise schrieb die „Financial Times“ in London am 7. Mai, dass „eine offene Spaltung zwischen Frankreich und Deutschland schwerwiegende europaweite Probleme auslösen würde“, die nicht nur die Zukunft der Gemeinschaftswährung, sondern auch der EU in Frage stellen könnten.
Krise, Kürzungen, Sparpaket
Die Kosten für Deutschland im Fall eines Ausscheidens von Griechenland aus dem Euro werden aktuell auf mindestens 86 Milliarden Euro beziffert. Selbst wenn Spanien, Portugal und Italien erst einmal gehalten werden sollten, wächst auch hier der Finanzbedarf (gemeinsam mit Griechenland haben die Banken Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens in diese abfällig „PIGS“ genannten Staaten über eine Billion Euro verliehen …). Der ESM, der zusammen mit dem Fiskalpakt vor der Sommerpause, vielleicht aber auch erst im Herbst den Bundestag passieren soll, beinhaltet für die Bundesrepublik Barbeträge in Höhe von 22 Milliarden und Kredite von 168 Milliarden Euro. Verbunden mit – aufgrund der ungelösten Krisenherde der Weltwirtschaft – früher oder später einbrechenden Steuereinnahmen und neuerlichen Rettungspaketen für Unternehmen hierzulande stehen Kürzungsprogramme beziehungsweise ein neues Sparpaket an. Das könnte die Gewerkschaftsführung unter Druck setzen, auch hier größere öffentliche Aktionen zu organisieren. Intern ist bereits von der Planung von „Herbstprotesten“ die Rede.
Parallel dazu könnte es bei einem Konjunktureinbruch in vielen Betrieben hoch her gehen. Schon jetzt wird zum Beispiel in der Autoindustrie auf Rationalisierung gesetzt. Es ist zu befürchten, dass ein wiederholter Abschwung, vielleicht kombiniert mit einer sich überschlagenden Euro-Krise, nicht einfach zu einer Neuauflage von Kurzarbeit und Flexkonten, sondern zu Entlassungen und Werksschließungen führt. Schon in den letzten Monaten waren wir Zeuge der Stellenstreichungen bei Schlecker oder Nokia Siemens Networks. Bei Opel rückt die öffentliche Bekanntgabe der Schließung des Bochumer Werks immer näher. Bekanntlich soll der Astra nur noch in Polen und England gebaut werden. Um den Sitz der Europa-Zentrale wieder auszulasten, soll der Zafira nicht mehr in Bochum, sondern in Rüsselsheim vom Band gehen. Das wird bestimmt nicht „ohne Lärm“ (FAZ vom 18. Mai) abgehen.
Diese Aussichten stellen auch wichtige Herausforderungen für die Linkspartei dar. Sollten die Rechten um das „Forum Demokratischer Sozialismus“ (fds) in der Parteiführung und im Apparat nicht die Oberhand gewinnen, der auf Personalfragen fixierte innerparteiliche Streit wieder abebben und die Orientierung auf außerparlamentarische Kämpfe verstärkt werden, dann könnte DIE LINKE bei einer veränderten objektiven Lage noch mal größeren Auftrieb bekommen. Der wesentliche Test für die Partei besteht aber darin, ob sie – wie die etablierten Parteien – die sogenannten Sachzwänge des Systems für gegeben nimmt oder ob sie klare Alternativen zur Krise des Kapitalismus vorbringt.
Zustände wie in den neokolonialen Ländern kommen heute nach Südeuropa (plötzlich wandern nicht mehr Menschen aus Mosambique in die einstige Kolonialmacht aus, sondern mehr PortugiesInnen kehren nach Afrika zurück). Zustände wie in Südeuropa kommen nach Zentral- und Nordeuropa und damit auch nach Deutschland.
Schon heute beziehen 70 Prozent der Arbeitslosen in der Bundesrepublik ein Einkommen unterhalb der Armutsschwelle. Sieben Prozent der Beschäftigten gehören zu den „Working Poor“ (laut einer im Mai 2012 veröffentlichten neuen Studie der Hans-Böckler-Stiftung). Das sind die ersten erschreckenden Warnzeichen. Auf Basis des Profitsystems werden Elend und Verzweiflung auch im reichsten Land Europas enorm zunehmen.