„Studierende streiken seit mehr als 110 Tagen.“
von Joshua Koritz, zuerst veröffentlicht in der „Justice“, Zeitung der „Socialist Alternative“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in den USA)
Joshua Koritz reiste nach Montreal, Quebec, um aus erster Hand von den Protesten der Studierenden zu erfahren und darüber für die „Justice“ zu berichten. An dieser Stelle geben wir das Interview mit Julien Daigneault wieder, der Mitglied der „Alternative Socialiste“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Quebec) ist. Es geht darin natürlich um den Kampf der Studierenden aber auch um die politischen Ziele und Perspektiven.
Julien, erzähle uns von der Studierendenbewegung in Quebec. Warum kämpfen die Studis?
Seit mehr als 110 Tagen streiken die Studierenden jetzt schon. Die drei wichtigsten Studierenden-Vereinigungen haben alle und auf der gemeinsamen Grundlage, gegen die Anhebung der Studiengebühren zu sein, in Quebec mit dem Streik begonnen. Das ist das erste Mal seit über zehn Jahren, dass alle drei Vereinigungen zusammen kämpfen. Dies ist der Hauptbestandteil für die Einheit und Stärke der Bewegung.
Die grundlegende Forderung lautet: Die Studierenden werden keine wie auch immer geartete Anhebung der Studiengebühren hinnehmen. Die letzte Anhebung der Studiengebühren, die 2007 beschlossen wurde, ist immer noch in der Umsetzung begriffen und sollte eigentlich bis 2013 laufen. Die Regierung will die Gebühren zusätzlich zu diesen Steigerung in 2012 noch einmal um 75 Prozent anheben.
Die Leute sind wütend, weil sie ein öffentliches Bildungssystem wollen, das man sich leisten kann. Und sie sind bereit dafür zu kämpfen, dass sich jede und jeder dieses Bildungssystem leisten kann. Sie wollen kein Geld haben, um davon dann ein separates Bildungssystem für die Reichen und ein weiteres für die Armen einzurichten.
Ein breit angelegtes Bündnis, das anlässlich dieses Streiks ins Leben gerufen wurde, nennt sich „CLASSE“. „CLASSE“ fordert die Rücknahme der Gebührenanhebung von 2007 und strebt letztlich die gebührenfreie Bildung an. Unterdessen kämpfen die konservativeren Verbände FEUQ („Fédération étudiante universitaire du Québec“) und FECQ („Fédération étudiante collégiale du Québec“) nicht für die Rücknahme vergangener Gebührenanhebungen.
Während der letzten Kämpfe der Studierenden gegen die Anhebung von Studiengebühren in den Jahren 2005 und 2007 war die Regierung erfolgreich damit, die Bewegung zu spalten. Das gelang ihnen, indem sie das aggressive Verhalten der einzelnen Studierenden-Vereinigungen untereinander und auf Landesebene ausnutzen konnten. So schaffte es die Regierung, von der FEUQ und der FECQ Zugeständnisse abzuringen.
Wie und warum konnte es die Bewegung schaffen, so lange durchzuhalten?
Erst die Einheit der Bündnisse hat dies möglich gemacht. „CLASSE“ hat Zusammenhänge zwischen diesem Kampf und den anderen sogenannten Sparmaßnahmen der „Parti Libéral du Québec“ (PLQ) von Premierminister Charest hergestellt, welche die Regierung stellt und reichlich unbeliebt ist. Die Regierung Charest hat sich vollkommen kompromisslos gezeigt und lehnt jede Art von Zugeständnis ab.
Das Beispiel des Studierendenstreiks von 2005, der bis zu dem jetzigen von 2012 noch der größte Studentenprotest in der Geschichte Quebecs und in Teilen auch erfolgreich war, offenbarte die Stärke, die Studierende haben können, wenn sie Streikmaßnahmen ergreifen. Angesichts der Unnachgiebigkeit der Regierung ist der Kampf das einzige vorhandene Mittel, das wir haben.
Bei Verhandlungen mit der Regierung wurde vier oder fünf Mal versucht, zu einer Lösung zu kommen. Alle diese Versuche sind gescheitert. Das taktische Vorgehen der Regierung bei den Verhandlungstreffen hat nur dazu geführt, dass die Studierenden energiegeladener geworden sind und enger zusammenrückten. Die Regierung versuchte die Bewegung zu spalten und FEUQ wie FECQ zu Kompromissen zu bringen, indem sie Zugeständnisse hinsichtlich ihrer Forderungen anbot. Dabei ging es um Forderungen in Zusammenhang mit den Hochschulleitungen, die die Regierung zynischer Weise dafür nutzen wollte, um die Verwaltungen mit Vertretern der Wirtschaft zu besetzen, um die Bildungslandschaft so noch weiter zu ökonomisieren.
Welchen Einfluss hatte das Gesetz „Law 78“ auf die Bewegung?
Das Gesetz „Law 78“ ist eine Reaktion der Regierung auf die fortwährenden Demonstrationen und den anhaltenden Druck u.a. durch hunderte von Demonstrationen und Aktionen. Dieses Gesetz verbietet es Menschen andere „Menschen davon abzuhalten, an Vorlesungen und Seminaren teilzunehmen“. Wenn man also an einem Streikposten teilnimmt oder demonstriert, und dies eine Person daran hindert, zu einer Hochschulveranstaltung zu gelangen, dann wird man mit einer Strafe in Höhe von mehreren tausend Dollar belegt. Für Gewerkschaften und offizielle Amtsträger belaufen sich die entsprechenden Strafen auf mehrere hunderttausend Dollar.
Momentan benutzt die Regierung das Gesetz „Law 78“ im Versuch die Demonstrationen zu brechen und die Leute zu schikanieren. Die Entstehung der „Casserolen-Bewegung“ bedeutet für die Regierung eine sehr konkrete Herausforderung dabei, dieses Gesetz auch wirklich durchsetzen zu können. Seit 40 Tagen am Stück ziehen jede Nacht um 20 Uhr Menschen auf die Straßen, um sich Demonstrationszügen anzuschließen und sich dabei lautstark mit Töpfen und Pfannen bemerkbar zu machen.
Mit dem Gesetz „Law 78“ wurde das Wintersemester beendet und führte de facto zu einer Art von Aussperrung. Außerdem weist es die Studierenden an, sich Ende August wieder in den Lehranstalten einzufinden. Ende August wird die Regierung versuchen, die Studierenden dazu zu zwingen in die Vorlesungen zurückzukehren. Doch die Studierenden werden dies nicht tun.
Welche Haltung nehmen die gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen ein?
Von Anfang an haben alle wesentlichen Gewerkschaften den Studierendenstreik unterstützt und Position bezogen gegen die Gebührenanhebung. Die FTQ (Fédération des travailleurs et travailleuses du Québec), die größte Gewerkschaft in Quebec, steht sogar für kostenlose Bildung.
„CLASSE“ ihrerseits unternimmt ständig Versuche, um den Kampf auszuweiten. Am 14. April wurde die erste Demonstration unter dem Motto „Dies ist ein Streik der Studierenden und ein Kampf der Bevölkerung“ organisiert. Diese Strategie funktionierte und führte zu gewaltigen Kundgebungen zusammen mit den Gewerkschaften.
Zu Beginn des Streiks unterstützten die Gewerkschaften die Studierenden lediglich finanziell und logistisch. Auf dem 14. April aufbauend wurden weitere Demonstrationen organisiert wie z.B. die am 22. Mai, die zur größten Manifestation wurde, die es jemals in Quebec gegeben hat. Dennoch gaben die Gewerkschaften eher moralische und weniger handfeste Unterstützung für den Kampf durch hilfreiche Mobilisierung.
Das Gesetz „Law 78“ führt allerdings dazu, dass sich die Situation ein wenig zu verändern beginnt. Die Debatte rund ums Thema Generalstreik ist dadurch zurückgekehrt in die Arbeiterbewegung. Zwar hegten die ArbeiterInnen Sympathien für die Studierenden, sie betrachteten den Kampf aber nicht als den ihrigen. Jetzt, mit dem Gesetz „Law 78“, wird dieser Kampf mehr und mehr und jeden Tag stärker auch zu ihrem Kampf. Bisher kann man aber noch nicht von einem organischen und gemeinsamen Kampf von Studierenden und ArbeiterInnen sprechen.
Wie verhält sich „Québec Solidaire“ (QS) gegenüber der Bewegung?
In Quebec gibt es keine Partei der Arbeiterklasse. Es existiert keine Partei der Gewerkschaften. „Alternative Socialiste“ tritt dafür ein, dass „Québec Solidaire“ Schritte ergreifen sollte, um eine Partei der und für die arbeitenden Menschen zu werden. Diese Allianz ist bereits eine linke Herausforderung für die Parteien, die die sogenannten Sparprogramme unterstützen, und stellt einen Abgeordneten im Regionalparlament Quebec.
Innerhalb der sozialen Bewegung befürchtet man, von eine politischen Partei vereinnahmt zu werden. Das ist ein Hinweis auf den anarchistischen Einfluss auf die Bewegung. Sie wollen mit der politischen Sphäre nichts zu tun haben und glauben stattdessen, dass „die Macht auf der Straße liegt“ – das war´s. Sie beschränken sich somit selbst auf diese Rolle und das genügt ihnen.
QS verhält sich nach derselben Logik. Man will die Bewegung nicht vereinnahmen. In Wirklichkeit wollen sie sich nicht erneuern und geben der Bewegung lediglich gewissen Rückhalt. Der Wille, aktiv für sich zu werben oder die QS als politische Option für die Studierendenbewegung anzubieten, besteht nicht.
Es ist einfach irrwitzig, dass in dieser Koalition gegen die Kürzungsmaßnahmen, die aus mehr als 100 Vereinigungen besteht, die meisten WortführerInnen Mitglieder der QS sind, bisher aber alle dafür eintreten, dass die Bewegung nicht mit einer politischen Partei in Verbindung stehen sollte. – Dabei besteht diese Verbindung doch schon längst!
Welche Taktik und welche Strategie muss her, damit die Studierenden gewinnen können?
Im August müssen die Studierenden sich weigern, in die Vorlesungen und Seminare zurückzukehren, und sie müssen weiter Massendemonstrationen organisieren, in die auch die breitere Gewerkschaftsbewegung mit einzubeziehen ist.
Ein Generalstreik sollte organisiert werden, um die Machtfrage zu stellen und auf den Tisch zu bringen wer legitimiert ist, die Macht auszuüben. Das könnte die Regierung zu Fall bringen und Neuwahlen erzwingen, die auch als Referendum über die Anhebung der Studiengebühren angesehen werden würden.
Es muss alles getan werden um klarzustellen, dass wir diese Regierung loswerden müssen. Das wird natürlich zu der Frage führen, welche Partei die nächste Regierung anführen soll. Nur „Québec Solidaire“ steht geschlossen gegen die sogenannten Sparpakete und sollte sich selbst als die politische Kraft präsentieren, die zu unserer Stimme im Parlament werden kann.