Eine ältere Frau wurde von Sondereinheiten zertrampelt. Aus der Strafkolonie sind Schreie wie „Wir werden umgebracht“ zu hören
Der Folgende Text erschien am 20.09.12 auf Russisch auf Vadim Kuramshins Blog. Vadim Kuramshin ist Anwalt für Menschen- und Arbeiterrechte und saß bis vor Kurzem selbst in Kasachstan im Gefängnis. Seine Freilassung war maßgeblich ein Erfolg der internationalen Solidaritätskampagne Campaign Kazakhstan.
Gestern begann in der Stadt Karabas, 40 Autominuten von Karaganda, in der Strafkolonie AK 159/18 eine Militäroperation. Augenzeugenberichten zufolge, darunter Angehörige der Gefangenen, wurden 400 Soldaten und bis zu 200 Mitglieder von Sondereinheiten ins Lager geführt. Zu welcher Einheit die Sondereinheiten gehören, ist nicht bekannt. Die Ereignisse in der Kolonie entwickelten sich wie folgt: Am 18.09.12 wurde eine „Inventur“, also eine allgemeine Durchsuchung aller persönlichen Gegenstände der Gefangenen sowie der Gemeinschafts- und Arbeitsräume, durchgeführt. Anders gesagt: Das Lager wurde komplett durchwühlt. Gleich früh am morgen wurden sämtliche Gefangenen auf den Mittelplatz geschickt, wo sie bis zum Abendessen hocken mussten.
Bei der Durchsuchung wurden verbotene Gegenstände gefunden und „sichergestellt“. Es kam zu keinerlei Ausschreitungen während dieser Vorgänge. Letzteres ist insofern von Bedeutung, als in allen Fällen, in denen Gefangene gefoltert oder getötet werden, die Behörden das auf widerständisches Verhalten abzuschieben versuchen. Ich bestätige hier: Es kam zu keinerlei Widerstand bei der Abnahme der verbotenen Gegenstände. Mehr noch: Niemand von klarem Verstand würde beim Fund verbotener Gegenstände in seinen Sachen auch nur Beschwerde einreichen wollen.
Am nächsten Tag setzten die Behörden die Gefangenen weiter unter Druck. Forderungen nach illegalen „Sektionen zur Erhaltung der Ordnung“, einer Art Straflagerpolizei, bestehend aus Gefangenen, wurden erneut erhoben. Mindestens drei Gefangene begannen, sich aus Protest Schnittverletzungen zuzufügen.
Der stellvertretende Vorsitzende des Justizministeriums, Achmetov, ruft weitere Einheiten und Sondereinheiten nach Karabas. Zugleich werden Angehörige der Gefangenen aus dem Besuchsraum vertrieben und es wird unerwartet eine „Quarantäne“ für aus der Ferne angereiste Ehefrauen und Mütter von Gefangenen verhängt.
Die Information verbreitet sich in ganz Kasachstan. Angehörige, die von der Schließung des Lagers erfahren, rufen massenweise im Justizministerium in Astana an, wo die „Quarantäne“ verleugnet und stattdessen behauptet wird, Angehörige könnten das Lager jederzeit verlassen.
Gleichzeitig verbietet die Straflagerverwaltung Angehörigen, deren Besuchszeit ansteht, den Eintritt und berufen sich auf die… Quarantäne im Lager. So auch gegenüber Daria Prutko, Ehefrau eines Gefangenen, die einen Nervenzusammenbruch erlitt. „Militärs sind in die Straflagerzone eingeführt worden, mein Mann wird jetzt umgebracht werden, und wofür? Was hat er gemacht? Er wurde bestraft, vor Gericht gestellt, der Freiheit beraubt. Aber wozu diese Grausamkeit? Wer kann das wollen? Und was geschieht überhaupt? Auf welcher Grundlage wird mein Besuch verweigert?“ fragt Daria. Zur Klärung: Eine Quarantäne erfolgt üblicherweise nur auf Grundlage einer klaren Ursache: Krankheit, Naturkatastrophen, Aufstände.
„Als wir uns der Straflagerzone näherten, war sie von der Verkehrspolizei umzingelt. Wir haben versucht, herauszufinden was passiert. Als wir den Oberst fragten, rief er uns nur „Quarantäne“ entgegen und lief weg! Um etwa 10 Uhr morgens wurden die Militärs in die Zone geführt. Wir waren schockiert. Sie marschierten wie richtige Faschisten ein. Wir baten sie, flehten sie an, uns zu erklären, was geschieht. Eine ältere Frau, Sophia Artemovna Shmatchkova, Jahrgang 1939, ist unter die Räder gekommen. Sie wurde einfach von dieser Maskerade niedergetrampelt.
In Astana wird, wie in solchen Situationen üblich geworden, die Einführung der Quarantäne bestritten. Das Justizministerium gibt unter der Nummer 87172723065 die gegenteilige Information heraus. Allerdings ist es den Angehörigen bislang nicht gelungen, einen Namen des bestätigenden Mitarbeiters oder eine Schätzung zur Zahl der Folteropfer zu erfahren.
Wie viele Opfer jene Hölle heute haben wird, kann ich nicht sagen. Aber das Schrecklichste ist, dass Säuberungen wie diese mittlerweile nicht mehr als Säuberungen gelten. Sie sind Alltag in kasachischen Gefängnissen. Praktisch wöchentlich, und manchmal täglich, treffen solche Nachrichten ein, und üblicherweise gehen sie mit Meldungen von Toten in den Straflagern einher.
Der Name Talgat Achmetov (der stellvertretende Justizminister, der den Einsatz des Militärs anwies) ist für die Gefangenen eine Art Vorbote des Todes. So war es auch im Fall von Shamil Yaroslavlev. Ebenjener Achmetov versprach Shamil kurz vor seinem Tod einen leidvollen und grausamen Tod. Wie er umgebracht wurde, kann anhand des Fotos von seiner entstellten Leiche unter diesem Link nachempfunden werden: http://www.kuramshyn.org/blog/2011-11-06-70
Nachtrag: Soeben wurde ich von der Versammlung von Angehörigen vor den Toren des Lagers angerufen. Das Eingreifen des Militärs im Lager hat begonnen. Die Gefangenen schreien „Wir werden umgebracht“. Die Polizei draußen vor dem Lager versucht, die wahnsinnigen Schreie mit lauter, fröhlicher Musik zu überdecken. Augenzeugen zufolge erinnert die Aktion an die Säuberungsaktionen der Faschisten im zweiten Weltkrieg.
Die Angehörigen laufen Sturm gegen das Gefängnis. Zig Mütter, Ehefrauen und Schwestern der Gefolterten brechen die Türen auf. Die Spezialeinheiten sind ratlos. Diejenigen, die mit mir in Kontakt stehen, werden nicht reingelassen.