In Mexiko hat sich eine neue politische Kraft gebildet
Im November dieses Jahres ist das Parteienspektrum Mexikos um eine neue politische Kraft gewachsen, die «Bewegung für nationale Erneuerung» (MORENA). Diese sieht sich als Alternative zu den etablierten Parteien und als Sammelbecken für linke und soziale Bewegungen. Als Folge aus der Wahlniederlage der Linken bei den Präsidentschaftswahlen des 1. Juli 2012, aus der mit Enrique Peña Nieto nach 12 Jahren wieder ein Mitglied der alten Staatspartei PRI (Partei der Institutionellen Revolution) an der Spitze des Staates steht, gründete der Kandidat der PRD (Partei der demokratischen Revolution), López Obrador, MORENA.
von Frederic Schnatterer, Mexiko-City
Begleitet von massiven Protesten, die von gewalttätigen Auseinandersetzungen der DemonstrantInnen mit der Polizei und einer enormen Repression überschattet wurden, übernahm Enrique Peña Nieto am 1. Dezember das Amt des mexikanischen Präsidenten. Nach zwölf Jahren wird das lateinamerikanische Land nun wieder von der ehemaligen Staatspartei PRI geführt, einer autoritären und konservativen Partei, die das Land über 71 Jahre hinweg regierte. Nicht erst zum Amtsantritt, sondern schon vor der offiziellen Amtsübernahme erlebte Mexiko einen starken Anstieg des Widerstands.
So formierte sich bereits während des Wahlkampfs Widerstand gegen den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten der PRI sowie der PVEM (Grüne ökologische Partei Mexikos). Nach einer Rede Peña Nietos an der «Iberoamerikanischen Universität» in Mexiko-Stadt wurde die Bewegung #Yosoy132 ins Leben gerufen. Der Name bezieht sich auf die 131 StudentInnen, die sich während besagter Rede gegen den Kandidaten positioniert hatten. In den folgenden Monaten kam es in ganz Mexiko zu Massendemonstrationen mit teilweise über hunderttausend TeilnehmerInnen, die sich gegen die autoritäre Führung Peña Nietos des Bundestaat Mexiko sowie die klare Einflussnahme der wichtigsten Fernsehsender des Landes Televisa und TV Azteca auf die Meinungsbildung aussprachen.
Die so entstandene Massenbewegung spiegelte sich auch in den Meinungsumfragen wider, in denen Andrés Manuel López Obrador, Kandidat der PRD (Partei der demokratischen Revolution), immer mehr an Zuspruch gewann und bei den Wahlen schlussendlich auf dem zweiten Platz hinter Peña Nieto landete. Trotz des offiziellen Sieges der PRI und der späteren Bestätigung der vermeintlichen Rechtmäßigkeit durch ein Gericht hielt und hält der Protest gegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl am 1. Juli an und große Teile der mexikanischen Bevölkerung gehen auch weiterhin von Stimmenkauf in großem Maßstab aus.
Auch darüber hinaus ist in Mexiko im vergangenen Jahr insgesamt ein Erstarken von sozialen Bewegungen zu verzeichnen. So bedeutet nicht nur das Aufkommen von #Yosoy132 ein wichtiges Ereignis für die mexikanische Linke. Auch Proteste gegen sogenannte Megaprojekte wie z.B. der geplante Bau von Staudämmen, Windkraftanlagen und die damit verbundenen Vertreibungen und Enteignungen der oftmals indigenen (und damit doppelt diskriminierten) Landbevölkerung erlebten eine Aufschwung und eine neue Dramatik in ihrem Kampf um Territorium.
Die Linke und die Arbeiterklasse Mexikos besitzen keinerlei politische Vertretung im mexikanischen Parteienspektrum. Im Jahr 2000 konnte zwar die Vorherrschaft der PRI durch den Wahlsieg Vicente Fox´ von der PAN (“Partei der nationalen Aktion”) gebrochen werden. Seine Partei führte an der Regierung jedoch den neoliberalen Kurs der Vorgängerregierungen konsequent fort und stand der RPI auch im repressiven Umgang mit den sozialen Bewegungen in nichts nach. Die 1989 gegründete PRD konzentrierte sich anfangs auf Widerstandsbewegungen und richtete sich gegen Korruption und die Alleinherrschaft der PRI. Mittlerweile stellt die Partei den Bürgermeister von Mexiko-Stadt und ist genauso angepasst und korrumpiert wie die beiden anderen großen Parteien Mexikos.
Zwar gibt es mehrere Parteien, die sich als links bezeichnen und von der mittlerweile genauso korrumpierten PT (Partei der Arbeit) bis hin zu sich sozialistisch und kommunistisch nennenden Kleinstparteien reichen. Keine von ihnen wird jedoch dem Anspruch gerecht, eine wirkliche Interessensvertretung der ArbeiterInnen und BäuerInnen des Landes gegen die neoliberalen Angriffe zu sein. Dabei ist eine solche Vertretung heute nötiger denn je, ist doch mit Peña Nieto ein eindeutig neoliberaler und autoritär regierender Präsident an die Macht gekommen. Die Ereignisse des 1. Dezember, als die Demonstrationen gegen seine Amtseinführung mit einer unglaublichen Brutalität niedergeschlagen wurden, geben einen Vorgeschmack auf das, was auf die sozialen Bewegungen in den kommenden sechs Jahren zukommen wird.
Auch die sonstige Lage Mexikos schreit nach Veränderung. Durch den von Felipe Calderón, dem Amtsvorgänger Peña Nietos, 2006 ausgerufenen Drogenkrieg und dem darauf folgenden Einsatz des Militärs im Landesinneren sind große Teile des Landes zum Schauplatz eines blutigen Krieges geworden. Schätzungen gehen von bis zu 70 000 Toten, tausenden «Verschwundenen» und 150 000 Flüchtlingen aus in den letzten sechs Jahren aus (http://www.animalpolitico.com/2012/12/operan-entre-60-y-80-carteles-en-mexico-pgr/). Laut dem Armutsbericht der Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) stieg die Armut in Mexiko in den letzten 20 Jahren um 5,6 Prozent an und liegt heute bei fast 50 Prozent der Bevölkerung, mit insgesamt 10,2 Prozent in extremer Armut Lebenden (als extrem arm gilt, wer von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag leben muss).
Auch auf dem Land schwelen zahlreiche Konflikte, bei denen sich die Bevölkerung vor allem gegen den Bau sogenannter Megaprojekte wehrt. In vielen Landesteilen befinden sich verschiedenste Staudamm-, Wasserkraftswerks- oder Windparkprojekte in Planung, die unter dem Label ökologisch und umweltfreundlich propagiert werden. Jedoch handelt es sich vielmehr um Bauvorhaben, die oftmals von multinationalen Unternehmen und im Rahmen des marktwirtschaftlichen Prinzips des maximalen Profits durchgeführt werden. Für die in den entsprechenden Gebieten lebende Bevölkerung bedeuten sie oftmals Vertreibung, Zerstörung der Lebensgrundlagen sowie der Umwelt. Die zahlreich existierenden Widerstandsbewegungen sind von starker Repression betroffen und nicht selten kommt es zu Entführungen, Morden und Einschüchterung politsch engagierter BewohnerInnen der betroffenen Regionen.
Vor diesem Hintergrund brachte die Gründung von MORENA im November einen Hoffnungsschimmer in die Parteienlandschaft Mexikos. Sie positioniert sich eindeutig links der existierenden Parteien und tritt für eine Demokratisierung der mexikanischen Gesellschaft und gegen die Auswirkungen des neoliberalen Systems ein. Somit repräsentiert sie die Hoffnungen einen großen Teils der mexikanischen Bevölkerung auf ein wirklich demokratisches System und dringend notwendige soziale Reformen.
Bis zum 18. Januar 2013 wird sich MORENA als offizielle Partei in das Wahlregister Mexikos eintragen lassen, wodurch sie in den nächsten sechs Jahren an den verschiedenen Wahlen teilnehmen kann. Insgesamt stellt sie sich jedoch eindeutig als eine bewegungsorientierte Partei dar. Paco Ignacio Taibo II, bekannter Schriftsteller und Kultursekretär des neugewählten geschäftsführenden Vorstands von MORENA, stellt die innerparteiliche Debatte um die Ausrichtung der Partei wie folgt dar: «Innerhalb von MORENA gibt es durchaus zwei grundsätzliche Positionen. Die eine vertritt Andrés Manuel López Obrador. Er hat sich damit durchgesetzt, daß wir uns als Partei einschreiben und bei Wahlen antreten werden. […] in allen anderen wichtigen Fragen konnte sich die Basis mit einer überwältigenden Mehrheit für die Eigenschaften einer Bewegungspartei durchsetzen.» (siehe: http://www.jungewelt.de/2012/12-14/044.php)
MORENA hat entschieden, dass gewählte ParteifunktionärInnen keine Gehälter bekommen sollen. In der Partei anfallende Aufgaben sollen von allen Mitgliedern übernommen und nur wirklich notwendige Ausgaben wie Busfahrkarten etc. von der Partei bezahlt werden. Ziel hiervon ist es, einer Korrumpierung der ´Parteioberen´ und einer Entfremdung von den unteren Schichten der Gesellschaft entgegen zu wirken. Das klingt erst einmal sehr gut und wichtig. Eine Schwachstelle hat dieser Kurs von MORENA jedoch. Vor allem Leute mit unabhängigen Einkommen wie im Mittelstand werden so einen Platz in der Partei finden können. Aber auch ist ungeklärt, was mit denjenigen Parteimitgliedern passiert, die als Abgeordnete in die Parlamente gewählt werden? Hierauf hat die Partei noch keine Antwort, so dass zu befürchten ist, dass gewählte Parteimitglieder sich doch persönlich bereichern werden und sich somit von den Interessen der Arbeiterklasse sowie den einfachen Schichten entfernen werden. Nötig wäre eine Gehaltsobergrenze von einem durchschnittlichen Facharbeiterlohn, zu der sich zum Beispiel der Abgeordnete des Europaparlaments der Socialist Party (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Irland) Paul Murphy verpflichtet hat.
Programmatisch gesehen stellt sich MORENA in erster Linie gegen die Auswirkungen des neoliberalen Modells auf den Lebensstandart der mexikanischen Bevölkerung. Dabei werden die sozialen Probleme des Landes als Folgen einer typisch mexikanischen Spielart des Neoliberalismus verstanden. Dieser sei geprägt durch eine systeminterne Korruption und daraus resultierende Verschwendung öffentlicher Gelder, welche wiederrum zu Armut führe. Diese verkürzte Analyse des Wirtschaftsmodells führt dann leider auch zu solchen Aussagen, wie sie Paco Ignacio Taibo II, der zum linken Flügel der neuen Partei zu zählen ist, im Interview mit der Jungen Welt machte: «Wenn wir den Kapitalismus entkorrumpieren, wären wir in Mexiko bereits einen großen Schritt weiter.» (siehe: http://www.jungewelt.de/2012/12-14/044.php)
MORENA lehnt also keineswegs die Marktwirtschaft als solche ab, sondern möchte den Kapitalismus zuerst einmal ´bändigen´. Zwar werden «Volksmacht», mehr «soziales Eigentum» und der Aufbau von unabhängigen KonsumentInnenkooperativen gefordert. Insgesamt gehen diese Forderungen jedoch nicht in eine weitergehende Kritik am Kapitalismus über. Vielmehr spricht das Parteiprogramm von MORENA von einer «Multiklassenpartei» und ignoriert somit völlig die bestehenden Klassengegensätze in der mexikanischen Gesellschaft.
MORENA definiert sich weder als antikapitalistische und erst recht nicht als sozialistische Partei. Ihr fehlt eine klare Analyse der Klassengesellschaft Mexikos sowie der daraus zu ziehenden notwendigen Schlüsse. Der Begriff Sozialismus wird mit den stalinistischen Diktaturen Osteuropas gleichgesetzt und somit direkt verworfen. Dieses Defizit an Analyse ist auch an der fehlenden internationalistischen Ausrichtung erkennbar, was sicherlich auch eine Konsequenz aus der Fehlinterpretation der Probleme der mexikanischen Gesellschaft als Folgen eines einzig in Mexiko bestehenden «korrumpierten Neoliberalismus» ist.
Zwar zeigt das neue Projekt MORENA eindeutig progressive Tendenzen, so zum Beispiel, wenn der Schwerpunkt der Parteitätigkeit auf soziale Bewegungen gelegt wird, oder versucht wird, der Korruption in den eigenen Reihen entgegen zu wirken. Mit Forderungen nach Entkorrumpierung und Demokratisierung der mexikanischen Gesellschaft drückt die Partei wichtige Wünsche der mexikanischen Bevölkerung aus. Was die verarmten und unterdrückten Schichten Mexikos jedoch brauchen, ist eine konsequent für ihre Interessen einstehende Arbeiter_innenpartei mit sozialistischem Programm, die für die Überwindung des Kapitalismus kämpft – denn der bedeutet sowohl in Mexiko als auch weltweit Armut, Krieg und Unterdrückung.