15 Prozent der niederländischen Bevölkerung sind von Armut bedroht
Dieser Artikel erschien zuerst auf englischer Sprache am 21. Dezember auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net.
von Pieter Brans, „Socialistisch Alternatief“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in den Niederlanden), Amsterdam
Die neue Regierung in den Niederlanden aus der konservativen „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie“ (VVD) und der sozialdemokratischen „Partij van de Arbeid“ (PvdA) befolgt streng die Regeln des Neoliberalismus. Zu den vor den letzten Wahlen bereits beschlossenen Kürzungen, die einen Umfang von 30 Milliarden Euro hatten und auf die sich die niederländischen Parteien mit der damaligen Regierung einigten, kommen weitere Einschnitte in Höhe von 16 Milliarden Euro durch die neue Regierung hinzu. Die Kürzungen betreffen alle Bereiche des Staatshaushalts sowie die sozialen Sicherungssysteme. Zu den Maßnahmen gehört auch, dass man die Mieten anheben und dann die öffentlichen Wohngesellschaften besteuern will. Auf diese Weise soll das Geld in die Taschen der Regierung fließen. Für die Bereiche Bildung und Gesundheit stehen schwerwiegende Einschnitte auf dem Plan. Die Menschen werden einen viel größeren Anteil für ihre medizinische Versorgung selbst zahlen müssen. 536.000 Menschen sind erwerbslos und diese Zahl steigt. Das Renteneintrittsalter wird angehoben. Für Menschen, die von der Frühverrentung Gebrauch gemacht haben, ist diese Maßnahme besonders hart. Die Einkommenslücke die dadurch zwischen ihrem einbezahlten Rentenbeitrag und dem, was sie an Rente ausgezahlt bekommen, liegt, beläuft sich auf zwei Jahre! Sie werden kein Einkommen zur Verfügung haben. Ältere Menschen, die bis zum Beginn ihrer Rentenzahlung Erwerbslosengeld beziehen, werden durch diese Maßnahme ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen.
Studierende werden keine Zuschüsse mehr bekommen, sondern müssen künftig Kredite aufnehmen, die sie dann natürlich zurück zu zahlen haben. Das Arbeitslosengeld wird auf ein Jahr begrenzt. Diese Maßnahme wurde von der VVD favorisiert und bedeutet, dass es nur noch eine Art Grundversorgung geben wird. Einige Menschen werden dadurch gezwungen sein, nach einem Jahr ihr Haus oder ihre Wohnung zu verkaufen. Selbst der niederländische Arbeitgeberverband äußerte Bedenken gegenüber dieser Neuerung!
Nun könnte man annehmen, dass es aufgrund der Schwere der Angriffe zu einer Explosion an Protesten gekommen ist. Das gab es. Allerdings kam der Protest nicht von den ArbeiterInnen, den Armen oder Erwerbslosen. Eine Sache, die die Regierung auch einführen wollte, war die einkommensabhängige Gesundheitsversicherung. Das hätte die Abgabenlast vor allem der Mittelschicht in die Höhe getrieben, weil dieses geplante Vorhaben auch einen Deckel beinhaltete und hohe Einkommen somit geschützt gewesen wären. Vor allem die Sozialdemokratie hätte diese Maßnahme gerne umgesetzt gewusst.
Doch schon kam es zum Aufstand der Mittelschicht, und die Medien übernahmen dabei die Führung. Die Presse meinte, dass die Idee von der „Solidarität“ zwar „in Ordnung“ sei, aber nur bis zu einem gewissen Punkt und dass diese Maßnahmen „zu weit“ gehen würden. Die Regierung war noch gar nicht neu gebildet, als sie schon einknickte und diese Maßnahme wieder zurücknahm. Das hat der PvdA den Maßstab vorgegeben, um sofort einen Rückzieher zu machen, wenn man den Anschein bekommt, dass die Massenmedien in Opposition zu einigen der geplanten Maßnahmen gehen. Es war also in erster Linie die Mittelschicht, die erfolgreich gegen bereits auf den Weg gebrachte Kürzungen rebellierte.
Die Gewerkschaften und die Linke
Die niederländische Arbeiterklasse braucht eine genauso entschieden agierende Führung. Doch eine Neustrukturierung des Gewerkschaftsdachverbands zielte darauf ab, die Gewerkschaften der mitregierenden sozialdemokratischen PvdA gegenüber noch unterwürfiger werden zu lassen. Und diese gewerkschaftliche Neuaufstellung war erfolgreich darin, schon die ersten zarten Triebe einer entstehenden innergewerkschaftlichen Opposition im Keim zu ersticken bzw. diese wieder auszumerzen. Der neue Vorsitzende des niederländischen Gewerkschaftsbundes, der vorher Chef der Gewerkschaft der Militärpolizei war, steht Gewehr bei Fuß, um der neuen Regierung die entsprechende Legitimation zu verschaffen, um im Gegenzug einige geringfügige Zugeständnisse zu erhalten.
Die oppositionelle „Socialistische Partij“ (SP) leidet immer noch unter ihrem enttäuschenden Wahlergebnis und verhält sich relativ ruhig. Die Parteiführung äußerte im Wahlkampf zwar, dass man darauf vorbereitet sei, an der Regierung beteiligt zu werden und auch bereit sei, Kürzungen mit zu tragen. Dies macht es nun aber umso schwieriger, die akut vorliegenden Kürzungsvorhaben anzuprangern.
Die SP erlangte bei den Wahlen von 2006 noch 25 Sitze, fiel zurück auf 15 im Jahr 2010 und schaffte es bei den Parlamentswahlen vom 12. September 2012 nur, diese zu halten. Für viele SP-WählerInnen, -Mitglieder und -SympathisantInnen war das eine herbe Enttäuschung.
Das politische Klima in den Niederlanden scheint derzeit nicht vergleichbar mit dem im übrigen Europa. Die ArbeiterInnen der südeuropäischen Länder, in Frankreich, Großbritannien und Irland sind gegen die Austeritätspolitik in den Streik getreten, die die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen in ganz Europa zu Grunde richtet.
Dennoch sind auch in den Niederlanden die Menschen es leid, immer neue Kürzungen ertragen zu müssen. Diese machen die Umstände für die arbeitenden Menschen und die Mittelschicht immer schwieriger, während die großen Bankiers unbeirrt weiter ihre Taschen voll machen. Viele Politiker werden mit einer ganzen Flut an Korruptionsskandalen in Verbindung gebracht. Auf lokaler Ebene gibt es zahllose Politiker, die sich bereichern. In einigen Branchen ist es anscheinend schon „normal“ geworden, dass man sich bei lukrativen Positionen und Fonds und Projekten mit den Politikern „austauscht“. Dies gilt vor allem für die Baubranche und die Medien. Das erste Bauernopfer derartiger Enthüllungen im Kabinett (nach nur wenigen Tagen im Amt) war ein stellvertretender Minister von der sozialdemokratischen PvdA, der seinen Hut nehmen musste, weil Korruptionsvorwürfe gegen ihn laut wurden.
Die niederländische Arbeiterbewegung wird derzeit von Konter-Reformisten und Gewerkschaftsbürokraten beherrscht, die an der Spitze stehen und im Endeffekt den Zielvorstellungen der herrschenden Klasse dienen.
Die „Socialistische Partij“ ist gespalten. Ihre Führung stimmt Kürzungen zu und strebt eine Koalition mit den Kürzungsparteien an. Die Partei kann aber nicht überleben, ohne wenigstens ein Mindestmaß an Opposition gegen die Regierungspolitik zu organisieren. Sie muss zeigen, dass sie ein Konkurrent der Sozialdemokratie ist.
Stimmung der Arbeiterklasse wird sich ändern
Mit 15 Prozent der Niederländerinnen und Niederländer, die von Armut bedroht sind, wird die jetzige Stimmung in der Arbeiterklasse nicht anhalten. Eltern sehen, dass es ihren Kindern schlechter ergeht als ihnen selbst. Junge Leute sehen, dass sie hart lernen müssen, um dann nur schlecht bezahlte Jobs zu bekommen, während an der Spitze der Gesellschaft niemand großartig zögert, sich riesige Summen in die eigene Tasche zu stecken. Viele Menschen werden zu Schlüssen wie diesen kommen: „Wenn dies die Zukunft ist, dann ist es keine Zukunft für mich!“. Die Austeritäts- und Kürzungspolitik der Koalitionsregierung bietet jeden Anlass für Protest.
Die SP und die Gewerkschaften können wieder an Boden gutmachen und Vertrauen zurückgewinnen, das sie bereits verloren haben, wenn sie für massenhafte Kämpfe gegen die Kürzungen der neuen Koalitionsregierung mobilisieren. Das erfordert aber ein sozialistisches Programm. Die SP kann wieder mehr Unterstützung von Seiten der arbeitenden Menschen, der Erwerbslosen und jungen Leute bekommen, wenn sie nicht nur gegen die Rentenkürzungen zu Felde zieht, sondern auch gegen die Auflösung des Wohlfahrtsstaats angeht. Dafür muss sie aber entschieden gegen die Kürzungen mobilisieren, indem sie klar für eine sozialistische Alternative eintritt: Arbeit für alle, für ein gut finanziertes Bildungs- und Gesundheitssystem, angemessene und bezahlbare Wohnungen, Widerstand gegen imperialistische Kriege und so weiter. Indem die Großbanken und Schlüsselindustrien in öffentliches Eigentum überführt und unter die demokratische Kontrolle und Geschäftsführung der Beschäftigten gestellt werden, können die enormen Ressourcen der Gesellschaft genutzt werden, um den Bedürfnissen der Menschen aus der Arbeiterklasse gerecht zu werden.
Wenn die Linke und die Gewerkschaften keine glaubwürdige Alternative anbieten, mit Entschlossenheit den Widerstand gegen Kürzungen anführen und an die Arbeiterklasse appellieren, einheitlich und geschlossen vorzugehen, dann kann die populistische und ausländerfeindliche Rechte ein Comeback schaffen. Und das wäre eine echte Gefahr für die Arbeiter-Einheit.