Gewerkschaftsbund UGTT und Opposition rufen Generalstreik aus
von BerichterstatterInnen des CWI („Committee for a Workers´ International“ / „Komitee für eine Arbeiterinternationale“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist)
Das CWI und seine UnterstützerInnen in Tunesien verurteilen energisch den Mordanschlag auf den linken Oppositionsführer Chokri Belaïd. Er war die Gallionsfigur des linken Flügels der Partei „Bewegung Patriotischer Demokraten“, mit starkem Einfluss auf den Gewerkschaftsbund UGTT. Außerdem war er Sprecher und führendes Mitglied der „Volksfront“, einem Linksbündnis. Chokri Belaïd war ein sehr bekannter und langjähriger Opponent gegen die Diktatur von Ben Ali, aber auch ein Rechtsanwalt, der etliche Opfer gegen politische Repressalien von Seiten des alten wie auch des aktuellen Regimes verteidigt hat. Sowohl unter der Diktatur von Bourguiba wie auch unter Ben Ali saß er in Haft.
Am Morgen des 6. Februar ist er skrupellos mit vier Kugeln in Kopf, Hals und Brust erschossen worden, als er gerade dabei war sein Haus zu verlassen. Kurz darauf erlag Chokri Belaïd im Krankenhaus seinen Verletzungen.
Bei diesem Mordanschlag handelt es sich nicht um eine Einzelaktion. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass es sich dabei um einen professionell durchgeführten politischen Mord gehandelt hat, mit dem eine Symbolfigur der Linken ausgeschaltet werden sollte. Und dies geschieht in einer Situation, die von wachsenden Spannungen und zunehmender politischer Gewalt von Seiten der staatlichen Kräfte, fundamentalistisch-salafistischer Banden wie auch Milizen gekennzeichnet ist, die in Diensten der herrschenden „Ennahda“-Partei stehen.
Vor seiner Ermordung hatte Chokri Belaïd im Radio von Morddrohungen berichtet, die er aufgrund seiner politischen Haltung vor kurzem erhalten hatte. Letzten Samstag machte er von der „Ennahda“-Partei bezahlte „Söldner“ dafür verantwortlich, einen Angriff auf ein örtliches Treffen der „Bewegung Patriotischer Demokraten“ in Le Kef verübt zu haben, bei dem elf Personen verletzt wurden. Die von der „Ennahda“ geführte Regierung betrachtete Belaïd als einen der InitiatorInnen der „sozialen Unruhen“ im Land. Bei den Versuchen, ihn mundtot zu machen, stand ihnen die Revolution und der Widerstand der Arbeiterklasse und der jungen Leute im Weg.
Als CWI haben wir nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass wir mit der politischen Ausrichtung von Chokri Belaïd und der „Bewegung Patriotischer Demokraten“ nicht übereinstimmen. Und dennoch wollen wir allen AktivistInnen seiner Organisation wie auch der Linken insgesamt und den revolutionären Menschen in Tunesien unser tief empfundenes Mitgefühl ausdrücken. Dieser kaltblütige Mord ruft unsere tief empfundene Abscheu hervor. Die schon viel zu lange Liste der tunesischen MärtyrerInnen, die im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung und für eine bessere Gesellschaft ihr Leben verloren, ist damit um einen weiteren Namen ergänzt worden.
Die überwältigende Mehrheit der Menschen in Tunesien lehnt diesen Gewaltakt ab. Unmittelbar nach Belaïds Tod ist eine Welle des Zorns durch das Land gezogen. Kurz nach Bekanntwerden der Tat protestierten schon zehntausende Menschen in Tunis, Le Kef, Gafsa, Sousse, Sfax, Sidi Bouzid und in anderen Städten. Dabei forderten sie Gerechtigkeit und den Sturz der Regierung sowie eine „neue Revolution“.
Aus einigen Gegenden kamen auch Berichte über Gewaltakte, Ausschreitungen und angezündete Büros der „Ennahda“-Partei. Natürlich können wir die Wut und Rage der Leute nachvollziehen. Wir sind aber auch der Meinung, dass der beste Weg, um diese Gefühle zu äußern, weiterhin darin besteht, auf die Mittel der organisierten Massenmobilisierung zu setzen, auf die Macht der Arbeiterklasse in Aktion und ihres mächtigen Gewerkschaftsbunds, der UGTT.
Die Errichtung kollektiver und von der Bevölkerung in den Wohngebieten demokratisch organisierter Gremien zur Verteidigung und zum Schutz kann die Exzesse der Randalierer unterbinden, helfen sich der Polizeirepression entgegen zu stellen sowie der vorhersehbaren Gewalt einiger Milizen Einhalt gebieten. In diesem Zusammenhang sollten auch Ordnerdienste eingerichtet werden, die mit der UGTT, der Erwerbslosengewerkschaft UDC und anderen Strukturen zusammenarbeiten müssen.
Für einen Generalstreik! Nieder mit dieser maroden und verrufenen Regierung!
Der beste Weg, um Chokri Belaïds Erbe gerecht zu werden, besteht darin, die Revolution entschlossener als bisher fortzusetzen, um die Unterdrückung in allen ihren Erscheinungsformen zu beenden. Letztlich kann nur die Massenmobilisierung der ArbeiterInnen der derzeitigen Gewaltspirale entgegenwirken, indem eine Lösung herbeigeführt wird, die der Bevölkerungsmehrheit von Nutzen ist.
Die Tatsache, dass Premierminister Hamadi Jebali von der „Ennahda“-Partei die Bildung einer Regierung angekündigt hat, welche aus „parteilosen Technokraten“ bestehen soll, sollte niemanden in die Irre führen. Es handelt sich dabei nur um einen weiteren Versuch, die Massen davon abzuhalten, sich für die Regierung zu entscheiden, die sie wollen. Bei besagten Technokraten würde es sich nur um handverlesenes Personal handeln, auf das deshalb die Wahl fallen würde, weil es seine Untertänigkeit zum derzeitigen System schon unter Beweis gestellt hat. Und die Tatsache, dass die Partei von Jebali seinen Vorschlag bereits abgelehnt hat, deutet darauf hin, dass die politische Krise an der Spitze des Staates ihren Höhepunkt erreicht zu haben scheint. Es ist an der Zeit, dieser bröckelnden Regierung ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Sie hat uns nur Gewalt, Arbeitslosigkeit und Leid zu bieten!
Für Freitag, den 8. Februar, hat die UGTT einen Generalstreik angekündigt. Sie greift damit die Aufrufe verschiedener oppositioneller Kräfte auf, die diese gestern, Mittwoch, gemacht haben. Darunter sind auch die „Volksfront“, die „Republikanische Partei“, „Al Massar“ und „Nidaa Tounes“, die zudem erklärt haben, sich nicht mehr an der Verfassunggebenden Nationalversammlung beteiligen zu wollen. Der Termin für den Streik wird somit mit dem Begräbnis von Belaïd zusammenfallen.
Die Tatsache, dass der Generalstreik nun zum zweiten Mal in weniger als zwei Wochen zurück auf der Agenda ist, und der letzte Generalstreik in Tunesien im Jahr 1978 stattfand, drückt an sich schon aus, dass wir es mit einer organischen Krise zu tun haben, die das Land befallen hat. Außerdem weist dies auf die Wut hin, die in der Gesellschaft herrscht und die seit Monaten schon schwelt. Dabei sind aber zwei entscheidende Hinweise wichtig.
Erstens können sich die AktivistInnen der UGTT und die ArbeiterInnen allgemein nicht auf die heuchlerischen und oft sehr spät kommenden Parolen verlassen, die von oben herausgegeben werden und eigentlich ausdrücken müssten, was zu tun ist, um dem Kampf in den nächsten Tagen eine Perspektive zu geben. Die Erfahrung, die im letzten Dezember gemacht wurde, als die landesweite Führung der UGTT willkürlich und einen Tag vorher die Absage des bereits angekündigten Generalstreiks beschlossen hatte, ist allen noch in guter Erinnerung.
Demgegenüber hat die Juristen-Gewerkschaft bereits eine Erklärung veröffentlicht, in der sie erklären, einen dreitägigen Ausstand durchzuführen. Die Gewerkschaft „La Manouba“, in der die HochschuldozentInnen organisiert sind, befindet sich schon im Streik und die Studierendengewerkschaft UGET hat heute den Generalstreik der Studierenden ausgerufen. Die lokale Untergliederung der UGTT in Jendouba hat unterdessen entschieden, für Montag, den 11. Februar, einen regionalen Generalstreik auszurufen.
Es sollten nun ohne weitere Verzögerung Vollversammlungen einberufen werden, wo immer dies möglich ist: in den Betrieben genauso wie in den Schulen, Hochschulen, Wohnvierteln etc. In deren Rahmen sollten Komitees gewählt werden, um den Kampf auf allen Ebenen selbst in die Hand zu nehmen. Auf diese Weise wäre die Bewegung abhängig vom Willen der Massen, die direkt in den Kampf einbezogen wären.
Eine Diskussion darüber, welche Initiativen ergriffen werden müssen und was nach den Streikaktionen geschehen soll, muss von unten angestoßen und demokratisch geführt werden. Das kann uns davor bewahren, dass – wie in der Vergangenheit geschehen – eine Handvoll GewerkschaftsfunktionärInnen hinter verschlossenen Türen Beschlüsse fasst oder fadenscheinige Abkommen unterschreibt, ohne dafür das placet der Bevölkerung zu haben.
Wenn die Regierung nach dem Generalstreik am 8. Februar immer noch nicht begreifen sollte, dass sie abtreten muss, wird eine Ausweitung der Streikmaßnahmen in den kommenden Tagen nötig sein, die mit Massendemonstrationen einhergehen müssen, um die entsprechenden Ziele erreichen zu können.
Ein weiterer Punkt ist, dass die Unterstützung für den Generalstreik durch Parteien wie „Nidaa Tounes“ gleichzeitig ganz wesentliche Fragen aufwirft. Schließlich gehören dem Lager ihres Vorsitzenden Essebsi unzählige Leute an, an deren Händen das Blut linker AktivistInnen klebt und die die Komplizen genau der Diktatur waren, gegen die Chokri Belaïd jahrelang gekämpft hat.
Die Arbeiterbewegung, die UGTT und die Linke müssen um jeden Preis verhindern, in die Falle zu tappen, die daraus besteht, dass nur noch von einem „säkularen“ und einem „islamistischen“ Lager die Rede ist, welche sich beide feindlich gegenüberstehen. Diese Herangehensweise würde säkularen aber pro-kapitalistischen Parteien wie „Nida Tounes“ gerade recht kommen. Ihr Ziel ist es nicht, die ArbeiterInnen und die Volksmassen zu verteidigen, sondern stattdessen den Interessen der Konzerne, Bankiers und imperialistischen Mächte zum Durchbruch zu verhelfen, wenn auch mit einem anderen „Anstrich“ als es heute die „Ennahda“-Partei noch tut.
Belaïds Schwester hatte ganz Recht, als sie hervorhob, dass Chokri zu denen gehörte, die „auf der Seite der Armen, der Marginalisierten, der Unterdrückten […]“ und damit im Gegensatz zu denen stehen, die zum politischen Establishment gehören. Letztere versuchen nun auf zynische Art und Weise, aus seinem Tod noch Kapital zu schlagen, ihn ausschließlich als „Feind der Islamisten“ darzustellen und die Tatsache zu verschweigen, dass Belaïd auch ein Vertreter der radikalen Linken war.
Was das angeht, werden die tunesischen Massen nicht bereit sein, eine Regierung zu stürzen, nur um diejenigen wieder an die Macht zu bringen, die man zwei Jahre zuvor erst aus dem Amt getrieben hat. Zusätzlich nutzen ausgerechnet diese Kräfte die Revolution und die Stärke der Arbeiterklasse wie ein Trojanischen Pferd. Deshalb schlagen wir die Parole vor: Weder Pest noch Cholera – nein zu Jebali und nein zu Essebsi! Für einen nachhaltigen Kampf der Massen bis zur Errichtung einer revolutionären Regierung, die aus AusbeiterInnen und jungen Leuten besteht und von der Gewerkschaftsbewegung, der Linken und Organisationen aus der Bevölkerung unterstützt wird.
In der derzeitigen Situation kann die „Volksfront“ mit ihren vielen AktivistInnen im ganzen Land das Rückgrat einer Massenkampagne sein, die das strategische Ziel einer solchen Regierung verfolgt. Einer Regierung, die unabhängig von der kapitalistischen Klasse und ihren politischen Parteien sowie irgendwelchen „Technokraten“ ist und entschiedene Aktionen durchführt, um die Schlüsselbetriebe der tunesischen Wirtschaft unter die Kontrolle und Geschäftsführung der Gesellschaft zu bringen.
Unsere Forderungen:
- Für die Fortsetzung der Revolution bis zum Sieg!
- Für einen Generalstreik bis zum Sturz der Regierung!
- Nein zum einfachen „Umbau“ der Regierung hinter dem Rücken der Massen!
- Für wirklich demokratische Wahlen und die Bildung einer Regierung, die aus VertreterInnen all jener besteht, die die Revolution tatsächlich gemacht haben!
- Für eine revolutionäre Regierung der ArbeiterInnen und der Jugend!
- Nieder mit den kapitalistischen Ausbeutern und Politikern, die nur ihren Interessen dienen!
- Kapitalismus raus!
- Für eine sozialistisch geplante Wirtschaft, die die gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigt und von der Bevölkerung demokratisch organisiert wird!