Wie kann der Kampf für die Emanzipation weitergehen?
von Aysha Zaki, CWI („Committee for a Workers´ International“ / „Komitee für eine Arbeiterinternationale“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist)
Noch bevor die Revolution überhaupt ausgebrochen war, haben sich die Frauen in Ägypten am Kampf beteiligt und waren – wie die Männer – zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung aktiver Bestandteil der Bewegung für den Wandel ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse. Unter den Beschäftigten der riesigen Textilfabrik „Mahalla“, die an der Spitze des Kampfes für bessere Löhne standen, und unter den weitergehenden Kämpfen von ArbeiterInnen, die darüber hinaus noch die Forderung nach Arbeiter-Kontrolle und -Geschäftsführung aufstellten, spielten Frauen eine führende Rolle.
Angesichts der Milizen, Schlägertrupps, aggressiv auftretenden Sicherheitsdienste und anderer reaktionärer Kräfte, strömten die Frauen dann in der Revolution massenweise auf die Straße und zeigten heldenhaften Einsatz. Im Kampf gegen Repression und für Emanzipation in Ägypten sind revolutionäre Frauen gefoltert und ermordet worden. Zu den hunderten von MärtyrerInnen der Revolution zählen ägyptische Frauen, deren Bilder von AktivistInnen voller Stolz überall im Internet und den Medien verbreitet werden.
Heute jedoch ist der Tahrir Platz, das ehemalige Herz der Revolution, nicht länger der sichere Ort, der bis vor kurzem noch dem Kollektiv der Menschen gehörte und der Raum bot, um die Revolution zu organisieren oder Fragen der Befreiung zu diskutieren – nicht zuletzt der Befreiung der Frau. In den letzten Wochen und Monaten kommt es in Ägypten immer öfter zu Berichten über sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe auf weibliche Demonstranten. In der Woche, als am 25. Januar der zweite Jahrestag der Revolution begangen wurde, gab es mehr als 20 Berichte über Fälle von sexueller Belästigung gegen und Vergewaltigung von Frauen inmitten der Massenproteste auf dem Tahrir Platz.
Zwei Jahre nach der Revolution sind Frauen in Ägypten vier Mal häufiger erwerbslos als Männer. Obwohl etwas weniger Mädchen als Jungen in Ägypten die Grundschule besuchen, liegt die Analphabetenrate bei 77 Prozent, und Frauen sind wesentlich seltener davon betroffen als Männer. Dies illustriert die Realität, mit der Frauen in der Gesellschaft allgemein und nicht nur punktuell zu kämpfen haben. Die meisten von ihnen arbeiten in den Haushalten, sie betreuen die Kinder und Alten. Und in zunehmendem Maße kommt hinzu, dass immer mehr Frauen auch noch im schlecht bezahlten, informellen Sektor arbeiten.
Sexuelle Übergriffe
Viele sexuelle Übergriffe auf weibliche Protestierende fanden auf sehr ähnliche Weise statt: Gruppen von einigen Dutzend, in manchen Fällen auch in Horden von bis zu 100 Personen griffen Männer systematisch weibliche Protestierende heraus und attackierten sie bisweilen so brutal, dass die Opfer in Krankenhäuser gebracht werden mussten. Abstoßende Bilder und Filme, die auf „youtube“ und „facebook“ zu sehen sind, haben unter AktivistInnen weltweit und nicht zuletzt in den arabischen Ländern zu Empörung und massenhafter Ablehnung geführt.
Sexuell motivierte Gewaltakte auf Protestierende sind in Ägypten kein neues Phänomen. Bisher wurden sie allerdings auf Order der „Obersten Militärrats“ (SCAF) durchgeführt, der seinen Soldaten die Anweisung gab, „Jungfräulichkeitstests“ durchzuführen und Frauen, die an den Protesten teilnahmen zu attackieren. Dabei wurden auch männliche Protestierende Opfer von Übergriffen. Während es zu Ausschreitungen kam, wurde von Seiten der Bereitschaftspolizei, dem Militär oder zivilen Kräften, die sich unter die Proteste mischten, auch gegen Männer körperliche und sexuelle Gewalt ausgeübt.
Heute nun, unter der Herrschaft der Muslimbruderschaft (MB) und angesichts zunehmender Spannungen zwischen rechtsgerichteten Islamisten und der Opposition, werden Frauen zunehmend Opfer von Gewaltakten. Und dies wird genutzt, um die Revolution abzuwürgen bzw. die Übernahme der Revolution durch reaktionäre Kräfte und rechtsextreme Islamisten zu rechtfertigen.
JournalistInnen und ReporterInnen, die mit Protestierenden über die jüngsten Übergriffe sprechen wollten, berichteten, dass eine hohe Zahl junger Männer, die sich ihre Zeit auf den Plätzen vertreiben, sexistische Kommentare abgaben. Üblich war die Frage, „Was habt ihr erwartet?“, oder der Satz: „Wenn eine Frau sich enge Klamotten anzieht, ist sie doch selber schuld“. Dies sind aber keine Vorstellungen, die einfach so vom Himmel fallen. Der Sexismus ist in Reden islamistischer Kleriker und Führungspersonen, die die Aufmerksamkeit damit einerseits von den brennenden und alltäglichen Problemen wie den Lebensmittelpreisen, von denen die Masse der ArbeiterInnen in Ägypten betroffen ist, ablenken wollen und damit gleichzeitig versuchen, eine Verfolgungsjagd auf weibliche wie männliche KritikerInnen ihrer Herrschaft anzuzetteln, immer wieder verstärkt und befördert worden.
Die Angst vor Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen auf Demonstrierende hat sich nicht nur unter Frauen breit gemacht. Auch Männer, die angesichts derartiger Attacken hilflos daneben stehen mussten und nicht eingreifen konnten, sind in großer Sorge. Es gibt Berichte von Männern und Frauen, die gemeinsam einen äußeren Ring um ihren Protestzug gebildet haben um sicherzustellen, dass etwaige Angriffe von außen erfolglos bleiben würden. Damit sollte verhindert werden, dass Frauen möglicherweise aus der Menge herausgezogen werden würden. Es gab aber genauso auch Berichte sowohl über Frauen wie auch von Männern, die sich dafür entschieden haben, sich lieber nicht mehr an Protesten zu beteiligen. Der Grund ist das allgemeine Chaos, von dem die Bewegung mittlerweile gekennzeichnet ist, und es sind natürlich nicht zuletzt auch die Angriffe auf Frauen. Das hat eine Schicht von AktivistInnen bereits dazu gebracht, sich angesichts dieser chaotischen Entwicklungen und aufgrund der zunehmenden Gewalt bei den Protesten komplett abzuwenden.
Gegenwehr
Eine große Zahl von Frauen aus der arabischen Welt, von denen viele durch die Aufstände und Proteste inspiriert wurden, zu denen es im Zuge des „Arabischen Frühlings“ kam, und die dabei auch eine führende Rolle spielten, haben ihrem Willen Ausdruck verliehen, eine Bewegung für die Befreiung der Frau aufzubauen. Eine dieser Gruppen nennt sich „Aufstand der Frauen in der arabischen Welt“. Obgleich diese Gruppierung auf „facebook“ gegründet wurde (lange bevor dieser Artikel geschrieben wurde), verzeichnet sie enormen Zulauf. Der Grund dafür sind die jüngsten Übergriffe. Der „Aufstand der Frauen in der arabischen Welt“ ist so zu einer Plattform für Frauen geworden, die sich gegen Sexismus, sexualisierte Gewalt, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und Zwangsehen sowie die allgemeine Unterdrückung der Frau aussprechen.
Wie viele Aktivistinnen und Sozialistinnen hervorgehoben haben – und immer wieder erklären müssen – ist der Sexismus, auch wenn er derzeit erneut zunimmt, immer ein Bestandteil der Klassen-Gesellschaft gewesen. Dass die Berichte über solche Übergriffe genauso zunehmen wie die dabei angewendete Brutalität, ist ein Resultat mehrerer Faktoren, die zusammenwirken. Dazu gehört natürlich auch, dass der rechtsgerichtete politische Islam an die Macht gekommen ist und reaktionären und sexistischen Vorstellungen grünes Licht gegeben hat. Diese kommen nun ganz offen zur Geltung, und es ist „Normalität“ geworden, dass Sexismus angewendet wird, um die Bewegung auf Grundlage der Geschlechterzugehörigkeit zu spalten und Protestierende und Demonstrantinnen einzuschüchtern.
Ein weiterer wichtiger Faktor, der für diese An- und Übergriffe verantwortlich zeichnet, ist der Mangel an Sicherheit in den Hochburgen der Revolution und in den Gegenden, in denen es keine Sicherheitskräfte gibt. Das hat Folgen, weil es ein Zustand inmitten von Chaos ist, das von MB-Mitgliedern kreiert wird. Diese versuchen so, oppositionelle Zusammenkünfte zu verhindern. Besagte Gebiete und die beschriebenen bewusst durchgeführten Maßnahmen sorgen für den Nährboden für sexistische Kommentare und sexuelle Übergriffe. Frauen sind deshalb immer öfter von Belästigungen betroffen.
In einigen Fällen sind daraus individuell-anarchistische Methoden geworden, um bestimmte Leute zu protegieren und an anderen Rache zu üben. Das ist aber eine sehr beschränkte Art der Gegenwehr. Heute greift der Sexismus unter einer Schicht von ArbeiterInnen und jungen Leuten ganz ungestört um sich, die sich reaktionären Vorstellungen zuwenden. Das ist die Folge der Arbeitslosigkeit und / oder hängt mit den reaktionären Politikern und politischen Kräften zusammen, die dies befördern. Die Milizen, die häufig der perfekte Nährboden für sexistische Vorstellungen sind, müssen bekämpft werden. Dazu braucht es ein Programm, das auf der Annahme basiert, dass die Gesellschaft aus Ausbeuter- und unterdrückter klasse besteht, und über das Frauen am praktischen Beispiel zeigen können, dass ihr Kampf für Befreiung auch ein Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Ausbeutung ist.
Gegen den Sexismus in der Gesellschaft ist ein kollektiver Kampf nötig. Deshalb besteht dringender Bedarf nach einer organisierten Alternative für die Masse der ArbeiterInnen. Eine solche Alternative muss die Möglichkeit bieten, dass sich weibliche Beschäftigte und weibliche Aktivisten gemeinschaftlich und zusammen mit männlichen Beschäftigten und Aktivisten an ihr beteiligen und in der sie gemeinsam Verteidigungskomitees organisieren und auf Grundlage eines Programms zur Beendigung des Sexismus jeglicher Couleur und aller Arten von Unterdrückung und Ausbeutung kämpfen können. Mit einbezogen werden sollte dabei der Kampf für angemessene Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnungen, gut entlohnte Arbeitsplätze, ein sicheres öffentliches Verkehrsnetz und öffentliche Dienste. Gut beleuchtete Straßen und öffentliche Plätze, rechenschaftspflichtige Sicherheitsdienste und ausgebildetes Personal für die Betreuung von Opfern von Vergewaltigung und Diskriminierung, zur Familienplanung und dem Schutz vor Zwangsverheiratung, Gesetze gegen Vergewaltigung und Sexismus, Schutzeinrichtungen und alternative Arbeitsplätze für Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden, das Recht auf Schutzasyl etc.: Ein solches Programm würde die verarmten und erwerbslosen Menschen anziehen und wie ein Aufruf an sie wirken. Hinzu kommt, dass damit ein Anziehungspunkt geschaffen wäre, der die Aufmerksamkeit von den reaktionären Führungspersonen abzieht, die den Sexismus nur als weiteres Mittel der Klassen-Unterdrückung nutzen.
Von unten muss eine Massenbewegung und eine Massenpartei der ArbeiterInnen aufgebaut werden: in den Betrieben genauso wie in den Wohnvierteln, wo unabhängige Gewerkschaften, Arbeiterkomitees und Volkskomitees aufgebaut wurden – mit Arbeiterinnen und revolutionären Frauen an der Spitze. Eine solche Bewegung und Partei der Massen muss eine Strategie vorantreiben, mit der die Masse der Beschäftigten, Jugendlichen, der verarmten Schichten und aller Unterdrückten gewonnen werden kann. Sie alle müssen sich am Kampf für die Befreiung von allen Formen der Unterdrückung beteiligen. Dazu gehört auch die Unterdrückung durch den Sexismus! Es geht um soziale Gerechtigkeit und demokratischen Sozialismus.