Größte Demonstrationen in der Geschichte Portugals
Am 2. März gingen in Lissabon und weiteren portugiesischen Städten 1,5 Millionen Menschen auf die Straße und forderten den Rücktritt der Regierung.
von Anne Engelhardt, Kassel
„Grandola, braungebranntes Dorf,
Erde der Brüderlichkeit,
das Volk hat die Macht,
in deiner Stadt.
(…)
An jeder Ecke ein Freund,
in jedem Gesicht Gleichheit.
Grandola, braungebranntes Dorf,
Erde der Brüderlichkeit.“
Diese Zeilen stammen von José Afonso und wurden 1974 zur Hymne der Nelkenrevolution in Portugal. Am 2. März dieses Jahres gingen in den bislang größten Demonstrationen Portugals in einem Land von zehn Millionen Menschen 1,5 Millionen in über 30 Städten auf die Straße. Wenn in Deutschland jede und jeder Siebte demonstrieren würde, wären das etwa zwölf Millionen.
Revolutionäre Traditionen
Punkt 18 Uhr stimmten alle Demonstrationen landesweit „Grandola Vila Morena“ an. 1,5 Millionen Menschen sangen in ganz Portugal dieses Lied und die Tradition der Nelkenrevolution und der Wunsch nach einem weiteren „25. April“ (dem Jahrestag der Revolution) wurden damit erneut wachgerufen. Die Notwendigkeit, das bestehende Regime zu stürzen, das die Menschen wirtschaftlich und mental in die Knie zwingt, drängt sich immer stärker in das Bewusstsein der Bevölkerung.
Um das zu erreichen, organisieren sich die Menschen auf allen Ebenen und leisten Widerstand. In der Nationalversammlung Portugals in Lissabon haben über 40 AktivistInnen ebenfalls die Revolutionshymne angestimmt und damit die Haushaltsrede des Premierministers Pedro Passos Coelho unterbrochen. Coelho – auf Deutsch auch „Kaninchen“ – bietet allerhand Grundlage für Witze und Slogans, wie angesichts des Pferdefleischskandals zum Beispiel: „Lieber Pferde in der Lasagne als Kaninchen in der Regierung!“ In Coimbra wurden Mitglieder der Regierung von StudentInnen aus der Uni gejagt, als sie dort einen Vortrag halten wollten.
Gegenwehr
Das alles sind Ereignisse, die Vorboten des kommenden Sturms sind. Vier Generalstreiks fanden seit 2010 statt. Bisher haben es die Gewerkschaftsdachverbände und linken Parteien versäumt, einen Aktionsplan zum Sturz der Regierung vorzulegen. Zudem fehlt es an einem alternativen politischen Programm für eine Regierung im Interesse der Lohnabhängigen. Beides ist dringend notwendig und müsste mit allen AktivistInnen und Gewerkschafter-Innen diskutiert werden.
Verarmung
Allein die steigenden Arbeitslosenzahlen von sieben auf 18 Prozent seit Beginn der Krise (mit einer aktuellen Jugendarbeitslosigkeit von über 40 Prozent), das Zusammenbrechen des Gesundheits- und Bildungssystems, die Erhöhungen der Einkommens- und Mehrwertsteuer benötigen eine linke, antikapitalistische Antwort. Die Geburtenrate ist drastisch gesunken. Frauen sind gezwungen, für Großeltern, Eltern und Kinder gleichzeitig zu sorgen, da Altenheime geschlossen und Vorschulen schon lange abgeschafft wurden. Im Jahr 2011 sind über eine halbe Million Menschen aus Portugal ausgewandert – und meistens in die nächste Armutsspirale reingeraten. Beispielsweise leben in London heute viele portugiesische MigrantInnen in Autos, weil sie sich die teuren Mieten dort nicht leisten können. Wie viele andere werden sie zur Lohndrückerei und als „moderne SklavInnen“ genutzt; und das genau dort, wo sie mit ihren letzten Ersparnissen und letzter Hoffnung hin geflohen sind. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass wir international gegen die Zunahme nationalistischer Stimmungsmache und Standortlogik eintreten und uns für Solidarität, den gemeinsamen Widerstand gegen Kürzungen, Lohndumping und Bankenrettung und für ein sozialistisches Europa stark machen.