Nur heiße Luft oder echte Kriegsgefahr?
Seitdem die UNO im Januar härtere Sanktionen gegen Nordkorea verhängt hat, verschärft das Regime von Kim Jong Un die Kriegsrhetorik. Die USA und Südkorea haben im März mit umfassenden Militärmanövern begonnen. Offiziell befinden sich die beiden Koreas ohnehin seit 1950 im Kriegszustand. Kim Jong Un hat jetzt verkündet, dass alle Waffenstillstandsabkommen aufgehoben und ein nuklearer Angriff auf die USA genehmigt wurde. Die USA haben atomwaffenfähige Bomber sowie weitere Abfangjäger und Zerstörer in die Region geschickt. Droht tatsächlich eine militärische Auseinandersetzung in Ostasien?
von Claus Ludwig, Köln
Die nordkoreanische Führung um Kim Jong Un wird in der westlichen Presse als „irre“ und komplett irrational dargestellt, der SPIEGEL-Redaktion ist es nicht einmal peinlich, ihn diese Woche als „King Jong Bumm“ zu verspotten. Tatsächlich macht das Regime rationale Politik für die eigenen Interessen, ebenso wie die USA, China und Südkorea. Das Problem ist allerdings, dass diese rationalen Interessen verschiedener herrschender Klassen und Gruppen sich zum Teil diametral widersprechen. Aus der Rationalität der Einzelnen kann so der Wahnsinn für viele entstehen.
Eigentlich hat das nordkoreanische Regime kein Interesse an einem Krieg, den es trotz seiner zahlenmäßig gewaltigen Militärmacht unweigerlich verlieren würde. Militärische Drohungen sind allerdings das einzige Machtmittel, was der herrschenden Bürokratie geblieben ist.
Ihr Modell der bürokratisch geplanten wirtschaftlichen Autarkie geriet in den 1970er Jahren in die Stagnation. Industrie, Landwirtschaft und Infrastruktur befinden sich in einem Verfallsprozess, der möglicherweise bald seine finale Stufe erreicht.
Noch in den 1960er Jahren war Nordkorea eines der erfolgreichsten Länder stalinistischer Prägung. Trotz gewaltiger Zerstörungen im Koreakrieg 1950-53 gelang es, eine starke Industrie aufzubauen. Das Pro-Kopf-BIP war bis in die 1970er Jahre höher als im kapitalistischen Südkorea. Nordkorea war von Beginn an eine der härtesten stalinistischen Diktaturen, Arbeitslager und Massenterror wurden eingesetzt, um das Entstehen einer Opposition im Keim zu ersticken. Ohne Zweifel gab es allerdings auch über eine relativ lange Zeit Massenunterstützung für das Regime in Pjöngjang. Immerhin war die „Partei der Arbeit“ unter Kim Il Sung die einzige Kraft, die konsequent gegen die japanische Besatzung gekämpft und sich der erneuten Unterwerfung durch die USA widersetzt hatte.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre verlor Nordkorea einen potenziellen Unterstützer, der wirtschaftliche Niedergang verschärfte sich. Was waren die Alternativen für die nordkoreanische Bürokratie?
Eine von oben kontrollierte Einführung des Kapitalismus wie in China war für das Regime allein deswegen schwierig, weil mit Südkorea schon ein kapitalistischer Staat auf der Halbinsel existierte. Dessen herrschende Klasse hätte wenig Platz gelassen für die Umwandlung der Staatsbürokraten in Kapitalisten und Macht und Profite stattdessen für sich gefordert.
Die weitere Stärkung des Militärs, die Entwicklung von Nuklearwaffen und die Kriegsdrohungen dienen dem nordkoreanischen Regime, um als Macht ernst genommen zu werden und somit Möglichkeiten für Verhandlungen, internationale Hilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit offen zu halten, ohne dabei die eigene Kontrolle über das Land abgeben oder auch nur lockern zu müssen. Immer wieder waren die Ankündigungen, Krieg zu führen, begleitet von wirtschaftlichen Reformversuchen, namentlich der Einführung von Marktelementen.
Die Bürokratie versucht offensichtlich, sich Optionen offenzuhalten und einen wirtschaftlichen Zusammenbruch samt unkontrollierbarer Flucht- und Aufstandsbewegungen aufzuschieben. Dabei wurde sie von der chinesischen Führung unterstützt, die auf der einen Seite einen chaotischen Kollaps des Landes verhindern und auf der anderen Seite kein vereinigtes Korea als Verbündeten der USA zum direkten Nachbarn haben will.
Wandel durch Annäherung?
Anfang der 2000er, unter der linksliberalen Regierung von Kim Dae Jung, dem ersten südkoreanischen Ministerpräsidenten, der die bis 1987 herrschende Militärdiktatur bekämpft hatte, gab es mit der „Sonnenscheinpolitik“ eine Annäherung zwischen Nord- und Südkorea. Große Teile der herrschenden Klasse in Südkorea unterstützten den Versuch, Nordkorea zu stabilisieren, allen voran der mächtige Hyundai-Konzern. Sie hatten kein Interesse an einem Zusammenbruch des Regimes, sondern wollten eine Öffnung, um nach und nach kapitalistische Elemente im Norden einzuführen. Ergebnis dieses Prozesses war die Einrichtung der Sonderwirtschaftszone von Kaesong, der zweitgrößten Stadt im Norden, nur wenige Kilometer nördlich der Grenze. Dort arbeiten mehrere Zehntausend nordkoreanische ArbeiterInnen für südkoreanische Konzerne, die Vorarbeiter, Techniker und Ingenieure dorthin entsandt haben. Vom Lohnniveau konkurriert Kaesong mit China und Vietnam und liegt weit unterhalb südkoreanischer Löhne.
Weitere Elemente dieser Annäherung waren Verwandten-Besuche und der Aufbau der Bahnstation Dorasan direkt an der Grenze, um eine zukünftige Zugverbindung Pjöngjang – Seoul zu ermöglichen.
Mit dem Wahlsieg der rechten Grand National Party (heutiger Name: Neue Welt Partei) im Jahr 2007 fand diese Annäherung ein Ende. Die neue Regierung ging auf Distanz und intensivierte die militärische Zusammenarbeit mit den USA. Seitdem eskaliert der Krieg der Worte.
Die herrschende Klasse in Südkorea scheint an diesem Punkt gespalten. Viele Chefs der Megakonzerne, der Chaebols bevorzugen eine Strategie des „Wandels durch Annäherung“, der langsamen kapitalistischen Durchdringung Nordkoreas ohne Krieg und Konfrontation. Gewisse Parallelen zur „neuen Ostpolitik“ der SPD unter Willy Brandt in den frühen 1970ern sind durchaus vorhanden. Die Konzerne sehen darin die ungefährlichste und profitabelste Variante.
Doch die revanchistischen Strömungen in herrschender Klasse, Staat und Militär sind stark. Sie wollen das Regime im Norden in die Krise treiben und scheinen bereit, die Risiken einer militärischen Konfrontation oder eines unkontrollierten Zusammenbruchs in Kauf zu nehmen.
Offiziell waren solche revanchistischen Kräfte auch in der CDU/CSU der 1980er Jahre stark. Im Unterschied zu Korea setzte aber auch die CDU-Regierung unter Kohl in der Praxis den „Wandel durch Annäherung“ bis zum Zusammenbruch der DDR 1989 fort und schwenkte erst dann auf den schnellen Kurs zur „Wiedervereinigung“, der Anschluss an die Bundesrepublik. In Südkorea dominieren hingegen die aggressiven Kräfte das staatliche Handeln, trotz der Bedenken der Konzernherren.
Wer eskaliert?
Die Sprache des Kim-Regimes klingt geradezu irrwitzig kriegslüstern. Die USA und Südkorea bedienen sich der „vernünftigen“ Sprache der Diplomatie, wie sie international üblich ist. In der Praxis agieren sie allerdings aggressiv. Seit Jahren führen die USA und Südkorea umfangreiche Manöver durch, die demonstrieren sollen, dass sie gegen Nordkorea einsatzbereit sind. Alle Angebote zu gleichberechtigten Verhandlungen über das Atomprogramm und die Sicherheit in der Region seitens Nordkoreas sind abgelehnt worden. In Worten treibt Nordkorea den Krieg voran, in Taten sind es eher die USA und Südkorea.
Keine der beiden Seiten kann Interesse an einem umfassenden Krieg haben. Das erklärt auch, warum die Menschen in Seoul, vierzig Kilometer südlich der Grenze, noch immer so ruhig und gefasst sind und die Auseinandersetzungen als rein verbales Geplänkel abtun.
Es gibt aber reale Risiken:
Erstens: Die Provokationen können aus dem Ruder laufen. Wenn eine Seite überreagiert und schießt, mag es vielleicht nicht zu einem umfassenden Krieg kommen, aber es könnte eine Kette von Vergeltungsschlägen und Grenzscharmützeln auslösen. Aber auch eine weitere Eskalation wäre dann nicht ausgeschlossen.
Zweitens: Kim Jong Un ist schon jetzt an der Grenze der verbalen Provokation angelangt. Er hat den Kriegszustand mit Südkorea bestätigt, die letzten offiziellen Telefonleitungen gekappt, einen nuklearen Angriff auf US-Einrichtungen offiziell bewilligt. Was kann er noch tun? Das Regime könnte versucht sein, seine Entschlossenheit auch durch Taten zu beweisen, vielleicht in der Hoffnung, dass darauf nur begrenzte Antworten erfolgen und in der Folge erneute Verhandlungen möglich sind. Aber auch das könnte aus dem Ruder laufen.
Drittens: Die USA und Südkorea können entscheiden, dass die verzweifelte Kriegsrhetorik des Nordens ihnen die Chance verschafft, militärische Schläge gegen den Norden als „Verteidigung“ darzustellen. Ziel könnte z.B. sein, die Angriffskapazitäten des Nordens – Raketenstellungen, Luftbasen, Panzerverbände – durch Luftangriffe massiv zu schwächen und das Regime dadurch zu entblößen. Die Darstellung des Nordens in den westlichen Medien als Atommacht unter der Kontrolle von Irren würde dabei helfen, die Opfer, die solche Attacken zur Folge hätten, optisch zu minimieren.
Ein militärisch offensichtlich geschwächtes Nordkorea müsste in jeder Hinsicht als Bittsteller auftreten. Gleichzeitig würde mit der Schwächung eines Verbündeten der Spielraum Chinas in Ostasien eingeschränkt.
Die kriegerischen Sprüche aus Nordkorea haben bereits in den letzten Jahren und verstärkt in den letzten Wochen den USA geholfen, ihre eigene Aufrüstung im Pazifik zu rechtfertigen. Letztendlich ist China der pazifische Konkurrent, der im Widerspruch zu den US-Interessen steht. Die USA haben im letzten Jahr Japan ermutigt, den Streit über die Senkaku/Diaoyu-Inseln mit China zu verschärfen. Sie haben neue Militärbasen in Australien eingerichtet.
Der Versuch eines begrenzten Krieges gegen Nordkorea wäre allerdings nicht ohne Risiko für die Imperialisten. Auch wenn die nordkoreanische Armee einen Krieg nicht gewinnen könnte, ist immerhin offen, wie lange sie Widerstand leisten oder welche Gegenschläge sie landen könnte. Auch ein Komplettzusammenbruch des Landes mit anschließender Flüchtlingswelle würde zu großen Problemen für Südkorea führen.
Insofern bleibt die wahrscheinlichste Variante, dass es trotz aller Drohungen nicht zum Krieg kommt, soweit die Kontrahenten die Kontrolle über ihre Aktionen behalten.
Perspektivisch ist die zentrale Frage, wie kaputt die Wirtschaft im Norden ist und inwieweit es noch Unterstützung für das Regime in den unteren und mittleren Rängen der Staatsbürokratie und der Armee gibt.
Die Kriegsdrohungen entfalten in beiden Koreas auch eine Wirkung nach innen, tragen zur Geschlossenheit bei, machen ein Aufbegehren gegen die eigene Regierung unwahrscheinlicher. Wenn die Frontstellung bestehen bleibt ohne dass es knallt und wenn gleichzeitig das Regime im Norden wirtschaftlich ein bisschen voran kommt – z.B. durch Hilfen aus China, Einführung einiger Marktelemente und weiterer Ausbau der Kooperation mit südkoreanischen Konzernen – dann könnte die jetzige Lage noch einige Jahre andauern, vorausgesetzt es existiert noch ein Rest der ehemaligen Massenbasis des Regimes.
Wenn aber die Stagnation in ihre Endphase tritt und die Marktreformen relativ schnell zu einem Differenzierungsprozess in der Bevölkerung führen und einige Schichten dadurch schneller in die Armut rutschen, kann die Lage sehr schnell instabil werden. Ein erneuter Kurswechsel hin zu mehr Zentralisierung und Kontrolle könnte dann zu Rissen im bürokratischen Apparat führen. Wirtschaftlicher Zusammenbruch, Revolten und militärische Konflikte würden dann wahrscheinlicher.
Claus Ludwig ist sozialistischer Stadtrat für DIE LINKE in Köln.