Indem sie die Spannungen um Gibraltar auflodern lassen, lenken die Regierungen Rajoy und Cameron von den Krisen in ihren Ländern ab.
John Hird, „Socialismo Revolucionario“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Spanien)
Die scheinbar plötzlich zunehmenden Spannungen zwischen Spanien und Großbritannien um Gibraltar sind der bisherige Höhepunkt im Zusammenhang mit der ungeklärten Frage der Hoheitsrechte in der Region. Es ist wie eine Rückkehr in die koloniale Vergangenheit beider Länder. Es drückt sich darin allerdings auch aus, dass beide konservativen Regierungen bereit sind, diesen Aspekt zu nutzen, um die Aufmerksamkeit von der eigenen geplanten Verarmungspolitik und den anstehenden Kürzungen im öffentlichen Sektor abzulenken, die auch als „Austerität“ bekannt ist.
Der spanische Präsident Rajoy hat es gerade mit einem sehr schwerwiegenden Korruptionsskandal zu tun, in dem er persönlich eine entscheidende Rolle spielt. Seine PP-Regierung [die konservative „Partido Popular“-Partei stellt die Alleinregierung, AdÜ] versucht verzweifelt, aus dieser Situation herauszukommen, auch um einen möglichen Sturz zu verhindern. Wenige Tage bevor die derzeitige Generalsekretärin der PP und ihre beiden Vorgänger im Bárcenas-Korruptionsfall vor Gericht aussagen sollten, scheint es, als unternehme die Regierung Rajoy einen besonderen Versuch, damit Gibraltar die Titelblätter dieses Sommers bestimmt und verhindert wird, dass der Korruptionsskandal größere Erwähnung findet. In Radio, Fernsehen und den Printmedien kommt das Wort „Bárcenas“ kaum noch vor, und die Schlagzeilen und Kommentarseiten berichten exklusiv darüber, dass man „für Spanien eintreten“ muss.
Die spanische Regierung beschuldigt die Exekutive in Gibraltar, rund um die Halbinsel und ohne Absprache Betonblöcke im Meer versenkt zu haben, die die Arbeit der spanischen FischerInnen behindern. Außerdem bezichtigt man Gibraltar, als illegale Steueroase zu dienen, die „ausgetrocknet“ werden müsse. Darüber hinaus handele es sich bei dem britischen Überseegebiet um einen Rückzugsraum für den Schmuggel.
Die „Guardia Civil“ [paramilitärisch ausgerichtete spanische Polizeieinheit, AdÜ] hat den Befehl von oben bekommen, alle Autos, die über die Grenze wollen, zu kontrollieren. Das hat zu endlosen Staus und langen Wartezeiten geführt. Der spanische Außenminister droht darüber hinaus damit, jeder/m 50 Euro zu berechnen, die/der nach Gibraltar will oder von dort kommt. Das würde den Konflikt weiter eskalieren lassen.
10.000 spanische ArbeiterInnen sind in Gibraltar beschäftigt. Manuel López, Vertreter der Vereinigung spanischer ArbeiterInnen in Gibraltar (ASTECG), sagte, dass sich die zunehmenden Spannungen zwischen der spanischen und der britischen Regierung nachteilig auf die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen und die ansonsten guten Beziehungen zwischen NachbarInnen auswirken.
In einer vor kurzem ausgestrahlten Fernsehdebatte hüllten sich verschiedene rechtsgerichtete ExpertInnen in die spanische Flagge ein, verurteilten den britischen Kolonialismus und lobten Rajoy dafür, „für Spanien einzutreten“. Der PP-Bürgermeister von Algeciras, einer spanischen Stadt in der Nähe der Grenze zu Gibraltar, der bei den zunehmenden Spannungen um Gibraltar eine zentrale Rolle gespielt hat, wurde von Juan José abgegangen, der spanische ArbeiterInnen in Gibraltar vertritt: „Der Bürgermeister sagt, er stehe auf für die Belange Andalusiens. Bisher hat er aber nichts gesagt zu der enormen Arbeitslosigkeit in La Linea. Er tut nichts für die ArbeiterInnen von La Linea“.
José versuchte auch, weitere Aspekte anzusprechen. So wollte er darüber reden, wie die ganze Angelegenheit dazu dient, Spannungen zu erzeugen. Jedoch wurde er von einer hysterischen Runde niedergebrüllt. Die ASTECG sagt auch, dass sie es bedauert, dass der Konflikt benutzt wird, um die Aufmerksamkeit von anderen Problemen abzulenken.
„Das Problem der Betonblöcke, die in der Bucht von Gibraltar versenkt worden sind, wurde aufgepuscht. Die Regierung von Andalusien hat viel mehr Betonblöcke versenkt, um die Küstenlinie zu sichern. Dazu wurde allerdings nichts gesagt“.
Eine spanische NGO hat betont, dass Fragen des Küsten- und Umweltschutzes nicht benutzt werden sollten, um den Konflikt anzuheizen und dass die Regierung sich lieber um drängendere Probleme wie die Bunkerung der Schiffe kümmern sollte. Dabei werden die Schiffe draußen vor der Küste betankt, um an Land keine Steuern zahlen zu müssen. Diese Praxis findet in der Bucht von Algeciras statt, an der auch Gibraltar liegt.
Der Landwirtschafts- und Umweltminister von der PP, Arias Cañete, war früher Vorstandsvorsitzender des Konzerns „Petrolífera Ducar S.L.“. Dieses Unternehmen führt genau solche umweltschädlichen Arbeiten aus!
Außenminister Margallo hat auf demagogische Art und Weise erklärt, dass angesichts der Gibraltar-Frage „die Schonfrist zu Ende“ ist. ASTECG hat darauf reagiert und gesagt, dass derart verantwortungsloses Gerede zur schlimmsten Krise seit 1969 führen könnte, als der Diktator Franco die Grenzen schließen ließ.
Es ist klar, dass die PP-Regierung auch andere Gründe gefunden hätte, um den Konflikt anzuheizen, selbst wenn die Exekutive in Gibraltar keine Betonblöcke versenkt hätte. Hinter alldem scheint auf spanischer Seite eine geplante Strategie zu stehen.
Die Diplomatie von Rajoy und Cameron folgt zur Zeit dem Motto: Wie du mir, so ich dir. Cameron hat gedroht, Spanien wegen der Passkontrollen vor Gericht stellen zu wollen, während Rajoy darauf besteht, das man im rechtlichen Rahmen handeln würde und dass man ernsthaft in Betracht ziehe, für den Grenzübertritt eine Gebühr zu verlangen. Der Außenminister prüft sogar, ob man zusammen mit Argentinien bei der UNO eine gemeinsame Resolution einbringen kann. Dabei soll die Frage der Souveränität Gibraltars in einen Zusammenhang mit dem Problem der Malvinas/Falkland-Inseln gebracht werden. Das würde den Spannungen zwischen zwei der größten EU-Mächte einen beispiellosen Auftrieb geben. Beide Seiten versuchen den Anschein zu vermitteln, stärker und entschlossener als die jeweils andere zu sein. In Wahrheit verhalten sie sich wie zwei Glatzköpfige, die um eine Perücke kämpfen!
Der geschichtliche Hintergrund des Konflikts
Im Jahr 1713 hat Spanien nach dem Vertrag von Utrecht Gibraltar an Großbritannien verloren. Die Stadt war die Beute, die Britannien nach dem spanischen Erbfolgekrieg zugesprochen wurde. Im Zweiten Weltkrieg war der Felsen von Gibraltar eine strategisch wichtige Festung und Marinebasis für die britischen Streitkräfte im Mittelmeerraum. Das Franco-Regime hat permanent Druck auf Großbritannien ausgeübt, um Gibraltar zurück zu bekommen. 1969 wurden sogar die Grenzen geschlossen, was die bis heute schwerwiegendste Krise war.
Mit der Einführung einer parlamentarischen Demokratie in Spanien, der Unterzeichnung des Lissabon-Abkommens im Jahre 1980 und dem Eintritt Spaniens in die EU und die NATO nahmen auch die Spannungen um Gibraltar schrittweise ab. Als Gibraltar im Falkland-Krieg von 1982 als Stützpunkt genutzt wurde, verzögerte sich allerdings die Grenzöffnung.
Die annähernd 30.000 EinwohnerInnen von Gibraltar haben sich in zwei Referenden mit überwältigender Mehrheit dagegen entschieden, Teil Spaniens zu werden.
Die Spannungen um Gibraltar zeigen, dass ungelöste Konflikte, die aus der Kolonialzeit resultieren, in der derzeitigen instabilen politischen Situation, die durch die ökonomische Krise des Kapitalismus hervorgebracht wurde, neu aufflammen können. Es zeigt sich darin ebenfalls, dass skrupellose rechte PolitikerInnen kein Problem damit haben, die patriotische Karte auszuspielen, wenn es ihnen in den Kram passt. Dabei sind ihnen die Konsequenzen, die das für die ArbeiterInnen, ihre Familien und deren Lebensbedingungen hat, vollkommen egal.
Langfristig können Konflikte wie dieser um Gibraltar, der wie eine Rückkehr in die miesen Zeiten des Kolonialismus und des britischen „Empire“ anmutet, nur im Zusammenhang einer Kooperation zwischen den Völkern gelöst werden, die in einer sozialistischen Föderation auf der Iberischen Halbinsel und ganz Europas möglich wäre.
In der derzeitigen Krisensituation müssen SozialistInnen erklären, dass spanische, britische und ArbeiterInnen aus Gibraltar weder Rajoy noch Cameron oder deren rechten Regierungen vertrauen können.
In Teilen kommt aber auch den führenden Köpfen der spanischen Arbeiterbewegung und der Linken eine Verantwortung dafür zu, dass die Aufmerksamkeit von den wahren Problemen abgelenkt wird. Sie haben alles erdenkliche getan, damit diese Regierung, die jede Legitimation verloren hat und deren Schicksal am seidenen Faden hing, die Zeit bekam, die sie brachte, um sich wieder zu stabilisieren. Nur mit einem nachhaltigen Aktionsplan, zu dem ein Generalstreik, Betriebsbesetzungen, die Formierung der Massen und demokratische Versammlungen als Mittel gehören, mit der die Regierung gestürzt werden kann, kann die Vernebelungstaktik von Rajoy und Cameron durchkreuzt werden. Dazu muss eine Einheitsfront der Linken aufgebaut werden, zu der die Izquierda Unida [Partei „Vereinigte Linke“, AdÜ] und andere Kräfte gehören müssen. Zusammen mit den sozialen Bewegungen muss der Kampf aufgenommen werden für eine alternative Arbeiter-Regierung.
- Verteidigt das Recht der spanischen ArbeiterInnen, in Gibraltar zu arbeiten
- Nein zu den drakonischen und ausschweifenden Grenzkontrollen
- Kein Vertrauen in Rajoy, Cameron und ihre Regierungen, die gegen die Arbeiterklasse handeln
- Für den Schutz der Umwelt in der Bucht von Gibraltar / Bahía de Algeciras. Stoppt die „Bunkerungen“ auf See
- Für die Einheit der spanischen ArbeiterInnen mit den KollegInnen in Gibraltar. Für die Einheit mit der Arbeiterklasse in Großbritannien und ganz Europas. Gegen Austerität und Kapitalismus
- Gegen die Teile-und-Herrsche-Politik. Für den Kampf für eine sozialistische Föderation auf der Iberischen Halbinsel, mit vollem Selbstbestimmungsrecht als Teil eines sozialistischen Europas und einer sozialistischen Welt