Interview mit Jan Richter, Vorsitzender ver.di Betriebsgruppe H&M Berlin/Brandenburg*
*Funktionsangabe dient nur der Kenntlichmachung der Person
Am Dienstag 14. Januar stimmte die ver.di Tarifkommission in Berlin und Brandenburg dem Tarifvertrag im Einzelhandel zu. Nach dem ein erstes Verhandlungsangebot abgelehnt wurde, kämpften die Beschäftigten einen Monat länger als im Pilotbezirk Baden-Württemberg. Worum ging es dabei?
Im Dezember entschieden wir, dass trotz des Angebots, den Abschluss aus Baden-Württemberg 1:1 zu übernehmen, wir im Tarifgebiet Berlin-Brandenburg für den Ost-West-Angleich bei Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld weiterhin auf die Straße gehen müssen. Im 24. Jahr der Einheit bekommen die Kolleginnen und Kollegen in Berlin-Ost und Brandenburg weniger, als Beschäftigte in Berlin-West. Die Arbeitgeber verlangten eine Kompensationsleistung von uns in den Verhandlungen. Die Kolleginnen und Kollegen in Berlin-Ost und Brandenburg erbringen seit 24 Jahren eine Kompensationsleistung. Bei einer Aufholjagd nun auch noch den Kolleginnen und Kollegen aus Berlin-West zusätzlich etwas abzuverlangen ist unmoralisch und ein deutliches Zeichen dafür, dass mittlerweile die blanke Gier regiert und die Arbeitgeber den Hals nicht voll genug bekommen können. Der Vollständigkeit halber muss ich auch noch erwähnen, dass wir zwar einen Monat länger als BaWü gekämpft haben, Baden-Württemberg dafür aber mehrere Monate vor uns angefangen hat zu streiken und die Hälfte der Streiktage aus dem ganzen Bundesgebiet allein auf sie entfallen. Deswegen gilt unseren Kolleginnen und Kollegen in BaWü nicht nur unser Dank sondern vor allem auch unser Respekt!
Wie bewertest du das erreichte Ergebnis?
Der Abschluss sieht für einen Zeitraum von zwei Jahren eine Lohnerhöhung von insgesamt 5,1 Prozent vor. Das Ergebnis wird von vielen Beschäftigten positiv gesehen, da es endlich auch mal eine Reallohnsteigerungen gewährleistet, was in den letzten Jahren nicht immer der Fall war. Entscheidender als die reine Entgeltrunde war jedoch der Konflikt um den Manteltarifvertrag. Hintergrund für diesen Angriff bildet die seit Jahren stagnierende Binnennachfrage und der enorme Verdrängungswettbewerb in unserer Branche. Hinter der Forderung der Arbeitgeber nach einer „Modernisierung“ der Tarifverträge verbarg sich ein Programm zur Senkung des Lohnniveaus. Konkret wollten sie die Kassiererinnen und Kassierer stärker abgruppieren. Zum Beispiel sollte die Kassiererzulage in Höhe von 4 Prozent zum Monatsentgelt ersatzlos gestrichen werden. Sie wollten eine Niedriglohngruppe für die Beschäftigten einführen, die überwiegend mit Warenverräumung und Warenbearbeitung beschäftigt sind und unsere Arbeitszeit stärker flexibilisieren.
Mit der Einigung wird nun der Manteltarifvertrag wieder rückwirkend in Kraft gesetzt. Die Abgruppierung der Kassiererinnen wurde verhindert und es gibt keine noch weitergehende Flexibilisierung der Arbeitszeit. Allerdings enthält die Einigung auch Zugeständnisse an die Arbeitgeber: Es gibt die neue Entgeltgruppe für die „Warenverräumung“. Hier ist aus überwiegender Tätigkeit, ausschließlich geworden. Es gibt die Verpflichtung, bis 2015 zu neuen Entgeltstrukturen und zu einer flexibilisierten Arbeitszeit zu kommen. Obwohl sich ver.di ursprünglich gegen eine Lohngruppe zur Warenverräumung gestellt hat, wurde die neue Regelung nicht als Problem gesehen. Im Gegenteil, jetzt gibt es eine Tarifregelung, mit der der Ausgliederung von Regal-Auffülltätigkeiten entgegengewirkt werden soll: In Betrieben, die vollständig auf Werkverträge verzichten, können Neueingestellte, die ausschließlich diese Tätigkeit ausüben, zu einem Tariflohn von 9,54 Euro im ersten Schritt und 9,74 Euro im zweiten Schritt beschäftigt werden. Anders als von den Arbeitgebern ursprünglich gefordert, gilt die neue Entgeltgruppe also nicht für gemischte Arbeitstätigkeiten und gibt diesen so wenig Spielraum. Und tatsächlich liegt der Stundenlohn deutlich über dem ausgelagerter Werkvertragsnehmer von 7,50 und oft noch deutlich weniger. Ob es denn tatsächlich so sein wird, muss sich erst noch in der Praxis zeigen, denn es erschließt sich nicht, aus welchem Beweggrund heraus ein Arbeitgeber, der über Werkvertragsstrukturen nachts Studenten für einen Armutslohn beschäftigt, diesen nun nicht nur 50 Prozent mehr Entgelt sondern plötzlich auch tarifliche Zuschläge und Urlaubs- und Weihnachtsgeld zahlen soll. Das macht keinen Sinn. Diese Leute über Werkvertragsstrukturen am Tarifvertrag vorbei einzustellen war doch genau das Ziel. Warum sollten also Arbeitgeber ihre Leute über diesen Passus zurück in die Tarifbindung holen? Auch wenn die Regelung – vor allem dank der Streikenden aus BaWü – deutlich von dem entfernt ist, was die Arbeitgeber ursprünglich wollten, sollte dieses Ergebnis nicht schön geredet werden. Von so einem Stundenlohn kann man nicht gut leben und deshalb ist und bleibt es meiner Meinung nach eine Niedriglohngruppe. Es gibt überhaupt keinen Automatismus, dass die Arbeitgeber die ausgelagerten Tätigkeiten nun zurückholen. Und es stellt sich die Frage, was dies für tarifgebundene Unternehmen bedeutet, die bisher die Warenverräumung noch in Eigenriege erbringen. In einigen Kaufland-Filialen in Berlin gibt es zumindest noch Beschäftigte, die in ihrer Arbeitstätigkeiten ausschließlich Waren verräumen und deutlich höhere Stundenlöhne erhalten. Sie haben Bestandsschutz, aber Neueinstellungen könnten zu den deutlich schlechteren Konditionen erfolgen. Hier wird es davon abhängen, ob es vor Ort überhaupt einen Betriebsrat gibt (was im Einzelhandel nicht selbstverständlich ist) und ob dieser zudem sich nicht als Co-Management begreift sondern klar und kämpferisch die Interessen der Beschäftigten vertritt.
Betrachtet man die Einigung insgesamt, so ist es uns zunächst erfolgreich gelungen einen Durchmarsch der Arbeitgeber zu verhindern. Das war so im Vorfeld so nicht absehbar und geht auf die überraschend kämpferische Streikbeteiligung neuer Unternehmen im Einzelhandel zurück. Trotzdem ist eine ehrliche Bilanz nötig. Die Arbeitgeber haben die Tür zur „Modernisierung“ der Tarifverträge geöffnet bekommen. Insbesondere, dass nun im Vorfeld der nächsten Tarifrunde, also während der Friedenspflicht, Gespräche zur Vorbereitung einer Einigung auf eine neue Entgeltstruktur geführt werden sollen, könnte sich als äußerst problematisch herausstellen, da diese Vorverhandlungen meist ohne Mobilisierung und Aktivierung der Beschäftigten vonstatten gehen.
Zusammenfassend bewerte ich es positiv, dass es uns gelungen ist, eine Lohnerhöhung von 5,1 Prozent zu vereinbaren. Ansonsten haben wir die Ost-West-Angleichung nicht hinbekommen, haben jetzt eine Niedriglohngruppe im Handel und müssen mittels Prozessvereinbarung über neue Entgeltstrukturen und die Flexibilisierung unserer Arbeitszeit unter Friedensbedingungen mit den Arbeitgeber verhandeln.
Im Öffentlichen Dienst und Metallbereich beinhalteten Modernisierungen des Tarifvertrages zahlreiche Verschlechterungen für die Beschäftigten. Was bedeutet die Prozessvereinbarung für euch?
In diesem sogenannten Tarifvertrag zur Weiterentwicklung der Tarifverträge also Prozessvereinbarung sind wie in Baden-Württemberg neben dem ersten Punkt „Entgeltstruktur/Entgeltfindung“ noch die Punkte 2. Arbeitszeit und 3. Demografie vereinbart. In Berlin-Brandenburg zusätzlich und an zweiter Stelle das Thema der Ost-West-Angleichung bei den tariflichen Sonderzahlungen Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Ich bewerte diese Prozessvereinbarung kritisch; gerade die Verpflichtung zu Neuverhandlung der Entgeltstruktur. Diese ist auch innerhalb von ver.di in den letzten Jahren äußert umstritten. Während die ver.di-Bundesführung dies mit den Arbeitgebern bereits verhandelte, in dem Glauben so die Tarifverträge für die Arbeitgeber wieder attraktiver zu machen, beschlossen 2012 relevante ver.di-Landesfachbereiche wie z.B. Baden-Württemberg den Ausstieg aus diesem Projekt. Das wichtigste Argument war, dass dieses Vorhaben unter den derzeitigen Kräfteverhältnissen nur zu Verschlechterungen führen kann. Dem folgte dann die Kündigung der Manteltarifverträge bundesweit durch die Arbeitgeber Anfang 2013. Nun wurde mit dem Abschluss die Einigkeit der Tarifvertragsparteien formuliert, zu einem neuen überarbeiteten Tarifvertrag mit einer neuen Entgeltstruktur zu kommen. Dazu gehören die Grundsätze der Entgeltfindung und die Neugestaltung der Eingruppierung der aktuellen Tätigkeiten im Handel nach Warenverräumung, Kassierertätigkeiten, Verkaufstätigkeiten usw. Es wird eine Verhandlungsphase definiert, die am 31. März 2015 endet, einvernehmlich verlängert werden kann und für die ein Mediations- und Schlichtungsverfahren vorgesehen ist. Und ver.di musste unterschreiben, die Verhandlungen in der Verhandlungsphase unter Friedensbedingungen, das heißt ohne Arbeitskampf zu führen.
Damit ist es den Arbeitgebern gelungen, den Zustand vom Jahr 2012 wieder herzustellen, wo auch ein Teil von ver.di seit Jahren ganz in sozialpartnerschaftlicher Manier zu Verhandlungen zu Bedingungen einer Friedenspflicht bereit gewesen ist. Es wird jetzt auf die Auseinandersetzungen innerhalb von ver.di ankommen, dass sich nicht in geschlossenen Verhandlungsrunden auf möglichen Änderungen der Entgeltstruktur festgelegt wird, die den Beschäftigten nichts nützt und ohne den Streik als Mittel der Auseinandersetzung zu nutzen. Zunächst ist es uns gelungen einen Durchmarsch der Arbeitgeber zu verhindern. Das war so im Vorfeld nicht absehbar und geht auf die überraschend kämpferische Streikbeteiligung zurück. Trotzdem ist eine ehrliche Bilanz nötig. Die Arbeitgeber haben die Tür zur „Modernisierung“ der Tarifverträge durch die Prozessvereinbarung geöffnet bekommen.
Der Einzelhandel zählte ja bisher nicht zu den Bataillonen der Gewerkschaftsbewegung. Wie ist der Arbeitskampf gelaufen?
In der Tarifrunde 2007/2008 haben wir angefangen mit vier Kolleginnen und Kollegen zu streiken, was einem Organisationsgrad von weit unter 10 Prozent in unserem Haus geschuldet war. Nach und nach beteiligten sich weitere Kolleginnen und Kollegen und wir waren irgendwann 13 bis 15 Streikende, was noch immer die Minderheit im Haus widerspiegelte. 2013 waren mittlerweile 50 von 60 Kolleginnen und Kollegen gewerkschaftlich organisiert und der Großteil von ihnen hatte auch „richtig Bock auf Aktionen“. Diese Tarifrunde hat aber auch gezeigt, dass die aktiven Belegschaften nicht mehr so streiken wollten, wie es einige Hauptamtliche aus den letzten Jahrzehnten gewohnt waren. Eine der wichtigsten Lehren der Streikbewegung 2013 ist das enorme Potential und die Kreativität der Beschäftigten im Arbeitskampf. Durch gemeinsame kollektive Aktionen stieg das Selbstbewusstsein der Beschäftigten und es fanden gewerkschaftliche Entwicklungen statt, die zu normalen Zeiten unter Friedensbedingungen kaum denkbar gewesen wären.
Wenn ich da allein an unsere Filiale denke: Wie oft standen wir vor der Entscheidung, entweder über uns hinauszuwachsen, in dem wir etwas Neues ausprobieren oder unsere innere Existenzangst Herr über unser Handeln werden zu lassen? So forderten wir Streiks vor unserem Standort ein, die wir ohne hauptamtliche Unterstützung abhielten und mit Unterstützerinnen und Unterstützern aus dem linken antikapitalistischen Milieu probierten wir neue Aktionsformen wie ein politisches Straßentheater aus. Auch das Flyern musste erst gelernt werde,n aber es dauerte nicht lange und eine Traube von gerade mal 25 streikenden Beschäftigten einer H&M-Filiale verteilte ohne mit der Wimper zu zucken mehr als 1.000 Flyer an Passantinnen und Passanten „nebenbei“.
Wir probierten den Rein-Raus-Streik aus, indem wir immer wieder den Laden verließen und nach einer Stunde erneut die Arbeit niederlegten. Am Designertag, an dem am 14.11. in ausgewählten H&M-Filialen eine besondere Kollektion verkauft wird, legten wir mitten im größten Trubel mutig die Arbeit nieder und bauten uns draußen vor unserer Filiale auf und informierten die Kundinnen und Kunden über unseren Arbeitskampf. Das war alles nicht selbstverständlich, wir mussten uns sehr oft überwinden und haben uns gegenseitig Mut zugesprochen. Jeder Streik erfordert gemeinsame Diskussionen aber auch mutige Entscheidungen. Jede erfolgreiche Aktion bestärkte das Selbstbewusstsein meiner Kolleginnen und Kollegen enorm. In meiner 13-jährigen Tätigkeit kann ich rückblickend sagen, dass es nie eine bessere teambildende Maßnahme in unserem Haus gegeben hat, als den Streik und das dadurch erfahrende und gelebte Gemeinschaftsgefühl, dass wir a) ein Team sind, b) bereit sind für unsere Rechte zu streiken und c) uns auch nicht scheuen, neue Streikaktivitäten auszuprobieren und notfalls auch voranzugehen.
Im Streik haben sich viele Kolleginnen und Kollegen neu aktiviert. Betriebe und Filialen haben sich vernetzt. Ihr habt euch aktiv in die Streikorganisation eingebracht. Wie kann darauf aufgebaut werden?
Ich denke, dass jetzt zunächst erst einmal der Abschluss ausgewertet werden muss, inhaltlich und politisch. Danach sollte unbedingt aber auch die Tarifrunde intern ausgewertet werden, was lief gut, was besser als erwartet und was ging völlig daneben oder funktionierte gar nicht? Und zwar schonungslos ehrlich. Und hier müssen auch ehrliche Worte über die auffallende Diskrepanz zwischen aktiven Ehrenamtlichen und einigen hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionären angesprochen werden.
Der Tarifkonflikt hat klar gezeigt: die Beschäftigten im Einzelhandel können trotz der widrigen Bedingungen erfolgreich kämpfen und sich nötigenfalls auch selbst organisieren. Für neue Streikformen wurde oft sehr viel Mut und Kreativität von einzelnen Belegschaften an den Tag gelegt. Der Konflikt zeigte aber auch, dass es an einer bundeseinheitlichen Streikstrategie bei ver.di fehlte. Wenn ich darüber nachdenke, dann komme ich zu zwei Schlussfolgerungen: Entweder war der Gewerkschaftsapparat überfordert ob des kämpferischen Engagements einzelner Belegschaften oder eine bundeseinheitliche Strategie war politisch nicht gewollt. Beide Schlussfolgerungen bereiten mir arg Bauchschmerzen mit Blick auf zukünftig zu erwartende Angriffe der Arbeitgeber auf unsere Arbeitsbedingungen. Sämtliche Möglichkeiten, positive Erfahrungen zu verallgemeinern, die Streikbewegung auszuweiten, zuzuspitzen und zu politisieren blieben leider ungenutzt.
Der Streik beförderte bei uns das Bewusstsein, sich gemeinsam zu organisieren. In Berlin/Brandenburg wurde aus dem Streik eine filialübergreifende ver.di-Betriebsgruppe bei H&M gegründet. Die Beschäftigten von Thalia, Kaufland, IKEA, REWE und H&M tauschten sich bei den Streiks immer wieder über mögliche Strategien aus und planten gemeinsame Aktionen. Den Hintergrund bildeten oft kämpferische Kerne, die sich in einzelnen Belegschaften über die letzten Jahre gebildet haben. Ihre Aktionen strahlten positiv auf auf Kolleginnen und Kollegen anderer Unternehmen aus und halfen so, innerhalb ver.di Druck für eine mutigere Streikstrategie zu machen. Es ist sind diese unschätzbaren Erfahrungen, die die Streikbewegung hervorgebracht hat und die für eine kämpferische Gewerkschaftslinke wichtig sind. Denn diese Erfahrungen stehen völlig konträr zu den normalen herkömmlichen Alltagserfahrungen in einer neoliberalen Arbeitswelt: Das Bewusstsein der meisten Beschäftigten besteht aus Vereinzelung, Konkurrenz und Machtlosigkeit. Im Streik wird dagegen von den Beschäftigten selbst eine ganz andere Perspektive aufgezeigt und erfahren, nämlich sich selbst zu organisieren und die eigenen Interessen vertreten zu können.
Darüber hinaus fand auch eine Vernetzung außerhalb der Branche im antikapitalistischen linken Milieu statt. Eine Aktivenbasis während einer Streikauseinandersetzung aufzubauen, war harte Arbeit. Das wird im Vorfeld zukünftiger Auseinandersetzungen nun aber auch strukturierter stattfinden. Hier war der Erfahrungsaustausch mit Aktiven aus der Charité zu ihrem Soli-Bündnis nahezu eine Erleuchtung. So positiv die einzelnen Streikerfahrungen sind, so wenig selbstverständlich waren sie zugleich. Generell bleibt festzuhalten: der Erfolg und die Dynamik einer Streikbewegung hängt davon ab, ob sich im Vorhinein die Streikwilligen organisieren und wie dann, die Streikenden in die Gestaltung des Streiks aktiv einbezogen werden. Beides ist keinesfalls selbstverständlich. Die Erfahrungen aus Baden-Württemberg, insbesondere aus Stuttgart und erste Ansätze auch in anderen Bundesländern zeigen aber: auf diese Weise kann seitens der Beschäftigten mehr Beteiligung organisiert werden, was wiederum eine wesentlich größeren Aktionsradius während des Streiks möglich macht. Und das haben wir gelernt und werden uns dementsprechend vorbereiten. Unmittelbar verbunden damit ist die Frage der innergewerkschaftlichen Demokratie. Denn es braucht auch Foren wie Streikdelegiertentreffen, lokal und bundesweit, auf denen die Erfahrungen ausgewertet und nächsten Schritte geplant werden. Darüber hinaus finde ich es problematisch, wenn sich in den Tarifkommissionen viele Vertreter von nicht bestreikten Betrieben wiederfinden und die Streikenden nur beschränkt über ihren Arbeitskampf entscheiden können.
Muss sich in ver.di etwas ändern?
Da der Grundkonflikt mit den Arbeitgebern um den Manteltarifvertrag nur vertagt worden ist, gilt es diese vorhandene Atempause sowohl intern als auch extern zu nutzen. Notwendig ist eine stärkere Vernetzung kämpferischer Betriebsaktivisten, um die Erfahrungen der Streikbewegung aufzuarbeiten, Druck auf den ver.di-Apparat aufzubauen und sich auf die kommenden Auseinandersetzungen vorzubereiten. In der Streikbewegung wurden zudem neue Erfahrungen der Solidaritätsarbeit gemacht, die es weiter zu entwickeln gilt. Ver.di wäre gut darin beraten, wenn sie die Ansätze innergewerkschaftlicher Demokratieversuche nicht sofort im Keim ersticken, sondern diese Energie für zukünftige Auseinandersetzungen zu nutzen wissen. Ver.di sind wir und nicht die hauptamtlichen Funktionäre. Wir haben Bedürfnisse und wir sind bereit, für diese auch zu kämpfen. Über die Art und Weise, wie oft und wie wir streiken, können, wollen und werden wir Streikenden zukünftig mitentscheiden. Ab welchem Zeitpunkt aufgrund von veränderter Verhandlungslage zwischen ver.di und Arbeitgebern Streikmaßnahmen eingestellt werden sollen, werden wir Streikenden zukünftig mitentscheiden. Und wenn ver.di uns dieses Forum in der nächsten Tarifrunde nicht zur Verfügung stellt, dann haben wir uns im Zuge dieser Tarifrunde soweit emanzipiert, dass wir uns dieses Forum dann selber schaffen werden. Die Zeiten haben sich geändert und davor können hauptamtliche ver.di-Funktionäre die Augen nicht mehr verschließen. Und wenn sie nicht in der Lage sind, diese neu entstanden kämpferischen Bewegungen positiv auf die nächste Tarifrunde zu übertragen, dann haben sie ganz offensichtlich den falschen Job gewählt.
Grundsätzlich täte es ver.di ganz gut, den Leuten im Handel nicht das Gefühl zu vermitteln, sie wären minderbemittelt und deswegen müssten die Hauptamtlichen die Entscheidungen für uns übernehmen, weil sie es besser wüssten. Hier haben sich in der Tat gerade im letzten Monat der Tarifrunde Abgründe aufgetan, über die definitiv noch zu reden sein wird. Aber zumindest wissen wir jetzt, woran wir sind und können uns dementsprechend auch darauf vorbereiten, dass die nächste Tarifrunde auch wieder eine Auseinandersetzung innerhalb der Gewerkschaftsbürokratie werden wird. Aber wir Ehrenamtlichen werden dann anders aufgestellt sein von Beginn an.
Zu einer ehrlichen Bilanz gehört auch die Feststellung, dass die Möglichkeiten des Arbeitskampfes nicht ausgereizt wurden. Eine großes Problem für eine bundesweite Streikbewegung bestand in der sehr ungleichen regionalen Kampfkraft aber auch nach Unternehmensgruppen. Auf Baden-Württemberg entfiel die Hälfte aller bundesweiten Streiktage, Kolleginnen und Kollegen von H&M streikten im Süden über 80 Tage. In anderen Bundesländern gab es nicht nur deutlich weniger Streiktage, sondern wie hier in Berlin/Brandenburg ein starkes Gefälle zwischen Geschäften mit mehr als 40 Streiktagen und Warenhäusern mit nur einigen wenigen bis gar keinen Streiktagen. Man muss auch ehrlich sagen, dass seitens der bundesweiten ver.di-Führung und anderen Landesbezirken kaum Versuche unternommen wurden, um diese Kluft zu überwinden. Auch gab es keine bundesweite Streikstrategie. Es wurde für die Streikaktivisten kein Forum geschaffen, die unterschiedlichen Kampferfahrungen auszutauschen und nächsten Schritte für gemeinsame Mobilisierungen und über eine Zuspitzung der Streikbewegung zu beraten. Aber statt solche Prozesse für das Entstehen einer tatsächlichen bundesweiten Streikbewegung zu befördern und den Konflikt zu politisieren, setzte die ver.di-Führung hinter den Kulissen auf eine mögliche Einigung mit den Arbeitgebern. Offensichtlich zog die ver.di-Spitze diesen Weg einer Zuspitzung der Auseinandersetzung vor. Entweder in dem fehlenden Glauben, die Streiks ausweiten zu können oder der Angst hier einen Prozess in Gang zusetzen, der sich nicht mehr kontrollieren lassen kann.
Die nun verordnete Atempause stellt Ehren- wie Hauptamtliche vor eine Herausforderung: Gelingt es in der nächsten Zeit die kämpferischen Kolleginnen und Kollegen stärker zu vernetzen, um beim nächsten Konflikt von Anfang an organisierter die Probleme und Herausforderungen anzugehen? Das ist eine der entscheidenden Fragen für die Beschäftigten im Einzelhandel und obendrein ist es eine Zukunftsfrage für die gesamte Gewerkschaftsbewegung.