Schritte in die falsche Richtung – jetzt die Linke in der LINKEN stärken!
Vielen Presseberichten über den Europaparteitag zufolge hat Gregor Gysi die sogenannten „Radikalen“ in Hamburg in Schach gehalten und die Linkspartei dort „auf Regierungsfähigkeit getrimmt“. Vieles daran ist sicher Wunschdenken in den bürgerlichen Medien und in der SPD: Die Kritik an seinen EU-freundlichen Positionen war auf dem Parteitag nicht zu überhören. Richtig bleibt aber, dass den Regierungsambitionen von Teilen der Parteiführung in Hamburg politische Wahrheiten über den Charakter der Europäischen Union geopfert wurden – und KandidatInnen, die ihnen im Europaparlament eine glaubwürdige Stimmen verleihen könnten.
Von Heino Berg, Göttingen
Die wichtigsten inhaltlichen Weichen wurden dafür bereits unmittelbar vor der Eröffnung des Parteitags gestellt. VertreterInnen der „Sozialistischen Linken“ hatten einer Neuformulierung der Wahlprogrammpräambel durch Mitglieder des hessischen Landesvorstands und Mitglieder des Forum demokratischer Sozialismus (FDS) zugestimmt, in der die EU nicht mehr als „neoliberal, militaristisch und weitgehend undemokratisch“, sondern als offener Rahmen für soziale Veränderungen beschrieben wird. Auch wenn das bei Sahra Wagenknecht und anderen Parteilinken nur zähneknirschend und aus Rücksicht auf die neuen Mehrheitsverhältnisse unter den Delegierten geschehen ist: Wer die Institutionen der EU im Kern akzeptiert und nur noch ihre „sozialen und demokratischen Defizite“ abmildern möchte, hat ihre kapitalistischen Grundlagen bereits aus dem Blick verloren. Eine grundsätzliche Alternative zu diesem Europa der Banken und Konzerne und zu prokapitalistischen Parteien bis hin zur AfD ist im Europawahlkampf jedenfalls schwer erkennbar.
Nachdem Alternativanträge des hessischen Landesvorstands offiziell zurückgezogen waren, um inhaltliche „Kampfabstimmungen“ auf dem Parteitag zu vermeiden, hatte der größte Teil des linken Parteiflügels die Segel gestrichen. Der Vorschlag von AKL-VertreterInnen bei der gemeinsamen Vorbesprechung am Freitag, wenigstens den umstrittenen Satz zum neoliberalen, militaristischen und undemokratischen Charakter der EU in das Wahlprogramm zurückzuholen, wurde von den anderen linken Netzwerken in der Partei leider nicht aufgegriffen.
Generaldebatte
Nach der blassen Einführung durch Katja Kipping, die – ähnlich wie Bernd Riexinger später – den seit Monaten debattierten Streitfragen in der Partei auswich, wandten sich Wolfgang Gehrke und Sahra Wagenknecht mit scharfen Worten gegen eine „gezähmte Linke“, wie sie sich die bürgerlichen Medien und die SPD wünschen würden. Die LINKE, so Gehrke, sei eine „sozialistische Partei“ und müsse sich auch mit sozialistischen Alternativen im Wahlkampf präsentieren, ohne allerdings zu erwähnen, dass sich das Wahlprogramm auf soziale und demokratische Veränderungen der bestehenden EU beschränkt. Sahra Wagenknecht geißelte die EU als „Fassadendemokratie“, die eine soziale Verelendung in Europa zugunsten der Bankenprofite organisiere, warb jedoch ähnlich wie Janine Wissler für die Zustimmung der Delegierten zu einem Programmkompromiss, der diese Fassade lediglich sozialer und demokratischer anstreichen möchte.
Die Vertreter des Realo-Flügels wie Wulf Gallert oder Jan Korte begrüßten ebenfalls die Einigung auf eine gemeinsame Beratungsgrundlage, warnten jedoch vor radikaler EU-Kritik im Wahlkampf, die die WählerInnen verschrecken könnte. Die europäische Linke habe durchaus demokratische Fortschritte in der EU durchgesetzt, die gegen die Politik von Merkel verteidigt werden müssten. Jan Korte bemühte zu ihrer Verteidigung seine Jugenderinnerungen mit dem Interrailticket und verwies darauf, dass in seiner Heimatstadt sogar der „Lenin-Platz“ mit EU-Mitteln saniert worden sei…
Während diese Anekdoten in der Generaldebatte eher hilflos und defensiv wirkten, erhielten die Beiträge des linken Parteiflügels viel Unterstützung im Plenum: Florian Wilde rief die verheerende Bilanz von linken Regierungsbeteiligungen in Europa (und vor allem in Italien) in Erinnerung. Sevim Dagdelen sprach sich gegen eine Aufweichung linker Programmziele in ihrer Haltung zur Nato und zum Austritt der BRD aus diesem Kriegsbündnis aus. Karin Binder und Inge Höger wandten sich ausdrücklich gegen einen Verzicht auf die ursprüngliche Präambel des Wahlprogramms, nur weil die bürgerlichen Medien und die SPD-Führung dies als Preis für eine künftige Regierungsbeteiligung der LINKEN verlangt hätten.
Bei den Antragsdebatten selbst hatten solche Initiativen dennoch wenig Chancen, den zwischen den Parteiflügeln scheinbar einvernehmlich verabredeten Textentwurf noch substantiell zu ändern. Wichtige Änderungsanträge gingen neben Detailanträgen unter und kamen nicht mehr in die inhaltliche Beratung. Das galt sowohl für den o.g. Rückholungsantrag der AKL zur Präambel, als auch für den von Lucy Redler eingebrachten AKL-Antrag, sozialistische Alternativen zum bürgerlichen Nationalstaat einerseits und zur kapitalistischen EU andererseits im Wahlkampf darzustellen.
Viele Delegierte, die im Unterschied zu früheren Parteitagen zu etwa zwei Dritteln aus den mitgliederstarken Ost-Landesverbänden entsandt waren, vertrauten offensichtlich den Äußerungen von VertreterInnen der „Sozialistischen Linken“ und des Netzwerks „Freiheit durch Sozialismus“, dass ein auch für die Parteilinke vertretbarer Kompromiss gefunden worden sei. Das Wahlprogramm wurde auf diesem Hintergrund mit nur wenigen Gegenstimmen verabschiedet.
Personalentscheidungen
Wenn die „Linken in der LINKEN“ geglaubt hatten, bei den Personalentscheidungen über die aussichtsreichen Listenplätze für ihre Kompromissbereitschaft bei den Inhalten entschädigt zu werden, sahen sie sich getäuscht. Der vom Bundesausschuss beschlossene Listenvorschlag, der VertreterInnen des Realo-Flügels wie Gabi Zimmer auf Platz 1 ebenso wie AntikapitalistInnen wie Tobias Pflüger oder Sabine Wils berücksichtigte, wurde nicht nur im Vorfeld von Gregor Gysi und dem FDS in Frage gestellt, sondern durch die neuen Mehrheiten in Hamburg dann endgültig über den Haufen geworfen. Das Ergebnis ist eine Liste für die Europawahlen, wo der linke Parteiflügel auf den ersten zehn Plätzen nur noch durch Sabine Lösing und Fabio di Masi auf den Plätzen 5 und 6 repräsentiert wird und das politische Profil der Linken im Europaparlament noch weniger als bisher prägen kann.
Damit ist auch für den Europawahlkampf ein politischen Kurs zu befürchten, mit dem Die LINKE die in der Bevölkerung weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Politik von EU-Kommission und Troika nicht ausreichend berücksichtigen und linke Alleinstellungsmerkmale gegenüber SPD und Grünen unter die Räder kommen könnten.
Fazit
Beim Parteitag in Hamburg hat sich das politische Kräfteverhältnis in der Linkspartei im Zuge ihrer Öffnung gegenüber rot-rot-grünen Regierungskoalitionen weiter nach rechts verschoben, auch wenn die Debattenbeiträge dort häufig einen ganz anderen Eindruck vermittelt hatten. Das verabschiedete Wahlprogramm signalisiert, dass die Partei bei aller Kritik an der EU-Politik ihre Institutionen für reformierbar hält, obwohl diese nie etwas anderes als ein Zusammenschluss der führenden kapitalistischen Mächte auf dem Kontinent gegen die Konkurrenz aus Übersee einerseits und gegen die Arbeiterklasse in Europa andererseits gewesen ist und das auch in Zukunft bleiben wird. Der linke Parteiflügel außer der AKL, Geraer Dialog/Sozialistischer Dialog, der SAV und einzelnen Anderen hat sich durch die Pressekampagnen von Gregor Gysi und seinen FDS-Freunden gegen die angeblichen „Anti-Europäer“ in der LINKEN in die Defensive drängen lassen und darauf verzichtet, für unbestreitbare Wahrheiten über die EU unter den Delegierten um demokratische Mehrheiten zu kämpfen. Die schleichende Rechtsverschiebung in der Partei in Richtung Öffnung für Regierungsbündnisse mit SPD und Grünen macht es aber nötig, dass die Parteilinke umso konsequenter für eine klare Politik der Interessenvertretung für abhängig Beschäftigte und sozial Benachteiligte und für antikapitalistische Positionen eintritt. Die linken Strömungen und Netzwerke in der Partei sollten eine selbstkritische Bilanz ihrer bisherigen Arbeit ziehen und die Diskussion darüber für alle Mitglieder öffnen.
Trotz der schlechten Kompromisse bei ihrem Hamburger Parteitag bleibt Die LINKE die einzige Partei in Deutschland, welche die Bankenrettungspolitik in Europa, Privatisierungen und Sozialabbau ablehnt und die sozialen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung zum Ausdruck bringt. Das unterscheidet sich auch weiterhin grundsätzlich vom neoliberalen Einheitsbrei einschließlich SPD und Grünen. Die „Linke in der LINKEN“ sollte mit antikapitalistischen Initiativen und Forderungen vor Ort dafür kämpfen, dass diese Positionen und das Ergebnis der LINKEN im Europawahlkampf gestärkt werden.
Heino Berg ist Mitglied des SAV-Bundesvorstands und des AKL-Landessprecherrats in Niedersachsen.