Eine Auseinandersetzung mit Helen Wards „Marxismus versus Moralismus“
In der aktuellen Debatte zu Prostitution werden viele absurde Positionen vertreten. Helen Wards Artikel „Marxismus versus Moralismus“ macht den Versuch, die Debatte zu Prostitution von marxistischer Position her zu beleuchten. Deshalb ist er ein wichtiger Beitrag. Denn der Ansatz, das Phänomen „Prostitution“ materialistisch und ökonomisch zu betrachten, statt es mit wie auch immer gearteten moralischen Maßstäben zu messen, ist grundsätzlich richtig.
von Ianka Pigors
Sie hat zweifellos recht, wenn sie erklärt, dass ein Ansatz, der die Notwendigkeit, Prostitution zu bekämpfen, damit begründet, dass eine extrem intime menschliche Regung, wie die Sexualität, nicht zur Ware gemacht werden darf, auf einer sehr romantisierten Vorstellung menschlichen Verhaltens im Kapitalismus beruht. Sie beschreibt zutreffend, dass es nicht die Prostitution ist, die die Sexualität aus der Sphäre der „einvernehmlichen Freuden“ gerissen hat, sondern die patriarchale Klassengesellschaft als solche. Eine Klassengesellschaft, die sexuelle Beziehungen und wirtschaftliche Interessen kaum trennbar miteinander verschmolzen hat, bedarf nicht der Prostitution, um die „freie Liebe“ ins Reich romatischer Träume zu verbannen. Millionen von Frauen und Mädchen, die auch heute noch mit oder ohne ihre Zustimmung in ökonomische Abhängigkeiten von Männern gezwungen worden sind, können hiervon beredetes Zeugnis ablegen.
Auch die Frage, ob sexuelle Handlungen tatsächlich um so viel intimer sind, als die unzähligen anderen menschlichen Regungen, die ebenfalls der kapitalistischen Verwertung unterworfen sind, oder ob dies lediglich eine gesellschaftliche Zuschreibung ist, sollte sich alle Menschen stellen, die sich mit dem Problem Prostitution auseinandersetzen.
Charakter der Prostitution
Leider scheitert Ward bei dem Versuch, die Prostitution an Hand des marxistischen Arbeitsbegriffs zu definieren und revolutionäre Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Sie erklärt zunächst, dass Prostituierte sexuelle Dienstleistungen erbringen und nicht ihren Körper verkaufen oder vermieten. Dies ist, wenn man von Sklavereiverhältnissen, die in diesem Bereich nicht selten sind, absieht, sicherlich richtig.
Sie erklärt dann, dass Prostituierte, die – zum Beispiel in einem Bordell – durch einen Unternehmer nach Stunden bezahlt werden, in einem kapitalistischen Lohnarbeitsverhältnis stehen. Auch dies ist richtig, da in diesen Fällen ein Kapitalist Kapital einsetzt, um durch Verwertung der von der Prostituierten erworbenen Arbeitskraft mehr Kapital zu generieren. Das Austauschverhältnis beginnt mit dem vom Unternehmer einzusetzenden Kapital und endet mit einer – durch die Verwertung der Arbeitskraft vergrößerten – Kapitalsumme.
Menschen, die in solchen Verhältnissen arbeiten, haben wie alle anderen ArbeiterInnen einen Interessenkonflikt mit dem Unternehmer. Sie wollen möglichst viel Geld für ihre Arbeitskraft erhalten, während der Unternehmer einen möglichst großen Anteil der Arbeitskraft unentgeltlich für das Erwirtschaften seines Profits verwerten möchte.
Prostituierte haben potentiell die Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren und durch das Mittel des Streiks Lohnerhöhungen zu erzwingen. Eine gewerkschaftliche Organisierung innerhalb der Organisationen der Arbeiterklasse ist daher grundsätzlich möglich. Selbst Ward räumt allerdings ein, dass diese Art von Arbeitsverhältnissen im Bereich der Prostitution mit 1 Prozent Anteil (Gutachten im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, 2007) die absolute Ausnahme sind.
Die meisten Prostituierten leben zwar in wirtschaftlicher Abhängigkeit von Zuhältern oder Vermietern von Stundenhotels, sie sind jedoch nicht lohnabhängig.
Sie tauschen sexuelle Dienstleistungen gegen das Geld, das sie für ihren Lebensunterhalt verwenden. Am Anfang und am Ende dieses Austauschprozesses stehen Gebrauchswerte. Er beginnt mit der angebotenen Dienstleistung und endet mit Lebensmitteln,Kleidung etc zum persönlichen Verbrauch durch die Prostituierte (auch wenn diese zunächst noch in Form des Geldes übergeben werden). Kapital entsteht in diesem Prozess nicht.
Prostituierte in solchen Verhältnissen sind wirtschaftlich eher mit selbstständigen Dienstleistern wie Schuhputzern oder mit Landpächtern zu vergleichen, als mit normalen ArbeiterInnen. Marxistisch betrachtet sind sie nicht Teil der Arbeiterklasse im eigentlichen Sinne.
Sie haben auf der einen Seite einen Interessenkonflikt mit den Anbietern der von ihren in Anspruch genommenen Dienstleistungen (Zuhälter, Vermieter), denen sie möglichst wenig zahlen möchten, auf der anderen Seite besteht der Interessenkonflikt mit den Freiern, die möglichst hohe Preise für die Dienste der Prostituierten zahlen sollen. Für die Durchsetzung der Interessen dieser Prostituierten ist die Organisation in Gewerkschaften nicht geeignet.
Sie können lediglich Kooperativen gründen, in denen sie Absprachen über Mindestpreise treffen oder versuchen, die Zahlungen an Vermieter, Zuhälter und andere durch kollektive Boykottmaßnahmen zu begrenzen. Auch wenn diese Prostituierten keine ArbeiterInnen im klassischen Sinnen sind, gehören sie jedoch ganz überwiegend zu den VerliererInnen in der kapitalistischen Gesellschaft. Sie sind dadurch wie Kleinbauern, Handwerker, Straßenhändler und andere potentielle Partner für taktische Bündnisse mit der Arbeiterklasse im Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Mehrheit der Menschen.
Ginge es nur um Fragen der Verbesserung der Einkommensverhältnisse, wäre es zweifellos die Aufgabe der Arbeiterbewegung, die gewerkschaftliche oder kooperative Organisierung von Prostituierten vorbehaltslos zu unterstützen.
Eine gesellschaftliche Frage
Als SozialistInnen fordern wir jedoch nicht nur ein paar Brötchen, wir wollen die ganze Bäckerei.
Wir wollen nicht nur die finanzielle Versorgung der Mehrheit der Bevölkerung verbessern, sondern auch eine lebenswertere Gesellschaft schaffen. Unser Ziel ist die demokratische Planung der gesamten Wirtschaft nach den Bedürfnissen der Menschen.
In einer Gesellschaft, in der das Kapital völlig frei von jeden moralischen Bedenken nach Anlagemöglichkeiten sucht, wird menschliche Arbeitskraft zu allen erdenklichen Zwecken eingesetzt. Viele dieser Zwecke sind gesellschaftlich hochgradig schädlich, auch wenn die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Einzelfall sogar recht angenehm sein mögen.
Bei aller Solidarität mit den Armen und Ausgebeuteten kann es uns daher auch heute nicht egal sein, was produziert und verkauft wird. Es gibt Wirtschaftsbereiche, in denen ArbeiterInnen tätig sind, die wir aber im Interesse der gesamten Arbeiterklasse abschaffen wollen und müssen.
Daher haben SozialistInnen zum Beispiel immer die gewerkschaftliche Organisierung und den Kampf der Beschäftigten um höhere Löhne in der Waffenindustrie unterstützt, sie haben diesen Kampf jedoch auch immer mit der Forderung nach alternativer Produktion verbunden.
Auch in anderen Bereichen unterstützen wir nicht alle ausgebeuteten Gruppen vorbehaltslos, sondern stellen uns die Frage, wie die gesellschaftliche Wirkung eines Wirtschaftsbereichs sind.
Kleine Straßendealer befinden sich beispielsweise in einer ähnlichen wirtschaftlichen Lage, wie selbstständige Prostituierte.
Sie gehen ihrer Tätigkeit zumeist aus Mangel an wirtschaftlichen Alternativen nach. Sie befinden sich meist in starker Abhängigkeit von den hinter ihnen stehenden Großhändlern, sind oft Gewalt, staatlichen Repressionen und Kriminalisierungen ausgesetzt und sie handeln mit einem Produkt, das ihre Abnehmer erwerben möchten, obgleich vieles dafür spricht, dass sie sich selbst und anderen damit schaden.
Würde sich eine Organisation von Straßendealern gründen, würden SozialistInnen die Kooperation mit ihnen suchen, um sie bei der Durchsetzung von Forderungen nach Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Zugang zu Sozialleistungen, Entkriminalisierung von Drogenkonsum etc. zu unterstützen, sie würden sich jedoch nicht am Kampf um bessere Lieferbedingungen bei den Großdealern und höhere Preise für die Drogenkonsumenten beteiligen.
Auch Lohnerhöhungen für hauptberufliche Einbrecher oder Mitglieder von Schlägerbanden sind, auch wenn diese Leute sicher oft ausgebeutet werden, ihre Tätigkeit aus einer finanziellen Zwangslage heraus gewählt haben und sicher ganz überwiegend aus sozial schwachen Familien stammen, keine Forderungen der ArbeiterInnenklasse.
Vorbehaltslose Solidarität setzt nämlich voraus, dass dadurch anderen Teilen der Gruppe kein Schaden entsteht.
Prostitution festigt frauenfeindliche Sterotype
Prostitution ist nicht, wie viele bürgerliche FeministInnen behaupten, eine normale, sogar teilweise hochqualifizierten Arbeit, die von – oft besonders spezialisierten – Frauen und Männer mit Freuden ausgeübt wird, legitime Bedürfnisse befriedigt und daher vor der abwertenden Behandlung moralistischer Puritaner geschützt werden muss.
Diese Auffassung ignoriert einerseits, dass Sexarbeit für die ganz überwiegende Mehrheit der „Beschäftigten“ mit erheblichen psychischen und körperlichen Gesundheitsgefahren verbunden ist, schlecht bezahlt wird und häufig unter direktem Zwang ausgeübt wird.
Sie blendet aber auch aus, dass selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Arbeitsbedingungen erheblich verbessert werden könnten, die Verfügbarkeit von Prostitution das Rollenverständnis von Männern und Frauen in einer Gesellschaft beeinflusst und dazu beiträgt, frauenfeindliche Stereotype zu verfestigen.
Helen Ward nimmt diesen Umstand nicht wahr und fordert die bedingungslose Unterstützung aller Bewegungen und Organisationen von wirtschaftlich abhängigen SexarbeiterInnen. Sie beschönigt das in der Prostitution dargestellte Geschlechterverhältnis, indem sie zum Beispiel unkritisch das Manifest der indischen Prostituiertenorganisation Durbar zitiert, indem es heißt: „Der junge Mann, der seine erste sexuelle Erfahrung sucht, der verheiratete Mann, der die Gesellschaft ‘anderer’ Frauen sucht, der Arbeitsmigrant, der, von seiner Ehefrau getrennt, versucht, im Rotlichtdistrikt Wärme und Gesellschaft zu finden, kann nicht als böse oder pervers abgetan werden.“
Tatsächlich gibt es keinen Grund, die dargestellten Männer als „böse“ oder „ pervers“ zu bezeichnen. Die Verhältnisse, in denen ein junger Mann seine erste sexuelle Erfahrung machen muss, indem er dafür bezahlt, indem verheiratet Männer „andere“ Frauen nur treffen können, wenn
sie dafür Geld ausgeben und in denen Migranten, von ihren Familien getrennt, so verzweifelt vereinsamen, dass sie „Wärme“ im Rotlichtdistrikt suchen, sind allerdings sowohl „böse“ als auch „pervers“.
Helen Ward zitiert diesen Text, ohne es für nötig zu halten, zu erwähnen, unter welchen Umständen die Altersgenossinnen des zitierten jungen Mannes ihre ersten, sexuellen Erfahrungen machen, an wen sich die Ehefrauen wenden sollen, die die Gesellschaft „anderer“ Männer wünschen und wo die Frau des Arbeitsmigranten Wärme und Gesellschaft findet. In einer Gesellschaft, die die Prostitution zur Aufrechterhaltung sexistischer Verhältnisse benutzt, spielen die Bedürfnisse der Frauen und Mädchen ja auch keine Rolle.
Männliche Machtverhältnisse
Die Behauptung, Prostitution würde überwiegend von bemitleidenswerten Menschen in Anspruch genommen, die andernfalls überhaupt kein befriedigendes Sexualleben hätten, ist im Übrigen unzutreffend. Prostitution dient in nicht unerheblichem Maße der Bestätigung angeblicher männlicher Überlegenheit.
Der Verkauf von sexuellen Dienstleistungen verfestigt damit die Ideologie des unbeschränkten Verfügungsanspruchs zahlungsfähiger Männer über die Sexualität von Frauen, aber auch Kindern und unter bestimmten Umständen, sozial schwächeren Männern.
Nicht umsonst ist der Ankauf von sexuellen Dienstleistungen in vielen Bereichen, in denen es um Macht und Geld geht, ein beliebtes Männerritual, mit dem Erfolg und Überlegenheit gefeiert werden soll.
Ein Beispiel hierfür sind Vorfälle bei der Versicherung „Hamburg-Mannheimer“, bei der erfolgreiche Vertreter mit Einladungen zu „Sexparties“ belohnt wurden. Die Zeitung „Die Welt“ schrieb, nachem die Vorgänge bekannt geworden waren: „’Die Damen trugen rote und gelbe Bändchen’, berichtete ein Gast in seiner eidesstattlichen Versicherung. ‘Die einen waren als Hostessen anwesend, die anderen würden sämtliche Wünsche erfüllen. Es gab auch Damen mit weißen Bändchen. Die waren aber reserviert für die Vorstände und die allerbesten Vertriebler.’“ (Die Welt, 18. Mai 2011„Versicherung lädt Vertreter zu Sex-Party in Ungarn“)
Viele Prostituierte berichten, dass es ein wichtiger Teil ihrer Arbeit sei, ihre Kunden als „Mann“ oder „tollen Kerl“ zu bestätigen. Sie verkaufen damit selbst dann, wenn sie gewalttätige oder erniedrigende Handlungen ihrer Kunden nicht zulassen (müssen), ein reaktionäres männliches Wunschbild von weiblicher Sexualität und weiblichem Verhalten und verfestigen damit Rollenbilder, die den Ideen von Gleichberechtigung entgegen stehen.
Für die gesellschaftliche Wirkung spielt es dabei keine Rolle, ob es der Sexarbeiterin gelingt, sich innerlich von ihrer Darstellung zu distanzieren oder nicht.
Es wäre beispielsweise arrogant, anzunehmen, dass sich die zahlreichen Menschen aus Afrika und Asien, die zwischen dem 18ten und der Mitte des 20sten Jahrhunderts auf sogenannten „Völkerschauen“ ausgestellt wurden, um dem europäischen Publikum die „rassische Unterlegenheit“ der Bevölkerung der Kolonien vorzuführen, tatsächlich mit der Botschaft des erniedrigenden Schauspiels identifizierten.
Der rassistischen Wirkung auf das Weltbild des Publikums dürfte das keinen Abbruch getan haben.
Eine Neuauflage dieser Veranstaltungen wäre auch dann nicht gerechtfertigt, wenn sich Freiwillige fänden, die gegen gute Bezahlung bereit wären, als „Wilde“oder „Untermenschen“ zu posieren.
Es gibt keinen Grund, im Falle von Prostitution andere Maßstäbe anzulegen, und die Darstellung von Rollenbildern zu fördern, die mit gutem Grund abzulehnen sind, nur weil in diesem Wirtschaftszweig Erwerbsmöglichkeiten bestehen, auf die Menschen angewiesen sind.
Die Diskussion über die Frage, ob ein allgemeines Recht existiert, sich zu prostituieren, ist in der jetzigen gesellschaftlichen Situation lächerlich. Selbstverständlich gibt es zahllose Menschen, für die die Prostitution das kleinere Übel gegenüber bitterer Armut, anderen schädlichen Ausbeutungsverhältnissen oder persönlichen Abhängigkeiten ist und die daher „freiwillig“ sexuelle Dienste anbieten.
Sozialistische Alternative
Solange wir in einer Gesellschaft leben, die diesen Menschen keine akzeptable Alternative bieten kann, gibt es für linke und gewerkschaftliche Organisationen keine andere Möglichkeit, als zu akzeptieren, dass Menschen sich prostituieren. Sie sollten versuchen, sie bei der Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse oder bei einer „beruflichen Neuorientierung“ zu unterstützen und gleichzeitig mit Aufklärungsarbeit für ein gesellschaftliches Klima zu sorgen, indem Prostitution nicht nachgefragt wird.
In einer sozialistischen Gesellschaft, in der es keinen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Zwang zur Ausübung der Prostitution gibt, gäbe es hingegen keinen Grund, sie zu dulden. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass dieser „Berufswunsch“ in einer solchen Gesellschaft häufig auftreten würde.
Der Artikel von Helen Ward ist unter www.trend.infopartisan.net/trd7807/t407807.html zu finden.
Ianka Pigors ist Rechtsanwältin, lebt in Hamburg und unterstützt dort die Bewegung der Lampedusa-Flüchtlinge.