Nigeria nach der Entführung von 200 Schülerinnen
von Segun Sango, Bundessprecher der „Socialist Party of Nigeria“ (SPN), die vom „Democratic Socialist Movement“ (DSM), der Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in Nigeria, mitgegründet wurde. Im Folgenden veröffentlichen wir einen Artikel aus der „Socialist Democracy“ (Ausgabe Juni/Juli 2014), der Zeitung des DSM in Nigeria.
Die Rebellion der Gruppe „Boko Haram“ ist zweifelsfrei als der schlimmste Ausdruck der mannigfaltigen Krise zu verstehen, von der der kapitalistische Staat Nigeria derzeit befallen ist. Die schamlose Entführung von mehr als 200 Schülerinnen aus der Chibok-Oberschule im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias, zu der es im April dieses Jahres kam, führte dazu, dass die Aufständischen von „Boko Haram“ plötzlich weltweite Bekanntheit erlangten. Gleichzeitig wurde damit auch offenbar, wo sich die Achillesferse des nigerianischen Kapitalismus und seiner staatlichen Institutionen befindet (z.B. bei den militärischen Einheiten und der Polizei).
Eine militärische Lösung gibt es nicht
Vier Monate, nachdem die kapitalistische Regierung der Partei PDP unter Präsident Jonathan den Ausnahmezustand für die drei im Nordosten des Landes gelegenen Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe verlängert hatte, sind die Schülerinnen aus der Chibok-Oberschule von den Aufständischen der Gruppe „Boko Haram“ entführt worden. Zu jener Zeit war es zu den bis dato blutigsten Gewaltakten der „Boko“-Aufständischen gekommen. Es ist nun über ein Jahr her, dass über die betroffenen Bundesstaaten der Ausnahmezustand verhängt worden ist, der am 15. Mai 2013 erklärt wurde. Fast zwei Monate, nachdem die Schülerinnen der Chobok-Oberschule entführt worden sind und ohne dass man eine konkrete Vorstellung davon gehabt hätte, wie die jungen Frauen befreit werden könnten, sorgte die herrschende kapitalistische Elite Nigerias – gedrängt durch die führenden kapitalistischen Staaten USA, Großbritannien, Frankreich, Israel usw. dafür, dass der Ausnahmezustand in diesen drei nordöstlich gelegenen Bundesstaaten ein weiteres Mal verlängert wurde.
Doch ganz anders, als es die Regierung zu verkaufen versucht, sind die mörderischen und gewaltsamen Aktionen bis zum Zeitpunkt, da dieser Artikel geschrieben wurde, weiterhin fester Bestandteil des Aufstands von „Boko Haram“. Fakt ist, dass es vermehrt Berichte gibt, wonach „Boko Haram“ in Teilen des Nordostens Nigerias die lokale Kontrolle an sich gerissen hat, systematisch Angriffe fährt und versucht, Menschen, die nicht moslemischen Glaubens sind oder Widerstand leisten, zu verjagen. Das Militär fällt häufig nur dadurch auf, dass es gar nicht zugegen ist. Ein Anfang Juni vorgelegter internationaler Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass in den letzten zehn Monaten 250.000 Menschen im Nordosten des Landes „ihre Heimat verlassen mussten“, womit die Zahl derer, die laut „National Commission for Refugees“ (dt.: „Nationale Flüchtlingskommission“) flüchten mussten, auf 3,3 Million Menschen angestiegen ist, seit der Konflikt mit der Gruppe „Boko Haram“ im Jahr 2009 angefangen hat.
Die Gruppierung „Boko Haram“ vor dem Jahr 2009
Um das Jahr 2009 rückte der derzeit anhaltende Aufstand der Gruppe „Boko Haram“ in Nigeria zum ersten Mal ins Interesse der Öffentlichkeit. Allerdings reicht die selbstgesteckte, reaktionäre und religiös motivierte Zielsetzung dieser Terrorgruppe viel weiter zurück und lässt sich mit der Erhebung der „Maitasine“-Bewegung der späten 1970er und frühen 1980er Jahren in Verbindung bringen. Die extreme und reaktionär-religiöse Doktrin, auf der die „Maitasine“-Bewegung und aktuell auch der Aufstand von „Boko Haram“ aufbauen, entwickelte sich aufgrund der anhaltenden und weiter zunehmenden sozio-ökonomischen Entbehrungen, unter denen die Bevölkerungsmehrheit trotz vorhandener gewaltiger natürlicher und menschlicher Ressourcen zu leiden hat.
Unter der Herrschaft des internationalen Kapitalismus lebt die übergroße Mehrheit der Menschheit unter Bedingungen, die von unvorstellbarer Armut und Unterdrückung geprägt sind. Das gilt vor allem für die rückschrittlichen, neokolonialen und kapitalistischen Gesellschaften wie Nigeria. Dies ist auch der Grund dafür, weshalb die reaktionäre, fundamental-religiöse Propaganda von Sekten wie „Boko Haram“ immer auf fruchtbaren Boden fallen konnte. Die am meisten von Unterdrückung und Erniedrigung betroffenen Bevölkerungsteile waren für das Hirngespinst vom glückselig machenden Himmel, der als Erlösung von der gegenwärtigen sündhaften Welt, die von Ungläubigen und den Agenten Satans beherrscht wird, nur auf die „Aufrechten“ wartet, immer leicht zu begeistern! Es war um das Jahr 2009, als die derzeitigen Aufständischen von „Boko Haram“ von der nigerianischen Öffentlichkeit erstmals wahrgenommen wurden. Anfangs erreichten sie sogar ein gewisses Maß an Popularität, was sich damit begründet, dass ihre Anführer mit Courage gegen den ausschweifenden Lebenswandel der Reichen opponierten und bisweilen bewaffnete Angriffe auf Teile der herrschenden Elite durchführten. Aber auch die Tatsache, dass sie sich gegen die Polizei und andere bewaffnete Einheiten der Staatsmacht stellten, deren „einfache“ Angehörige die Tendenz haben, die verarmten Massen als bloßes Ziel von Erpressung und Unterdrückung zu betrachten, da das Leben in der kapitalistischen Gesellschaft Nigerias immer schwieriger zu bewältigen ist, führte dazu, dass Gruppierungen wie „Boko Haram“ zunächst auch ein positives Echo bekamen.
Aufgrund dieser Entwicklungen griffen die regierende kapitalistische Regierung in der letzten Phase der Regentschaft von Präsident Musa Yar’Adua und die höchsten Ränge der bewaffneten Kräfte im Jahr 2009 auf die fehlgeleitete militärische Strategie zurück, die Aufständischen zu unterdrücken. Der Höhepunkt des damaligen militärischen Gegenschlags bestand darin, dass Muhammed Yusuf und einige namhafte Führungsfiguren von „Boko Haram“ verhaftet wurden, nachdem hunderte, wenn nicht sogar tausende der Mitglieder dieser Gruppierung im Zuge des staatlichen Vorgehens gegen sie standrechtlich erschossen worden sind. Anstatt die festgenommenen „Boko Haram“-Führer vor Gericht zu stellen, um möglicherweise die Motivation hinter ihren Taten aufklären zu können, brachten die Sicherheitskräfte des Staates Yusuf und andere, die zusammen mit ihm festgenommen worden waren, noch in der Untersuchungshaft um. Das entsprach genau dem Stil der herrschenden kapitalistischen Elite, die lieber den Überbringer der Nachricht einen Kopf kürzer macht als sich mit der Nachricht selbst zu beschäftigen! Unter´m Strich ist das Vorgehen, das die kapitalistische herrschende Elite als Strategie zur Beendigung des „Boko Haram“-Aufstands betrachtet hat, nun wie ein Bumerang zurückgekommen, was in einem Inferno gemündet ist. Nun droht nicht nur die amtierende Regierung zerfressen zu werden sondern die nigerianische Nation an sich.
Weshalb eine militärische Lösung nie funktionieren konnte
Die „Socialist Party of Nigeria“ wünscht sich, dass alle ihre Mitglieder und die wirtschaftlich ausgebeuteten und politisch unterdrückten Menschen aus der Arbeiterklasse insgesamt erkennen, dass in jeder menschlichen Gesellschaft jeder Versuch, eine politische, religiöse Idee oder Bewegung einfach mit Zwangsmaßnahmen unterdrücken zu wollen, immer zwecklos war. Mehr als einmal wurde die entsprechende Idee bzw. die betreffende Bewegung durch den gegen sie ausgeübten politischen oder gar militärischen Druck nur noch stärker in ihrer Bedeutung und/oder ihrem Erscheinen. Schließlich ist es eine Tatsache, dass auf internationaler Ebene der „Krieg gegen den Terror“ geführt wird, und gleichzeitig Gruppen und Phänomene wie „Boko Haram“ stärker werden. Das bestätigt unsere These.
Nach den Terroranschlägen auf das „World Trade Centre“ in New York im September 2001 rollten die führenden kapitalistischen Staaten unter Führung der USA das Banner des internationalen „Krieges gegen den Terror“ aus. Dieser vom Imperialismus angetriebene Krieg führte zuerst zur militärischen Invasion in Afghanistan und später zur Militärinvasion und der Niederlage eines Saddam Hussein und dessen Regimes im Irak. Heute, nach diesem imperialistisch geführten „Krieg gegen den Terror“, beherrschen mehr terroristische Organisationen die weltweite politische Szenerie als noch vor dem 11. September 2001, da die Angriffe auf das „World Trade Centre“ stattfanden.
Was Nigeria betrifft, ist der Aufstand von „Boko Haram“ erst zu dem heute vorhandenen bedrohlichen und grausamen Phänomen geworden, nachdem es zur brutalen standesrechtlichen Hinrichtung Yusufs und weiterer Führungsfiguren von „Boko Haram“ während ihrer Untersuchungshaft in der Regierungszeit von Präsident Musa Yar’Adua im Jahr 2009 kam. Mitglieder der „Socialist Party“ und die arbeitenden Menschen insgesamt müssen immer im Hinterkopf behalten, dass kapitalistische Regierungen – sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene – keine Kriege führen oder überhaupt Politik betreiben, um damit den besten Interessen der Gesellschaft zu entsprechen. Von daher stand hinter dem imperialistischen „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan und im Irak in Wirklichkeit das Motiv der multinationalen Konzerne und ihrer Regierungen, Gebiete politisch wie auch wirtschaftlich zu beherrschen, die reich an Öl und/oder von strategischer Bedeutung sind.
Für jede umfassendere Initiative einer kapitalistischen Regierung ist charakteristisch, dass sie zuallererst und stets von Profitinteressen geleitet ist. Die Leitfrage lautet dabei immer, wie viel Geld der jeweilige Prozess bringt. Der „internationale Krieg gegen den Terror“ wie auch der Feldzug, den die Regierung unter Präsident Jonathan gegen die Aufständischen von „Boko Haram“ führt, hat die Menschheit weltweit tausende Milliarden von Dollar und in Nigeria tausende von Milliarden von Naira (nig. Währung; Anm. d. Übers.) gekostet. Trotz dieser riesigen Summen, die angeblich zur Verfügung gestellt wurden, um gegen den Aufstand von „Boko Haram“ vorzugehen, und der Erklärung bzw. Ausweitung des Ausnahmezustands in den drei nordöstlichen Bundesstaaten Nigerias wird berichtet, dass die Militärkräfte nicht einmal mit den Waffen ausgestattet sind, die mindestens nötig wären, um die Aufständischen von „Boko Haram“ effektiv stellen zu können.
Für die arbeitenden Massen muss ganz klar sein, was der Grund für diese offensichtlich vollkommen absurde Situation ist. Die anhaltende und schon übliche Plünderei der herrschenden Klasse hat dabei zwar auch eine Rolle gespielt. Das Versagen der Regierung geht aber vor allem auf den grundlegenden politischen Fehler zurück, dass man eine politische oder religiöse Idee bzw. Bewegung einfach mit bewaffneten Mitteln zu unterdrücken versucht. Das steht dem alternativen Ansatz, grundlegend und auf demokratische Weise gegen die Ansätze vorzugehen, die von politischen bzw. religiösen Bewegungen oder Sekten vorgebracht werden, diametral entgegen. Gleichzeitig werden so natürlich nicht die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen aufgehoben, die es diesen Gruppen gestatten immer weiter zu gedeihen. Doch diese Art von Alternative kann nur von einer Bewegung her kommen, die aus den Reihen der arbeitenden Massen entsteht. Es ist vollkommen utopisch anzunehmen, dass irgendeine der miteinander konkurrierenden Cliquen innerhalb der herrschenden Klasse in der Lage wäre, eine wirkliche Lösung für das Problem anzubieten.
SozialistInnen und die Frage der „Zivilen Einsatzgruppen“
Angesichts der zum Himmel schreienden Ineffektivität der bewaffneten Kräfte im kapitalistischen Nigeria, was den Schutz der „einfachen“ NigerianerInnen vor den mörderischen Übergriffen der „Boko Haram“-Rebellen angeht, haben sich in letzter Zeit auf lokaler Ebene Formen von Selbstverteidigungsgruppen herausgebildet. In den Medien werden diese als „Civilian Joint Task Force“ (dt.: „Gemeinsame zivile Einsatzgruppen“) bezeichnet. In den Medienberichten wird dieser Art von spontan entstandenen kommunalen Selbstverteidigungskomitees zugute gehalten, dass sie das Ausmaß der „Boko Haram“-Rebellion in einigen Gebieten im Nordosten Nigerias zurückgedrängt bzw. verringert hätten.
Die „Socialist Party of Nigeria“ betrachtet derartige kommunale Selbstverteidigungskomitees als äußerst effektives Mittel, um die Bedrohung, die von den Rebellen von „Boko Haram“ ausgeht, abzuwehren. Dabei setzt sich die „Socialist Party of Nigeria“ allerdings ganz entschieden dafür ein, dass diese Form der kommunalen Selbstverteidigungskomitees auf einer eindeutig nicht-sektiererischen Grundlage aufgebaut wird: Sie müssen offen sein für alle religiösen und ethnischen Gruppen. Außerdem müssen sie der demokratischen Kontrolle der RepräsentantInnen der jeweiligen Gemeinden unterliegen, wozu auch die Gewerkschaften und vorhandene Jugendorganisationen gehören. Das ist ein wesentlicher Punkt, um der Degenerierung der kommunalen Selbstverteidigungsgruppen bzw. -komitees vorzubeugen, die ansonsten zu Plattformen verkommen, welche am Ende nur noch dazu genutzt werden, um persönliche Interessen von Einzelpersonen durchzusetzen oder den Anliegen korrupter Politiker zu entsprechen. In dem Fall wäre der Kampf gegen den Aufstand von „Boko Haram“ nicht mehr als ein Feigenblatt.
Die „Socialist Party of Nigeria“ fordert darüber hinaus demokratische Rechte für die unteren Ränge der bewaffneten Kräfte, damit diese gewerkschaftliche Strukturen aufbauen und sich Gewerkschaftsverbänden anschließen zu können. Das ist deshalb von Bedeutung, weil sichergestellt werden muss, dass die enormen Ressourcen, die von der Regierung angeblich für den „Krieg gegen den Terror“ von „Boko Haram“ zur Verfügung gestellt wurden, korrekt und auf demokratische Weise eingesetzt werden. Nur so kann den tatsächlichen Bedürfnissen der bewaffneten Kräfte gemäß gehandelt werden. Vor allem gilt es dabei aber, den Belangen der unteren Ränge zu entsprechen. In erster Linie müssen auch ihre Lebensbedingungen verbessert werden. Die „Socialist Party of Nigeria“ tritt zudem dafür ein, dass sich die unteren Ränge der bewaffneten Kräfte dagegen wehren, ihre Waffen gegen die „einfachen“ NigerianerInnen zu richten, was angeblich zum Kampf gegen den Terror von „Boko Haram“ gehören soll.
Und schließlich wiederholt die „Socialist Party of Nigeria“ ihre grundlegende Position, dass der wesentliche Faktor für das Entstehen solch reaktionärer und mörderischer Bewegungen wie „Boko Haram“ zuallererst auf die ungerechte sozio-ökonomische und politische Atmosphäre zurückzuführen ist, die sich durch Massenelend und die politische Unterdrückung der großen Mehrheit der BürgerInnen auszeichnet. Und das, obwohl es ein Übermaß an natürlichen und menschlichen Reserven gibt, wobei sich einige wenige kapitalistische Herrscher in provokant überbordender Opulenz suhlen. Das gilt im Übrigen genauso für die undemokratischen und zu Gewalt neigenden Organisationen wie die Milizen im Nigerdelta, den „Oodua Peoples Congress“ (OPC), MASSOB und die „Bakassi Boys“, eine bewaffnete Bürgerwehr im Südosten Nigerias, die sich in den ersten Jahren nach Ende der Militärregierung gründete.
Aus diesem Grund tritt die „Socialist Party of Nigeria“ dafür ein, dass der herrschenden Klasse das Land aus der Hand genommen wird und die Schaltzentralen der Wirtschaft Nigerias sowie die Entscheidungsgewalt über die Naturreserven (wozu auch die soziale Infrastruktur zählen muss) in Gemeineigentum überführt werden. Die Bevölkerung Nigerias muss die demokratische Kontrolle darüber innehaben und mit ihren Gewerkschaften, Jugendorganisationen und kommunalen Strukturen die Amtsführung übernehmen. Das ist absolut notwendig um sicherzustellen, dass die natürlichen und menschlichen Reserven Nigerias (und im Endeffekt der ganzen Welt) voll zur Geltung kommen können, damit die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse aller und nicht nur dieser winzigen Gruppe von Milliardären und Millionären – wie es unter der derzeit herrschenden Ägide des Kapitalismus der Fall ist – befriedigt werden. Schließlich ist es im bestehenden System so, dass Privatisierungen an der Tagesordnung sind, und es als „normal“ gilt, wenn private Besitzer den aus dem gesellschaftlichen Reichtum erwirtschafteten Profit abschöpfen. Die Errungenschaften, die hingegen eine wie oben beschriebene Gesellschaft mit sich brächte, würden die meisten Faktoren ad absurdum führen, die heute noch zum Aufstieg des Terrorismus und zum Massenelend trotz schier unerschöpflicher und reichhaltiger natürlicher wie menschlicher Ressourcen führen. Elend und Terror würden ein Ende finden.
Perspektiven für die Parlamentswahlen 2015 und danach
Wie wir bereits beschrieben haben, gibt es verschiedene Strategien und Herangehensweisen, mit denen die kapitalistischen Strategen weltweit und in Nigeria gegen den Aufstand von „Boko Haram“ vorgehen wollen. In rund acht Monaten stehen im Land die Parlamentswahlen an. Weil aber die kapitalistischen Parteien wie etwa die PDP, die APC oder die „Labour Party“ (dt.: „Arbeitspartei“), die ihren Namen nicht verdient, die politische Landschaft Nigerias beherrschen, sind wir von der „Socialist Party of Nigeria“ davon überzeugt, dass die Bedrohung, die von „Boko Haram“ und anderen Gruppen ausgeht, im Großen und Ganzen weiter Bestand haben wird. Mit anderen Worten wird diese trostlose politische Perspektive weiterhin für Nigeria gelten, auch wenn die momentan von „Boko Haram“ entführten Schülerinnen der staatlichen Chibok-Oberschule von ihren Peinigern wieder freigelassen werden sollten. Die herrschende PDP-Regierung hält unerschütterlich an ihrer Wirtschaftspolitik fest, die gegen die Armen gerichtet und für die Reichen gedacht ist. Dadurch wird nur garantiert, dass das bestehende ungerechte sozio-ökonomische Klima weiterbesteht und konsolidiert wird.
Gerade erst hat die Bundesregierung unter der PDP die öffentliche Stromversorgung des Landes privatisiert und an profitorientierte Kaufleute bzw. Privatunternehmen verkauft. Dies geschah unter der falschen Vorgabe, dass das der einzige Weg sei, um den Strombedarf der Industrie und der EinzelabnehmerInnen optimal decken zu können. Einige Monate nach diesem ganz offensichtlichen Diebstahl der Kapitalisten, ist nicht nur die Erzeugung von Strom drastisch zurückgegangen. Auch die Versorgungslage der Industrie und des privaten Verbrauchs ist seitdem wesentlich schlechter als zuvor. Und weil dies anscheinend noch nicht genug ist, hat die für die Stromversorgung zuständige Regierungsbehörde zum Juni dieses Jahres auch noch die Stromgebühren für EinzelabnehmerInnen erhöht! Doch anstatt offen zuzugeben, dass die Privatisierung des öffentlichen Stromnetzes gescheitert ist, haben die kapitalistischen herrschenden Eliten nur weitere „Argumente“ ins Feld geführt, mit denen sichergestellt werden soll, dass die gesamten Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft Nigerias an private, profitorientierte, kapitalistische Unternehmen und andere Scharlatane gehen.
Die Mitglieder der „Socialist Party of Nigeria“ und der gesamte arbeitende Teil der Bevölkerung müssen zur Kenntnis nehmen, dass es sich beim Kapitalismus stets um ein ungerechtes sozio-ökonomisches System handelt, das immer und ausnahmslos zu Massenelend für das Gros der Bevölkerung geführt hat und führt – trotz des Vorhandenseins gewaltiger sozio-ökonomischer Ressourcen. Selbst wenn die größte der kapitalistischen Oppositionsparteien, die APC, die PDP bei den Wahlen 2015 schlagen sollte, haben die arbeitenden Massen leider auch kein anderes oder gar ein besseres Klima zu erwarten.
Gleich zu Anfang kann festgestellt werden, dass die Möglichkeiten, die die APC hat, um die PDP erfolgreich von den Schaltzentralen der politischen Macht zu vertreiben, ziemlich gering sind. Diese Annahme gründet auf einem recht naheliegenden Befund. Dazu gehört u.a., dass es sich bei der APC um eine politische Partei handelt, die sich grundsätzlich und vollkommen derselben Politik verschrieben hat, die sich gegen die Armen richtet und im Sinne der Reichen ist. Darin unterscheidet sie sich nicht von der PDP. Von daher ist es absolut unwahrscheinlich, dass die APC in der Lage wäre, plötzlich genügend Unterstützung von den „einfachen“ NigerianerInnen aus allen Regionen und politischen Schichten zu bekommen. Das wäre aber nötig, um am Ende so viele Stimmen zu bekommen, dass damit die PDP-Maschinerie bei den besagten Wahlen zu bezwingen ist.
An dieser Stelle ist es wichtig sich vor Augen zu halten, dass es sich bei „Siegern“ organisierter Wahlen – vor allem in neokolonialen Ländern wie Nigeria – normalerweise um eine oder mehrere Fraktionen der herrschenden kapitalistischen Parteien handelt, die an zentraler Stelle aber auch auf der Ebene der einzelnen Bundesländer ohnehin schon die Macht innehaben. Hinzu kommt, dass die APC im Zuge ihrer Kandidatenkür für die Wahlen im bevorstehenden Jahr wieder einmal dadurch aufgefallen ist, dass das übliche, selbstgefällige und egomanische Streben einzelner Parteiführer nach politischer Macht zum Tragen kam. Das galt erneut für die Positionen, die sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene zu besetzen waren. Dieses Vorgehen hat das mögliche Potential der APC, für die PDP eine echte Herausforderung darstellen zu können und letztere tatsächlich von der Macht zu vertreiben, weiter verringert.
Kann die sich verschärfende sozio-ökonomische Lage mit militärischen Mitteln bewältigt werden?
Vor dem Hintergrund, dass es aus der Arbeiterklasse nur schwache politische Alternativen zur dominierenden Herrschaft und der Ausplünderung gibt, die von allen Teilen der kapitalistischen herrschenden Elite betrieben wird, kommt es unter bestimmten Teilen dieser elitären Schicht zum Versuch, die Möglichkeit einer absoluten Militärherrschaft als Lösung für die Probleme darzustellen. Damit meint man tatsächlich, die Rebellion von „Boko Haram“ und ähnlichen Gruppen in den Griff bekommen zu können und letztlich ganz zu beenden.
Aufgrund des politischen Stillstands, durch den sich die derzeitige Situation im kapitalistischen Nigeria auszeichnet, kann es durchaus vorkommen, dass Teile der kapitalistischen Klasse damit beginnen, das in die falsche Richtung führende politische Argument zu streuen, Nigeria bräuchte nur eine „starke Hand“, um den Aufstand von „Boko Haram“ zum Ende zu bringen. Aus Gründen, die wir in diesem Artikel bereits angeschnitten haben, wäre aber selbst eine Militärherrschaft mit absoluten Machtbefugnissen dazu nicht in der Lage. Das liegt an dem bestehenden, durch den Kapitalismus begründeten sozio-ökonomischen und politischen Rahmen, durch den im Endeffekt eine gesellschaftliche wie auch wirtschaftliche Ordnung vorgegeben ist, die latent für das Aufkommen von terroristischen Anschlägen und Gewalt sorgt. Der Nährboden dafür ist eine nigerianische Gesellschaft, die so ist, wie sie derzeit ist, mit arbeitenden Menschen, die so lange schon Leid und Elend zu ertragen haben.
In Wirklichkeit hat die zu verzeichnende kapitalistische sozio-ökonomische und politische Bankrotterklärung so umfassende Auswirkungen, dass ein Militärputsch unter den derzeitigen wirtschaftlichen wie auch politischen Umständen die politische und ökonomische Landschaft Nigerias noch weiter ins Negative abdriften lassen würde. Am Ende stünde gar die Einheit des Landes – auch als Wirtschaftseinheit – auf dem Spiel. Jeder Versuch, einem derartigen Putsch einen zivilen Anstrich zu verleihen (z.B. indem man eine Regierung der „nationalen Befreiung“ oder „nationalen Einheit“ installiert), ist über kurz oder lang ebenfalls zum Scheitern verurteilt.
Die politische Alternative der arbeitenden Massen
Bedauerlicherweise bieten die wichtigsten Gewerkschaftsstrukturen (so z.B. beim „Nigeria Labour Congress“ [NLC] und dem „Trade Union Congress“) zur Zeit für die Arbeiterklasse überhaupt keine unabhängige Alternative an, die dem ruinösen wirtschaftlichen und politischen Vorgehen der großen kapitalistischen Parteien etwas entgegenzusetzen hätte. Die Gewerkschaften sehen nicht, wie „Boko Haram“ in der Lage ist Nutzen aus der Tatsache zu ziehen, dass die Gewerkschaften momentan keinerlei zu verallgemeinernde Kämpfe gegen die Krise anführen, von der das Land befallen ist. Äußerst bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass „Boko Haram“ sich nicht getraut hat irgendwelche Anschläge zu verüben, als sich die Masse der nigerianischen Bevölkerung während des Generalstreiks vom Januar 2012 gegen die Benzinpreiserhöhungen vereint im Kampf befunden hat.
Selbst die „Labour Party“, die vor einiger Zeit von der NLC-Führung ins Leben gerufen wurde, ist seit geraumer Zeit den politischen Marktschreiern überlassen worden, die den arbeitenden Massen keine unabhängige politische Perspektive bieten können. Sie unterscheidet sich folglich nicht wesentlich von den großen kapitalistischen Parteien. Ein Skandal ist es, dass der Vorstand der „Labour Party“ für all die, die einen Parteiposten oder eine Kandidatur auf dem Ticket der „Sozialdemokraten“ für ein öffentliches Amt anstreben, immense Gebühren festgelegt hat. Menschen aus der Arbeiterklasse wären mit ehrlichen Mitteln gar nicht in der Lage diese Summen aufzubringen. Bei den Wahlen von 2011 unterstützte die „Labour Party“, die ihren Namen zu Unrecht trägt, die Präsidentschaftskandidatur von Jonathan. Versucht man die Aussagen der Parteifunktionäre zu deuten, so könnte es sein, dass „Labour“ auch bei den Wahlen 2015 keinen eigenen Kandidaten für das Präsidentenamt ins Rennen schickt und erneut die PDP unterstützt.
Angesichts dieser negativen politischen Großwetterlage haben die Mitglieder des „Democratic Socialist Movement“ (DSM; SAV-Schwesterorganisation und Sektion des CWI in Nigeria) einen Prozess in Gang gebracht, um am Ende die „Socialist Party of Nigeria“ (SPN) zu gründen. Ziel ist es, damit eine formal-rechtliche politische Plattform zu schaffen, mit der SozialistInnen und die Allgemeinheit der arbeitenden Menschen Nigerias mit allen vorhandenen Varianten der kapitalistischen Parteien um die politische Macht konkurrieren können. Im Moment befinden wir uns damit an dem fortgeschrittenen Punkt des Prozesses, als „Socialist Party of Nigeria“ (SPN) die auf der Verfassung von 1999 beruhenden Voraussetzungen zur offiziellen Registrierung zu erfüllen, damit wir als SPN bei Wahlen antreten können.
Im besten Fall steht den arbeitenden Massen Nigerias dann die Plattform der „Socialist Party of Nigeria“ zur Verfügung, um darüber mit all den kapitalistischen Parteien um die politische Macht konkurrieren zu können, die ebenfalls 2015 antreten werden. Allerdings sollte bei alldem klar sein, dass das Eingreifen der SPN bei den Wahlen 2015 nicht stark genug sein mag, um die herrschenden kapitalistischen Parteien sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene von der Macht zu vertreiben. Dieser Satz gilt übrigens ganz unabhängig von der Tatsache, dass bis zu den Wahlen 2015 nicht mehr viel Zeit ist, und auch für den Fall, dass die SPN überhaupt die Registrierung von der „Independent National Electoral Commission“ (INEC; dt.: „Unabhängige nationale Wahlkommission“) erhält. In diesem Zusammenhang muss man sich auch im Klaren darüber sein, dass Wahlen in Nigeria vom Geld abhängen – gerade vor dem Hintergrund der weit verbreiteten Armut, von der derzeit sämtliche Teile des Landes betroffen sind. Das liefert quasi die natürlichen Bedingungen, unter denen der Stimmenkauf zum blühenden Geschäft wird! Dennoch kann der Wahlkampf der SPN ein bedeutender Schritt in Richtung des Aufbaus einer Bewegung werden, die wiederum zur Grundlage für eine Regierung der arbeitenden Massen werden muss.
Aus diesen Gründen ruft die „Socialist Party of Nigeria“ den NLC und den TUC dazu auf, ganz entschieden eine folgerichtige Wirtschafts- und Sozialpolitik im Sinne der Gesamtheit der arbeitenden Menschen zu verfolgen. In letzter Konsequenz würde das zur Entstehung einer das ganze Land umfassenden politischen Partei bzw. politischen Alternative im Sinne der Arbeiterklasse führen, die dauerhaft sicherstellen kann, dass Nigerias reichlich vorhandene Naturreserven bis ins Letzte ausschließlich im Sinne des ökonomischen und sozialen Nutzens aller NigerianerInnen eingesetzt werden. In der „Socialist Party of Nigeria“ sind wir fest davon überzeugt, dass sich das derzeit vorherrschende, kranke und von Unruhe geprägte sozio-politische Klima rasch im Sinne der Gesamtheit der NigerianerInnen ändern kann, wenn die großen Gewerkschaftsorganisationen sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf politischer Ebene einen konsequent sozialistischen Kurs einschlagen. Die sozialen Kämpfe aller Teile der nigerianischen Gesellschaft in ihrem täglichen ökonomischen Kampf, den sie über die Gewerkschaftsgliederungen und im Rahmen von Bürgerrechts- und sozialen Strukturen austragen, sowie ihr Einsatz für ein dauerhaft besseres Leben sind die Basis dafür, dass diese Prognose eine realistische Perspektive ist.