Auseinandersetzung beim Online-Giganten dauert an
Ein Gespräch mit Angela Bankert, Gewerkschaftssekretärin im ver.di-Fachbereich Handel für das Projekt Amazon Koblenz*
Der Unternehmensgründer von Amazon, ein gewisser Jeff Besoz, soll seinen Konzern nach dem Amazonas, immerhin dem größten Fluss der Welt, benannt haben. Soll der Name Programm sein?
Allerdings. Ziel ist es, das größte Online-Kaufhaus der Welt aufzubauen. Schon heute ist der Konzern aus Seattle der größte Onlinehändler international. Alles gibt es hier, von Tierfutter über Tablets bis hin zu eigenen Buchverlagen und Filmproduktionen.
Letztes Jahr konnte der Online-Gigant seinen Umsatz weltweit um satte 22 Prozent steigern – auf umgerechnet rund 56 Milliarden Euro, erwirtschaftet von an die 120.000 Beschäftigten in knapp 100 Niederlassungen in einem Dutzend Länder.
Die Gewinne sind eher mager, in manchen Quartalen gab es sogar Verluste. Das ist Folge der aggressiven Expansion in immer neue Märkte und Branchen. Dennoch kannte die Aktie über Jahre hinweg nur eine Richtung: nach oben. Erst in letzter Zeit kommen manchen Aktionären offenbar Zweifel. Das Amazon-Papier fiel vom Höchststand 299 Euro auf zeitweilig 192 Euro.
Und wie steht der Konzern in Deutschland da?
Deutschland ist der zweitgrößte Amazon-Markt nach den USA. Hier wuchs der Umsatz 2013 um 20 Prozent, von 6,5 auf 7,8 Milliarden Euro. Die nächstgrößten deutschen Versandhändler Otto und Zalando bringen es gerade mal auf 2,2 beziehungsweise 1,8 Milliarden Euro.
Ein Drittel des Geschäfts wickelt Amazon für andere Händler ab. Darin liegt enormes Erpressungspotenzial. Das zeigen die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Amazon und Buchverlagen um höhere Rabatte.
Auf diese Weise beherrscht Amazon ein Viertel des deutschen Webhandels, in einigen Segmenten deutlich mehr. Bei Büchern und CDs sind es beispielsweise bis zu 80 Prozent.
Die ersten deutschen Versandhandelszentren in Bad Hersfeld und Leipzig siedelte Amazon 2001 beziehungsweise 2006 an. Was hat sich seitdem getan?
In den letzten drei Jahren kamen mit Graben bei Augsburg, Rheinberg und Werne in Nordrhein-Westfalen, Pforzheim, Koblenz und Brieselang bei Berlin Schlag auf Schlag sechs weitere Standorte hinzu. Jeder Standort ist formal eine eigenständige GmbH. Die Muttergesellschaft ist eine Holding in Luxemburg.
Infrastrukturleistungen der öffentlichen Hand nimmt man gern mit. Steuerzahlungen fallen demgegenüber mager aus. Bei einem Umsatz von 6,5 Milliarden Euro im Jahr 2012 zahlte Amazon zum Beispiel bloß 3,2 Millionen Euro Steuern. Im gleichen Jahr erhielt der Konzern öffentliche Wirtschaftsförderung in Höhe von mindestens rund 14 Millionen Euro.
Bekanntlich siedelt sich Amazon gezielt in strukturschwachen Regionen an. Wie geht das Unternehmen vor?
Man fegt den dortigen Arbeitsmarkt so gut wie leer. Das Arbeitsamt hilft mit.
Die meisten Beschäftigten werden grundsätzlich befristet eingestellt, oft mit Kettenbefristungen von bis zu zwei Jahren. Bundesweit arbeiten um die 10.000 Festangestellte bei Amazon, 6.000 bis 7.000 mit Befristungen. Zum Weihnachtsgeschäft wird die Belegschaft verdoppelt. Immer wieder gibt es Stichtage, an denen man einen Schwung Befristeter vor die Tür setzt. Im Amazon-Jargon heißt das „Ramp Down“. Die Betroffenen wissen bis zum letzten Tag nicht, wen es trifft.
Alle Beschäftigten müssen „Amazonisch“ lernen. Sie sind nicht Warenverräumer. Packer oder Kommissionierer, sondern „Receiver“, „Stower“ und „Picker Packer“. Ihre Gruppenleiter sind „Leads“, die Abteilungsleiter heißen „Area Manager“.
Die Einstieglöhne betragen zwischen 9,55 und 10,10 Euro. Hinzu kommen eine monatlich schwankende, geringe Bonuszahlung und nach zwei Jahren ein paar Unternehmensaktien.
Wie sehen die Arbeitsbedingungen aus?
Die Firmengelände haben für gewöhnlich eine Größe von 15 Fußballfeldern und sind eingezäunt. Tag für Tag müssen die Arbeiter wie am Flughafen durch Sicherheitsschleusen. Kilometerlange Laufwege sind zu bewältigen, bis zu 25 Kilometer bei den sogenannten Pickern – und das jeden Tag. In den geschlossenen Hallen ist die Luft häufig schlecht und staubgesättigt. Im letzten Sommer fielen reihenweise Kollegen um. Die Pausenzeiten reduzieren sich durch die langen Wege.
Die Überwachung ist fast total. Man muss akkordähnliche Vorgaben erfüllen, darf nicht mit Kollegen plaudern. Ist man zu langsam, kommt eine Nachricht auf den Scanner: „Was ist los? Zum Leadplatz kommen.“
Trotz dieser Bedingungen haben ja viele den Schritt gemacht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Welche Fortschritte gibt es seitdem?
Auch wenn noch keine Tarifbindung erreicht wurde, haben die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten Amazon bereits verändert: Von Zeit zu Zeit gibt es Lohnanpassungen, Leiharbeiter erhalten den gleichen Einstiegslohn. Zudem wurden Klimaanlagen und dezentrale Pausenräume eingebaut, nach den ersten Streiks im letzten Jahr wurde erstmals in der Firmengeschichte ein bisschen Weihnachtsgeld gezahlt.
Mittlerweile gibt es auch an allen Standorten Betriebsräte.
Worum dreht sich der Tarifkonflikt?
Amazon Deutschland behauptet, man sei kein Händler, sondern Logistiker. Aber es werden auch keine Logistiktarife gezahlt. Man „orientiert“ sich nur daran. Mit dem Streit, ob das Unternehmen nun Händler oder Logistiker sei, soll davon abgelenkt werden, dass Amazon gar keinen Tarifvertrag will – auch nicht den der Logistikbranche.
Gemessen an den Tarifverträgen des Einzel- und Versandhandels würden Beschäftigte durch die entsprechend höheren Löhne, Zuschläge, Urlaubs- und Weihnachtsgeld im Jahr bis zu 9.000 Euro mehr verdienen.
Im Frühjahr bot ver.di-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger dem Management ein Spitzengespräch zur Lösung des Tarifkonflikts an. Die Antwort kam erst, nachdem am Standort Rheinberg über 800 Beschäftigte die Geschäftsführung per Unterschriftliste zu Gesprächen mit ver.di aufforderten. Amazon lehnte im Antwortschreiben jedes Gespräch mit Gewerkschaften über eine Tarifbindung ab.
ver.di wird nicht zulassen, dass sich der Marktführer einer Tarifbindung verweigert. Dies würde eine Abwärtsspirale in Gang setzen. Tausende Amazon-Beschäftigte sind in die Gewerkschaft eingetreten. Bei Bad Hersfeld und Leipzig wurde mehrfach gestreikt. Anfang Juni kamen mit Graben und Rheinberg zwei weitere Standorte hinzu.
Weitere Standorte sollen aktions- und streikfähig gemacht werden. Eine bundesweite Koordination wird aufgebaut, eine internationale Vernetzung mit Gewerkschaften in Frankreich, Polen und den USA wurde begonnen.
Wichtig ist auch eine kritische Öffentlichkeit. Denn Imageprobleme mag man nicht. ver.di ruft indes nicht zum Boykott auf. Aber bei Bestellungen gibt es die Möglichkeit, im Kundenforum Produktrezensionen einzugeben: Hier kann man deutlich machen, dass man auch als Kunde an anständigen Arbeitsbedingungen und Tarifverträgen interessiert ist.
*Die Angabe zur Person dient nur zur Kenntlichmachung der Person