Grabenkämpfe oder Richtungsstreit?
Seit Anfang des Jahres eskalieren Auseinandersetzungen im Göttinger Kreisverband der LINKEN, die seine Handlungsfähigkeit mittlerweile in Frage stellen. In der bürgerlichen Presse werden sie als unpolitische Grabenkämpfe dargestellt, wie sie auch über andere Kreisverbände vor allem in NRW verbreitet werden, um DIE LINKE als politische Alternative gegenüber den bürgerlichen Parteien zu verunglimpfen. Doch hinter solchen Personalquerelen verbirgt sich häufig ein Richtungsstreit über den Charakter und die Ziele der LINKEN, der nach dem „Burgfrieden“ bis zu den Bundestags- und Europawahlen nicht nur in Göttingen neu entflammt ist.
von Kristof Sebastian Roloff, Göttingen
Ausgangspunkt
Hauptanlass für die Konflikte in Göttingen war im Februar das Veto von drei der gerade erst neu gewählten sechs KreissprecherInnen gegen die Parteiaufnahme von Manuel Dornieden, eines aktiven Mitglieds der für Nichtparteimitglieder offenen Parteiströmung Antikapitalistische Linke (AKL) und der Linksjugend[‘solid] in Göttingen. Als Begründung wurde ihm vorgeworfen, dass Mitglieder der Sozialistische Alternative (SAV), die in der Partei DIE LINKE mitarbeiten, zu seinem „persönlichen Umfeld“ gehören würden. Der Protest der Linksjugend[‘solid]-Mitglieder gegen diese satzungswidrige Ausgrenzung stieß jedoch bei den Verantwortlichen vor Ort, im Landesvorstand und in der Landesschiedskommission auf taube Ohren. Obwohl die katastrophalen Folgen für den Wahlkampf absehbar waren, wurde eine Entscheidung der Basismitglieder darüber auf die Zeit nach den Europawahlen verschoben. Jede Kritik daran wurde dann mit nahezu lückenloser Zensur der innerparteilichen Kommunikationsmittel, öffentlichen Verleumdungen, Manipulationen der Homepage und schließlich mit Tagungsverboten für die Linksjugend [‘solid] und der Ortsgruppe der AKL im Parteibüro beantwortet. Da sich die Hälfte des gewählten KreissprecherInnenrates an diesem Feldzug gegen die innerparteiliche Demokratie nicht beteiligen wollte, kam es zur Spaltung des KreissprecherInnenrates – der seit Monaten nicht mehr gemeinsam tagen kann. Die dafür verantwortlichen KreissprecherInnen Reitemeyer, Tegtmeyer und Freimuth (die inzwischen aus der Partei ausgetreten ist) sowie Angestellte der Stadtratsfraktion machten ihre Mitarbeit am Europa- und Oberbürgermeisterwahlkampf von einem Rücktritt des Kreissprechers Dr. Bons abhängig, weil dieser ebenso wie seine VorstandskollegInnen Spiegler und Maschke auch die Teilnahme von SAV-, AKL- und Linksjugend[‘solid]-GenossInnen an der Planung des Wahlkampfs zulassen wollte. Der noch amtierende Schatzmeister hat nach der Ablehnung dieses Ultimatums seinen SprecherkollegInnen schriftlich die Nutzung der Mailadressen der Basismitglieder und damit jede Möglichkeit verboten, mit der Mitgliedschaft Kontakt aufzunehmen.
Kreismitgliederversammlungen
Die von der Satzung vorgeschriebenen Mitgliederversammlungen fanden daraufhin nicht mehr statt, sodass die Parteibasis keine Änderungen am Status Quo erzielen & den Einspruch gegen die Mitgliedschaft von Manuel Dornieden aufheben konnte. Eine Kreismitgliederversammlung (KMV) am 28. Juli, auf die sich alle Beteiligten nach langen Verhandlungen mit dem Landesvorstand geeinigt hatten und wofür Sach- und Abwahlanträge gegen die o. g. KreissprecherInnen vorlagen, wurde kurz vorher durch eine Konkurrenzeinladung für einen anderen Tagungsort „ergänzt“. Den Basismitgliedern lagen also zwei Einladungen für Kreismitgliederversammlungen vor, die zeitgleich an verschiedenen Orten stattfinden sollten. Daraufhin erklärte die Landesschiedskommission beide Einladungsschreiben für ungültig und kündigte an, selber zu einer KMV für etwa Mitte September einzuladen.
„Schmutzige Wäsche“
Während die etwa 140 Mitglieder des Kreisverbandes weder über diese internen Probleme (sowie Anträge zu Parteitagen), noch über die Aktivitäten im Wahlkampf informiert wurden und außerparlamentarische Initiativen – bspw. zu BLOCKUPY; zur Situation an den örtlichen Krankenhäusern; zum Krieg in Syrien, in der Ukraine oder in Palästina – ohnehin nur von der AKL organisiert werden konnten, beschäftigte sich der inoffizielle „Realo-Flügel“ des Kreisverbandes mit offenen Briefen an den Parteivorstand und den Ältestenrat der LINKEN. Das örtliche Göttinger Tageblatt wurde zudem mit „schmutziger Wäsche“ und Gerüchten über ein angebliches Bündnis zwischen dem ehemaligen Landtagsabgeordneten und Stadtratsvertreter Patrick Humke und AnhängerInnen der SAV in Göttingen versorgt. Obwohl sich dieses „Bündnis“ auf eine Zusammenarbeit zur Wiederherstellung von elementaren Mitgliederrechten beschränkte, wurde es als Komplott zur Zerstörung des Kreisverbandes dämonisiert.
Ratsfraktion
Parallel zur Krise der GöLinke (Ratsfraktion Göttinger Linke), die mit persönlichen Vorwürfen, Rücktrittsforderungen an Patrick Humke und dem Rückzug des langjährigen Ratsvertreters Gerd Nier in der Tagespresse weitgehend unpolitisch ausgefochten wurde, ohne dass die Basismitglieder nach ihrer Meinung zu diesen Problemen gefragt wurden, kam es in der Göttinger Linke, einer vor allem durch DIE LINKE und DKP gebildeten WählerInnengemeinschaft, anlässlich der Oberbürgermeister-Stichwahlen ausnahmsweise zu inhaltlichen Diskussionen über die Haltung der LINKEN zu SPD und GRÜNE in der Kommunalpolitik. Diese Frage bildet – neben dem Verhältnis linker Mandatsträger zur innerparteilichen Demokratie und Transparenz – den Kern des Richtungsstreits in der Gesamtpartei, der im Göttinger Kreisverband vor dem Hintergrund ähnlicher Probleme im niedersächsischen Landesverband eigentlich nur besonders zugespitzt zum Ausdruck kommt.
Oberbürgermeister-Stichwahlen
Nachdem die GöLinke mit ihrem OB-Kandidaten Dr. Fascher mit 6,4 Prozent im ersten Wahlgang ein – angesichts der erwähnten Probleme – achtbares Ergebnis erzielt hatte, wollte deren SprecherInnenkreis nun für die Stichwahl zwischen den Kandidaten von CDU und SPD eine bedingungslose Unterstützung des SPD-Vertreters Köhler empfehlen. In der Mitgliederversammlung der Göttinger Linke wurde vor allem die Begründung, nämlich angebliche „Übereinstimmungen“ von LINKEN und SPD in allen wichtigen kommunalen Fragen (darunter der Wohnungs-, Flüchtlings- und Ausländerpolitik) heftig kritisiert. SAV-AktivistInnen, Mitglieder der LINKEN sowie der DKP wandten sich gegen eine Wahlempfehlung, mit der DIE LINKE Mitverantwortung für die zu erwartende Kürzungspolitik des SPD-Oberbürgermeisters übernehmen würde.
Trotz dessen wurde in einer Presseerklärung des SprecherInnenrates der Göttinger Linke vom 05. Juni der Aufruf zur Wahl des SPD-Kandidaten Köhler damit begründet, dass „Sondierungsgespräche (…) viele Übereinstimmungen bei den politischen Zielen von Köhler und den Linken“ ergeben hätten. Diese Mithaftung der LINKEN für die Kürzungspolitik des SPD-Bürgermeisters auf der Basis bloßer Wahlversprechungen steht nicht nur im Widerspruch zur eigenständigen Kandidatur der LINKEN vorher, sondern stellt auch ihre Rolle als Oppositionspartei im Stadtparlament in Frage. Dies wurde durch eine mehrheitliche Ablehnung eines Entschließungantrags der AKL am 11. August bekräftigt. Im abgelehnten Teil des insgesamt angenommenen Antrags heißt es, dass die GöLinke „von ihren RatsvertreterInnen (…) eine klare Oppositionshaltung gegenüber allen neoliberalen Parteien (erwartet), die mit dem SPD-Oberbürgermeister Köhler die Kürzungspolitik des sogenannten „Zukunftsvertrages“ umsetzen, ohne damit eine Zusammenarbeit mit ihnen in Einzelfragen auszuschließen“.
Regierungsfrage
Diese formelle Absage an den Oppositionsauftrag linker WählerInnen und Mitglieder bezieht sich nicht nur auf die Kommunalpolitik, sondern auch auf die Landesebene. Der sozialdemokratische „Realo-Flügel“ in der niedersächsischen LINKEN hatten im Landtagswahlkampf auf eine Beteiligung der LINKEN an einer rot-grünen Landesregierung gesetzt und die Partei mit dieser Anbiederung an SPD und GRÜNE aus dem Landtag katapultiert – obwohl das Wahlprogramm eine solche Koalition auf Antrag von AKL- und SAV-Mitgliedern (u. a. aus Göttingen) noch ausgeschlossen hatte. Die Frage, ob sich DIE LINKE als antikapitalistische Opposition und Bündnispartner für den außerparlamentarischen Widerstand aufstellt oder als erstarrte Regierungspartei im Wartestand begreift, ist im Göttinger Kreisverband seit Jahren umstritten und zugleich der eigentliche Hintergrund für seine Konflikte, auch wenn der Realo-Flügel einer politischen Sachdebatte auszuweichen und sie durch bürokratisch-administrative Ausgrenzungen, Zensurmaßnahmen im KV-Diskussionsforum (u. a. sogar gegen KreissprecherInnen) und persönliche Vorwürfe in der bürgerlichen Presse zu ersticken versucht.
SAV
Charakteristisch für diese Kampagnen sind Pauschalvorwürfe gegen alle Parteimitglieder, die irgendwie mit der SAV in Verbindung gebracht werden können (selbst wenn diese nur gemeinsam in einem Café gesehen wurden). Obwohl in der Linksjugend [‘solid] und in der Ortsgruppe der AKL die Mehrheit der Aktiven nicht in der SAV sind, wurden beide Gliederungen kollektiv und öffentlich mit der SAV gleichgesetzt, als ob die betroffenen Mitglieder nicht des selbstständigen Denkens fähig wären und zur eigenen Beurteilung der Vorschläge ihrer MitstreiterInnen unfähig wären. Dieses Misstrauen und die damit verbundene Respektlosigkeit gegenüber der Göttinger Mitgliedschaft, der sogar Beschlussprotokolle von Kreismitgliederversammlungen nicht zugesandt werden dürfen, kennzeichnen sektiererische Entwicklungen im Göttinger Kreisverband.
DIE LINKE sollte als pluralistische Partei eigentlich ein vitales Interesse daran haben, AktivistInnen von möglichst vielen sozialistischen Organisationen, Initiativen und Strömungen in den gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus und seiner Parteien einzubeziehen, anstatt sich vorrangig von ihnen abzugrenzen und den solidarischen Meinungsaustausch unter AntikapitalistInnen bürokratisch abzuwürgen. Der vom ausscheidenden Ratsvertreter Gerd Nier in der bürgerlichen Presse verbreitete Vorwurf, dass „Sektierer der SAV“ den Göttinger Kreisverband „in erstaunlich kurzer Zeit herabgewirtschaftet“ hätten, ist angesichts der Tatsache, dass die Mitglieder der SAV keinerlei Funktionen im Kreisverband ausüben und die meisten der 140 eingetragenen Mitglieder nicht einmal schriftlich erreichen können, ebenso wenig haltbar wie die im Namen des Kreisverbandes in den sozialen Netzwerken veröffentlichte Behauptung, dass wir wegen der von uns mitorganisierten Demonstrationen gegen die Kriegsverbrechen der israelischen Regierung „Antisemiten“ seien oder Methoden der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) verwenden würden. Diese Verleumdungen wären nicht ernst zu nehmen, wenn sie nicht immer noch von Mandatsträgern derselben Partei verbreitet oder toleriert würden, für die immerhin Mitgliedsbeiträge gezahlt werden und in Wahlkämpfen um Stimmen geworben wird. Die Göttinger Verhältnisse sind ärgerlich und ein alarmierendes Beispiel für die Dynamik innerparteilicher Ausgrenzungen, aber keineswegs repräsentativ für DIE LINKE insgesamt: in anderen Kreisverbänden, wie zum Beispiel im nur 35km entfernten Kassel, ist die Zusammenarbeit von SAV-AktivistInnen und anderen Aktiven in der Partei sehr konstruktiv und hat zu überdurchschnittlichen Wahlergebnissen der dortigen LINKEN im vergangenen Europawahlkampf beigetragen.
Ausblick
Für die Mitglieder des Göttinger Kreisverbandes bietet die für Mitte September angepeilte KMV zum ersten Mal seit Monaten eine Chance, die unpolitisch erstarrten Personalquerelen in der Ratsfraktion und des KreissprecherInnenrats durch demokratische Sach- und Personalentscheidungen der Mitgliederbasis zu durchbrechen. Dabei geht es nicht nur um die überfällige Ablösung jener KreissprecherInnen, die bisher nur durch ihre Zensurmaßnahmen und Serviceleistungen an die bürgerliche Presse auf sich aufmerksam gemacht haben, sondern vor allem um die Rückbesinnung der LINKEN auf ihren eigentlichen historischen Auftrag als Alternative zu den Parteien, die den Kapitalismus mit allen Mitteln am Leben erhalten.