Der Kampf gegen Stuttgart 21 und der Arbeitskampf der GDL wirken wie Befreiungsschläge

Foto: https://www.youtube.com/channel/UC4R3TkgWFaG4nnWMy5oHLFA CC
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Dokumentiert: Dritte Ausgabe der Streikzeitung und Rede von Winfried Wolf

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Am 24. November fand in Stuttgart die 248. Montagsdemonstration gegen das Monsterprojekt Stuttgart 21 statt. Erneut versammelten sich, wie nun volle fünf Jahre lang an allen Montagen (die Feiertage und Ferien ausgenommen), mehr als 1500 Menschen. Auf der Kundgebung sprachen Peter Grohmann (“Anstifter”) und Winfried Wolf. Wolf stellte in seiner Rede einen Zusammenhang her zwischen dem Kampf gegen Stuttgart 21 und dem Arbeitskampf der GDL.

Gelähmte Republik?

Oder: Der Widerstand gegen Stuttgart 21 und der Kampf der GDL-Bahnbeschäftigten wirken wie Befreiungsschläge

Vor fünf Wochen war ich ein weiteres Mal in Florenz eingeladen – von Tiziano Cardosi und dem Komitee gegen den Hochgeschwindigkeitstunnel, der unter der Altstadt von Florenz hindurchgeführt werden soll. Tiziano war einmal capo stazione, Chef des Bahnhofs Campo Marte in Florenz; heute ist er Sprecher des Komitees gegen dieses Hochgeschwindigkeitsprojekt.

Nach meinem Referat dort

– es ging um die Krise in Italien, um den Euro und um den Widerstand gegen die Krisenfolgen, am Rande auch um „il grande opere inutile“, diese „großen unnützen Werke“, darunter um die Hochgeschwindigkeitsstrecke durch das Val di Susa und um Stuttgart 21 –

gab es eine dieser typischen Diskussionen. Von einem Eisenbahner-Kollegen, David L., wurde ich gefragt: „Wie kommt es, dass es in Stuttgart diesen massenhaften und so lange andauernden Widerstand gegen das Großprojekt S21 gibt?“

Meine Antwort lautete sinngemäß: Das hat etwas zu tun mit Ausdauer. Mit Kleinarbeit. Mit der Verbindung von Kultur und Kämpfen.

Vor allem aber damit, dass dort in Stuttgart dieser Protest systematisch auf die Straßen und die Plätze getragen wurde.

Hätte man auf die gehört, die vor ziemlich genau einem Jahr sagten Montags-Demos sind Montags-Unsinn, gäbe es nicht diese nunmehr 248 Montagsdemonstrationen, dann wäre dieser Protest verebbt, versickert in Grüppchen, in Wohnungen, in Gehirnwindungen.

Eben:

„Wessen Straßen – unsere Straßen!“ „Wessen Stadt – unsere Stadt!“

Es gibt noch ein anderes Element, das diesen unseren Protest so wirksam machte und macht. Das ist die Verbindung mit all den anderen Orten, wo sich Widerstand bildet, mit all den Gruppen, Initiativen und Menschen, die diesen Widerstand artikulieren und organisieren.

So sprach Tiziano Cardosi bereits einmal in Stuttgart. Immer wieder waren Leute aus der Bewegung gegen S21 in Florenz und im Val di Susa. Und Tiziano wird am 8. Dezember einer der Redner auf der 250. Montagsdemo sein.

Vor zwei Wochen war Thilo Böhmer einer der Redner auf der 246. Stuttgarter Montags-Demo. Thilo ist Lokführer, Mitglied der GDL – übrigens auch Mitglied bei „Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB)“. Damit wurde ebenfalls eine Verbindung zwischen Stuttgart 21 und einer neuen wichtigen Bewegung hergestellt – derjenigen der Lokführer, der Zugbegleiter und der Bordgastronomen bei der Deutschen Bahn für höhere Löhne, für Arbeitszeitverkürzung und für eine strikte Begrenzung der Überstunden

Dieser Arbeitskampf erreichte am vergangenen Freitag, dem 21. November ein neues Stadium. Die Deutsche Bahn AG hat dort ein weiteres Mal ein unsittliches, nicht annehmbares Angebot der GDL unterbreitet.

Der Konflikt dürfte sich neu zuspitzen, neue Streiks sind nicht mehr auszuschließen. Kommt es dazu, so sind dafür allein die Deutsche Bahn AG und die Bundesregierung verantwortlich. Diese fahren im aktuellen Konflikt einen provokativen Kurs: Sie sind weiterhin nicht bereit, auf die berechtigten qualitativen Forderungen der GDL nach Arbeitszeitverkürzung und nach einem Stopp des Überstunden-Aufbaus und einer Rückführung der aufgelaufenen Überstunden einzugehen.

Es droht sogar ein neues Lohndumping im Schienenverkehr. Im genannten neuen Angebot wurden die entsprechenden Fallstricke gelegt. Im Detail könnt ihr das in der neuen Streikzeitung lesen, der dritten Ausgabe binnen vier Wochen, die heute [also am 24. November; WW] in den Druck ging.

Wichtig ist vor allem:

Die Bundesregierung bereitet ein Gesetz vor, das das Streikrecht einschränkt und die Verfassung demoliert.

Kommt es nun im Gefolge des provokativen Kurses der Deutschen Bahn AG zu neuen Streiks, dann wird erneut – wie vor zwei Wochen – das düstere Bild mit dem Titel „Die gelähmte Republik“ gezeichnet werden. Gemeint ist dabei zum einen im direkten Sinn das Bild von einer angeblich blockierten Mobilität.

Gemeint ist aber auch im übertragenen Sinn: Das Bild von einem sogenannten Reformstau. Der Tenor lautet: Man müsse noch mehr sparen. Es gelte, den Gürtel bei den keinen Leuten noch enger zu schnallen. Die Leute müssten noch länger und noch gestresster arbeiten.

All das sei nötig, um im „globalen Wettbewerb“ mitzuhalten.

Doch das Bild von einer solchen „gelähmten Republik“ ist dreifach verquast & verquer.

Erstens weil die Schiene nun mal – leider! – nur Marktanteile zwischen 7 und 15 Prozent im Personen- und Güterverkehr hat. Selbst wenn die GDL den Schienenverkehr zu Hundertprozent „lahm“ legte – die Einschränkung von Mobilität und Transporten hielte sich in Grenzen.

Übrigens: Wer blockiert denn Mobilität? Wer gibt denn am Ende zehn Milliarden Euro aus, um in Stuttgart die Bahnhofskapazität um 30 Prozent zu verkleinern? Jedes Prozent Verkleinerung kostet 330 Millionen Euro – kostet die Steuerzahler 330 Millionen! Das ist der Irrsinn bei diesem Projekt und nun tatsächlich einmalig in unserem Land: Man gibt irrwitzig viel Steuergeld dafür aus, dass man hinterher deutlich weniger hat.

Das Bild von der „gelähmten Republik ist – zweitens – verquer und falsch, weil die wirkliche Lähmung, in der sich diese Republik befindet, eine ganz andere ist:

Diese ist definiert durch dieses absurde Sich-Gefangen-Fühlen im neoliberalen Denken:

Da knallt der Reichtum durch die Decke.

Da explodieren die Gewinne bei der Bahn.

Da verdreifacht sich das Einkommen des Bahnchefs in eineinhalb Jahrzehnten.

Da schreibt ein Schäuble die schwarze Null und lässt sich „weiterhin sprudelnde Steuerkommen“ attestieren.

Da werden Milliarden Euro für zerstörerische Großprojekte ausgegeben – im westlichen Spessart mit der neu belebten Mottgers-Spange, in Norddeutschland mit der soeben wiederauflebenden Y-Trasse; auf Fehmarn mit dem „Fehmarn-Belt“, über die Schwäbische Alb mit der Hochgeschwindigkeitsstrecke, bei den Airports in Berlin und Frankfurt, im Fall der Elbphilharmonie, in München mit dem S-Bahn-Tunnel oder eben: mit Stuttgart 21.

Doch die Antwort lautet immer&immer&immer:

sparen&sparen&sparen.

Und zwar: bei den kleinen Leuten.

Das Bild von der „gelähmten Republik“ ist schließlich drittens falsch, weil der Arbeitskampf der GDL und der Widerstand gegen Stuttgart 21 nicht lähmen, sondern als ENTLÄHMUNG, als Befreiungsschlag wirken. Die Leute, die diese Kämpfe mitkriegen, die sagen doch:

„Endlich – ja, genau so!“

„Was die können, können wir auch!!“

„Mensch, wir hätten schon lange mal so wie die zulangen müssen!!!“

Und da dies so wirkt, da all diese Kämpfe diese befreiende Wirkung haben, und da diese kleine radikale Minderheit der selbst ernannten Elite Angst vor solchen befreienden Schlägen hat, betreten jetzt all diese Demagogen, diese Hetzer und diese Unwürden- und Bedenkenträger die öffentlichen Bühnen. Mit all diesen verlogenen Parolen:

Es sei eine „Funktionselite“, die da streikt!

Da gäbe es diesen Amok-Weselsky, der seinen Machtbereich ausweite – „ausweite“ über seine 61-qm-Wohnung hinaus!

Da walte eine egoistische „Spartengewerkschaft“, die das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ kaputtmache.

Da werde die „Einheitsgewerkschaft“, diese „Lehre aus dem Faschismus“ in Frage gestellt!

Wir kennen das aus Stuttgart: Wie oft wurde hier der Widerstand diffamiert mit „Wutbürger“. Oder mit dem Argument, das seien doch vor allem die reichen Häuslebauer, die Angst um ihr Villen in Halbhöhenlage hätten. Hallöchen, ihr gut tausend Villenbesitzer!

Halten wir nüchtern fest:

In Deutschland gibt es seit einen Vierteljahrhundert weitgehend Reallohnstagnation bei der durchschnittlichen Bevölkerung.

Deutschland hat in ganz Europa den größten Niedriglohnsektor.

In Deutschland gibt es auch in einer Aufschwungperiode real mindestens 4 Millionen Arbeitswillige ohne Job.

Deutschland hat in ganz Europa die mächtigsten und gewinnträchtigsten Konzerne und Banken.

In Deutschland gelang es, ein fatales Machtkartell zu schmieden zwischen den Superreichen, den Top-Unternehmen, der jeweiligen Bundesregierung, den Medien und den Spitzen vieler Gewerkschaften. Was sich dann in dieser Region als Spätzle-Connection und S-21-Bau-Mafia konkretisiert.

In dieser Gesamtunwetterlage sind der Arbeitskampf der GDL und der Widerstand gegen Stuttgart 21 ohne Zweifel herausragend. Sie sind aber zugleich einzuordnen in ein größeres Gesamtbild.

Gerade weil es diese „im neoliberalen Denken gelähmte Republik “ gibt, weil Großgewerkschaften wie die IG Metall ebenso paralysiert wie eingebunden erscheinen, war es doch auffallend, wie es in den vergangenen Jahren zu einer größeren Zahl von Kämpfen an der Peripherie kam

  • bei den Prekären,
  • im Fall der Niedriglöhner,
  • geführt von den Fast-Vergessenen: von Erzieherinnen, von Frauen im Einzelhandel, von Krankenhauspersonal, von Beschäftigten bei Schlecker, bei Amazon, bei KiK.

Sie alle kämpften in jüngerer Zeit gegen dieses Eingemauertsein in STANDORT-Denken und SparWAHN. Wie dies auch die GDL tut. Und wie wir das seit nunmehr fünf Jahren im Widerstand gegen S21 machen.

Ich erinnere an die Zeit Ende der 1960er Jahre. Auch damals war das westliche Deutschland erstarrt in der sogenannten Konsumgesellschaft. Die Gewerkschaften waren eingebunden in das System. Dann kam es 1966/67 zur ersten Nachkriegsrezession mit kurzzeitig 800.000 Arbeitslosen. Doch es blieb bei reiner Tarifrunden-Gymnastik.

Die erste Große Koalition aus CDU/CSU und SPD verabschiedete im Mai 1968 die Notstandsgesetze, mit denen drastische Eingriffe in das Grundgesetz mit massiven Einschränkungen der Grundrechte, auch des Streikrechts, beschlossen wurden.

Und dann diese Befreiungsschläge: 1969 und 1973 gab es sogenannte wilden Streiks. Da betraten hunderttausende Menschen ohne gewerkschaftliche Rückendeckung die Bühne. Es meldeten sich Frauen zu Wort – mit begeisternden Arbeitskämpfen bei Pierbug in Neuss und bei Hella in Lippstadt.

Und dann boten auch noch plötzlich „Gastarbeiter“ den „Gastgeber-Arbeitgebern“ die Stirn – mit dem Höhepunkt eines „Türken-Streiks“ bei Ford in Köln.

Vergleichen wir doch mal die Befreiungschläge von damals und von heute. Wie ähneln sich doch die aktuellen Schlagzeilen den damaligen. Damals schlagzeilten „Bild“ und der „Express“ in Köln:

„Chaoten blockieren Deutschland!“ – „Gastarbeiter legen Ford lahm“.

Und: Auch damals reagierten die traditionellen Gewerkschaften – die IG Metall vorneweg – harsch und undemokratisch. Es gab sog. Unvereinbarkeitsbeschlüsse – kämpferische Kolleginnen und Kollegen flogen aus den Gewerkschaften. Tom Adler, damals Daimler-Betriebsrat, heute Stadtrat für DIE LINKE und wesentlicher Mitorganisator unserer Montags-Demos, wurde 1987 aus der IG Metall ausgeschlossen.

Doch am Ende erwiesen sich diese Bewegungen und diese kämpferischen Kolleginnen und Kollegen als nachhaltig-positiv.

Die erstarrten Gewerkschaften wachten auf – auch um des Selbsterhalts willen. Junge Leute und neue Bewegungen wirkten auf sie ein.

Eine neue kämpferische Gewerkschaftsbewegung entstand – nicht zuletzt mit den Zielsetzungen: Vermenschlichung der Arbeitswelt, Verkürzung der Arbeitszeiten, in Frage Stellung des patriarchalen Modells von Familie und Job. Stichworte: Steinkühler-Pause. Und der Arbeitskampf für 35 Stunden unter dem IG Metall-Bezirksleiter Franz Steinkühler.

Übrigens: Es war dann nicht zufällig, dass sich vor einigen Tagen Franz Steinkühler als einer der wenigen aus dem traditionellen Funktionärs-Stamm der IG Metall in Sachen GDL-Arbeitskampf zu Wort meldete. Pro GDL! Gegen das Tarifeinheitsgesetz!

Wir stehen am Vorabend einer neuen weltweiten Krise. Vieles spricht dafür, dass diese 2015 auch unser Land erfassen wird. Diese Krise wütet bereits in Japan und in den EU-Peripherieländern Griechenland, Spanien, Portugal, Irland. Sie hat inzwischen Italien und Frankreich erfasst – mit 30 und 40 Prozent Jugendarbeitslosen-Raten.

In dieser neuen Krise könnte sich die Lähmung im Sinne des Gefangenseins im neoliberalen Denken nochmals verstärken.

Doch es gibt die Chance, diesen fatalen Kreislauf zu durchbrechen. Der Kampf der GDL und der anhaltende Widerstand hier in Stuttgart gegen S21 wirken vor allem dann als Befreiungsschlag, wenn wir solidarisch sind mit den Bahnbeschäftigten und mit ihrem Kampf. Wenn wir dazu beitragen, alle diese Kämpfe miteinander zu verbinden. Wenn wir diesen gesamten Zusammenhang immer wieder in unseren Köpfen herstellen. Wenn wir Selbstvertrauen und Würde zurückgewinnen. Wenn wir dazu beitragen, dass andere Würde und Selbstvertrauen erlangen.

Und genau dies wird mit dem Zuruf, wird mit der Grußformel, die sich hier entwickelt hat, so treffsicher auf den Punkt gebracht:

OBEN BLEIBEN!

Winfried Wolf ist Chefredakteur von „Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie“ und Gründer und verantwortlicher Redakteur von „STREIKZEITUNG – JA zum GDL-Arbeitskampf – NEIN zum Tarifeinheitsgesetz“