Dieser Artikel erschien zuerst am 11. Mai auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net
Börsenboom und Wachstumszahlen können Schwierigkeiten nicht verbergen
von Dikang, chinaworker.info, Internetportal für China und Südostasien des „Committee for a Workers´ International“ // „Komitee für eine Arbeiterinternationale“, dessen Sektion in Deutschland die SAV ist
Für die Ein-Parteien-Diktatur in China (der sogenannten „Kommunistischen Partei Chinas“, KPC) läuft alles darauf hinaus, dass 2015 ein extrem schwieriges Jahr wird. Nach Jahren, die von einem auf Schulden aufgebauten rapiden Wachstum und dem größten Bauboom der Welt gekennzeichnet waren, ist Chinas Volkswirtschaft nun mit einer ganzen Reihe schwerwiegender Probleme konfrontiert. Überkapazitäten, Deflation, ein spürbarer Rückgang im Immobiliensektor und die Schuldenkrise der Regionalregierungen wirken wie eine Bremse auf das Wirtschaftswachstum. Aufgrund von verschiedenen Maßnahmen kommt es nur noch im Schneckentempo voran.
Allgemein gesprochen ist die wirtschaftliche Entwicklung für jede Regierung von besonderer Bedeutung. Im Falle des chinesischen Regimes, das vom Zusammenspiel aus angsteinflößender staatlicher Repression und stetigem Wirtschaftswachstum abhängig ist, um an der Macht zu bleiben, gilt dies im Besonderen. Von 1980 bis 2012 wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) jährlich im Schnitt um zehn Prozent. Im vergangenen Jahr verzeichnete das BIP einen Zuwachs von offiziell 7,4 Prozent, und für dieses Jahr ist das Ziel auf „rund sieben Prozent“ nach unten korrigiert worden. Das ist eine Vorgabe, die selbst der Premier Li Keqiang als „auf gar keinen Fall einfach zu erreichen“ beschreibt. Um die Lage aber noch düsterer darzustellen, muss angemerkt werden, dass es sich bei diesen Zahlen zum BIP mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit um geschönte Angaben handelt. Das heute vorhandene reale Wirtschaftswachstum muss substantiell niedriger angesetzt werden. Einige WirtschaftswissenschaftlerInnen warnen davor, dass China bereits eine „harte Landung“ hingelegt hat oder kurz davor steht, dies zu tun. Damit wird der Rückgang von „einer zweistelligen Rate zu einem Wachstumsniveau im niedrigen einstelligen Bereich“ bezeichnet.
Das ist der Hintergrund, vor dem in letzter Zeit eine ganze Reihe überstürzter Maßnahmen zur Lockerung der Geldpolitik durchgeführt wurden. Es kam zu Steuersenkungen und anderen stimulierenden Maßnahmen, welche die strikte Geldpolitik der Regierung umzukehren schienen. Vormals wollte man durch die Erhöhung der Kapitaldecke die Wirtschaft aus ihrer Abhängigkeit von den Schulden befreien. Das oberste Treffen des Politbüros Ende April deutete zudem darauf hin, dass eine Kehrtwende bevorstehe. Das vom Regime so sehr befeuerte Restrukturierungs- und Reformprogramm trat kurzfristig gegenüber den Konjunkturmaßnahmen in den Hintergrund, was sogar unter Inkaufnahme der Anhäufung zusätzlicher Schuldenberge hingenommen wurde. Auch die Tageszeitung „The People’s Daily“ berichtete von diesem Treffen und meinte, die Regierung würde „wahrscheinlich zu den alten Mitteln zurückfinden“. Damit bezog man sich auf mehr staatliche Investitionen und weitere Maßnahmen, mit denen der im Niedergang begriffene Immobilienmarkt zu stimulieren sei.
Seit November hat die Regierung zwei Mal die Leitzinsen gesenkt und ebenfalls zwei Mal die sogenannte „required reserve ratio“ (RRR; dt.: „Kapital-Deckungsgrenze“) gekappt. Dabei geht es um die Kapitalsumme, die von den Banken als Reserve nachgewiesen werden muss. Über diesen Weg sollte zusätzliches Kapital ins Bankensystem gepumpt werden. Es wird davon ausgegangen, dass es zu einer weiteren Lockerung kommen wird. In Regierungskreisen steigt die Nervosität. „Peking mag den Alarmknopf vielleicht nicht drücken. Man vermittelt aber den Eindruck, als wolle man sicherstellen, dass alles rund läuft“, so der Kommentar von Christopher Balding auf der Finanz-Webseite „Seeking Alpha“. Heute vor einem Jahr waren die führenden Köpfe Chinas noch hoffnungsvoller eingestellt, was die Verlangsamung der Wirtschaft angeht. Damals erzählten man uns noch, dies würde auf konstruktiven Maßnahmen basieren und helfen, die Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Schließlich hätten exzessive Investitionstätigkeiten die Verbrauchernachfrage bei weitem überflügelt, wobei letztere viel eher zu nachhaltigem Wachstum beitragen würde. Heute bleiben allerdings sowohl die Investitionen als auch die Verbrauchernachfrage – genau wie fast alle anderen Bereiche – hinter den Erwartungen zurück. Der „kontrollierte Abschwung“ und die „Neujustierung“ scheinen vom Weg abgekommen zu sein.
Die zweimalige Absenkung der Kapitaldeckungsgrenze (RRR) im Februar bzw. April steht für rund 1,8 Billionen Yuan (~ 270 Mrd. Euro). Das ist beileibe keine kleine Summe, die in der Hoffnung ins Bankensystem gepumpt worden ist, dass damit zusätzliche Investitionen und neue Geschäfte auf dem Immobilienmarkt getätigt werden. Bisher ist es dazu jedoch nicht gekommen, was ganz klar der Hintergrund für die Entscheidung des Politbüros vom April ist, eine Kehrtwende hinzulegen. Auf dem Immobilienmarkt und im Bereich der Industrieproduktion ist bereits ein Sättigungsgrad erreicht. Die Profitmargen purzeln, was auf Seiten der großen Konzerne für Zurückhaltung sorgt. Sie wollen selbst dann nicht mehr investieren, wenn die Kredite günstiger werden.
Die am Sonntag, dem 9. April, von der „Chinesischen Volksbank“ (PBoC) durchgeführte Senkung der Kapitaldeckungsgrenze erfolgte nur 48 Stunden, nachdem die Ankündigung neuer Regelungen durch die Börsenaufsicht zu einem drastischen Kurseinbruch bei den chinesischen Börsentermingeschäften in den USA und auf anderen Märkten in Übersee geführt hatte. Der Schritt der PBoC schien zeitlich bewusst gewählt, um die Märkte zu stützen, bevor die Börsen von Shanghai und Shenzhen am Montagmorgen wieder aufmachen würden. Das ist der erste bekanntgewordene Fall, in dem die Regierung und die Zentralbank so unmittelbar interveniert haben, um die Börse zu retten.
Börsen-Hysterie
Chinas große Geschäftsbanken, die angeblich durch die KPC kontrolliert werden, lehnen es ab, die zusätzlich zur Verfügung stehenden Summen dahin zu transferieren, wo die Regierung sie gerne sehen würde. Stattdessen fließt ein Großteil der neuen liquiden Mittel in den Börsenhandel, der in den letzten sechs Monaten um 80 Prozent zugelegt hat. Kleinhändler strömen auf den Markt, was dazu geführt hat, dass allein in den letzten Aprilwochen vier Millionen neue Betriebs- und Handelskonten eröffnet worden sind. Rund 40 Prozent der Aktienanteile werden jetzt auf Pump gekauft, und die Menschen verkaufen ihre Häuser, um auf dem Börsenparkett mit dabei sein zu können. Sie wollen am „Goldrausch“ teilhaben. Angaben des Wirtschaftswissenschaftlers Andy Xie zufolge sind auf diese Weise mehr als 2,5 Billionen Yuan (~ 390 Mrd. Euro) an Krediten in den Börsenhandel geflossen. Während die chinesische Schuldenkrise das Ergebnis einer breit angelegten Konjunkturpolitik ist, mit der die Infrastruktur und der Wohnungsbau vorangetrieben werden sollten (und von dem nur ein großer Teil im Nichts versenkt wurde), sorgt die heutige Konjunkturpolitik für nichts anderes als fiktives Vermögen auf dem Börsenparkett. Das Regime hat die Börsen-Hysterie durch einen Abbau von Kontrollmechanismen weiter befeuert (die letzte dieser deregulierenden Maßnahmen sorgte am 13. April dafür, dass die Begrenzung der Handelskonten pro Person aufgehoben worden ist). Hinzu kam eine massive Medienkampagne. Jetzt ist man plötzlich unglaublich nervös aufgrund des gigantischen Ausmaßes, das der „Differenzhandel“ („margin trading“, der den Kauf von Aktien auf Pump bezeichnet) angenommen hat. Gleichzeitig fürchtet man, dass ein etwaiges hartes Durchgreifen einen regelrechten Börsencrash provozieren könnte. Das brächte, aufgrund der fragilen Lage, in der die Wirtschaft ganz allgemein steckt, die Gefahr mit sich, dass China in eine ausgewachsene Rezession abrutschen könnte.
Für das Regime der KPC wird ein boomender Börsenmarkt als durchaus erstrebenswert angesehen. Das gilt trotz der offenkundigen Gefahren, die das mit sich bringt. Der Grund besteht teilweise darin, dass damit die schweren Folgen der geplatzten Immobilienblase abgefedert werden. Man verspricht sich davon aber auch eine Weiterentwicklung des Kapitalmarkts als alternative Quelle zur Finanzierung der Unternehmen, denen die Kredite ausgehen. Letzteres gilt vor allem für die Privatfirmen. Diese Unternehmen hängen derzeit vom Schatten-Bankensektor ab, das Peking in Zaum zu halten versucht, weil es hohe Risiken für das allgemeine Finanzsystem mit sich bringt. Die Politik der Regierung hüpft vom offenen Feuer ins siedende Wasser und wieder zurück. Der Run auf den Aktienmarkt führt dazu, dass liquide Mittel aus dem Bankensystem abgeführt werden, weil SparerInnen Gelder abziehen, um damit Teil des Glücksspiel-Gelages zu werden. Dadurch wird die Zentralbank gezwungen, weitere Maßnahmen zur Lockerung zu ergreifen, damit eine Liquiditätskrise vermieden werden kann.
Folgt man den aktualisierten Angaben der Liste der reichsten ChinesInnen der Magazins „Forbes“ (die auf Schätzungen basieren), dann ist die Zahl der Dollar-Milliardäre und der Familien, die Milliardenvermögen ihr Eigen nennen, von 242 im Oktober 2014 auf 400 im April 2015 angestiegen. Im Durchschnitt bedeutet das, dass im letzten halben Jahr mehr als 25 neue Milliardäre jeden Monat in China hinzugekommen sind. Das ist eine Folge der steigenden Aktienwerte. Auf der anderen Seite wird für dieses Jahr von einer Steigerung des allgemeinen Lohnniveaus ausgegangen, das so niedrig ausfallen wird, wie in den letzten zehn Jahren nicht mehr. Die Anzahl der Streiks nimmt stark zu.
Dieser Umstand offenbart den Klassen-Charakter der Wirtschaftsreformen von Präsident Xi Jinping und Premier Li Keqiang, die in Einklang mit der Politik der kapitalistischen Regierungen weltweit die Konzerne schützen und die Last der sich zuspitzenden Krise auf den Schultern der Arbeiterklasse abladen. Finanzminister Lou Jiwei, einer der offensichtlich neoliberalsten Regierungsvertreter, hat am 24. April in einer Rede eine sehr ungewöhnliche Warnung ausgesprochen, indem er sagte, dass China „ein Chance von 50 Prozent (hat), in den nächsten zehn Jahren in die Falle der mittleren Einkommen zu tappen“. In diesem Zusammenhang forderte energisch eine noch radikalere Beschneidung des Arbeitsrechts, um es den Arbeitgebern einfacher zu machen, Menschen auf die Straße zu setzen. Bei der Falle der mittleren Einkommen handelt es sich um ein Konzept, das bei der „Weltbank“ sehr beliebt ist. Man bezieht sich damit auf Länder, die ein bestimmtes Maß an Entwicklung vorzuweisen haben, dann aber ins Straucheln geraten. Als Beispiele dienen Länder wie Südafrika oder Brasilien. Die Rede von Lou hat im Internet Stoff für eine Vielzahl von Debatten geliefert. Sie steht beispielhaft für neue Angriffe, die von der Regierung auf die Einkommen und rechtlichen Schutzmechanismen in Erwägung gezogen werden, die für ArbeitnehmerInnen sowie Bäuerinnen und Bauern gelten.
Zwischen dem Börsenboom und den wirtschaftlichen Rahmendaten gibt es ganz offenkundig keinen Zusammenhang mehr. Und der Zeitpunkt wird kommen, da es am Aktienmarkt einen Crash geben wird. So ist der Börsenwert der „People’s Daily“, dem wichtigsten Propaganda-Organ der KPC, ist in den letzten sechs Monaten beispielsweise um 67 Prozent gestiegen. Die Werte, die an der „ChiNext“, der chinesischen Version des „Nasdaq“, gehandelt werden, sind heute zum Doppelten des Preises zu haben, zu dem man am Vorabend des „Dotcom-Crashs“ in den USA vor 15 Jahren Aktien im „Nasdaq“-Handel bekommen konnte. Mehrere KommentatorInnen haben darauf hingewiesen, dass eine Aktien-Blase häufig der Hinweis auf die Endphase eines auf Krediten aufgebauten wirtschaftlichen Booms ist. Das war auch 1989 in Japan der Fall. Noch heftiger stellte sich die Lage 1929 in den Vereinigten Staaten dar.
In einem aktuellen Bericht der französischen Bank „BNP Paribas“ heißt es: „Der chinesische Run auf den Kapitalmarkt hat nur wenig zu tun mit makroökonomischen Daten. Stattdessen geht es eher um Selbstbereicherung, Finanzierung mit Fremdkapital, einen Kaufrausch im Einzelhandel“. In ihrem Report warnt die Bank weiter: „Doch je länger der Run auf die Börse anhält, desto heftiger wird wahrscheinlich auch die Korrektur-Phase ausfallen. Die Aktienblase, die durch Schulden aus dem Differenzhandel aufgepumpt wird, kann zwar nicht kleiner werden. Aber die chinesischen Behörden sind mit fortschreitender Zeit nicht mehr in der Lage sie platzen zu lassen“.
Geht es wirklich um sieben Prozent?
Um das Phänomen der Verlangsamung der Wirtschaft zu beschreiben, bemüht das Regime den Begriff des „neuen Normalzustands“. Die Betonung liegt dabei auf „normal“. Es geht darum, dass niemand denken soll, Peking würde die Kontrolle über die Wirtschaft verlieren. Wie stark diese Kontrolle noch ist, darf allerdings durchaus diskutiert werden und es wäre sicherlich angebracht zu sagen, dass das Regime wohl eher auf eine ganze Reihe von Schocks und bösen Überraschungen reagiert, die sie häufig dazu zwingen einen Zick-Zack-Kurs auf politischer Ebene hinzulegen. Schließlich wird die Wirtschaft immer stärker in Richtung einer Deflation gedrängt, was auf das zunehmende Maß an Überkapazitäten und die Schuldenstände zurückzuführen ist, die dafür sorgen, dass der Effekt der neuen Konjunkturprogramme nahezu egalisiert wird.
Für das Regime in China handelt es sich bei dem jährlichen BIP-Ziel um die mit Abstand wichtigste Zahl, um die es überhaupt geht. Darauf beruht im Wesentlichen ihre Glaubwürdigkeit. Doch die offiziellen Angaben werden derzeit von vielen als manipuliert erachtet. Dazu das „Wall Street Journal“: „Der Verdacht liegt nahe, dass die Unzulänglichkeiten eher auf bewusste Manipulation und weniger auf lückenhafte Datensätze zurückzuführen sind“. Das Gerücht zieht Kreise, wonach die Regierung (genau wie Unternehmen, die die Behörden austricksen wollen) zum Instrument der „doppelten Buchführung greift“: eine für die Öffentlichkeit und eine weitere nur für den internen Gebrauch, die das wirkliche Bild abbildet und es möglich macht, die Politik akkurat anzupassen.
Kevin Lai, Chefökonom bei „Daiwa“ in Hong Kong, sagte gegenüber „Reuters“: „Wenn wir uns das erste Quartal ansehen, dann sind die Exporte zurückgegangen, die Industrieproduktion war mau, Investitionen in feste Anleiheformen sind wesentlich niedriger ausgefallen, im Einzelhandel sind die Verkaufszahlen auf bescheidenem Niveau geblieben. Wie kann das bereinigte BIP dennoch weiterhin bei sieben Prozent liegen?“.
Wenn wir vom „Li Keqiang Index“ ausgehen, der so heißt, weil der Premier einmal behauptet hat, er würde seine Berechnungen zum Wirtschaftswachstum eher von Statistiken abhängig machen, die den Güterverkehr, den Stromverbrauch und die Kreditvergabe der Banken beinhalten und dass ihm das ein verlässlicheres Bild verschaffe als die offiziellen Zahlen zum BIP, dann liegt das reale Wirtschaftswachstum substantiell unter der Marke von sieben Prozent. Der Energieverbrauch ist im Vergleich zum Jahr davor im ersten Quartal beispielsweise lediglich um 0,03 Prozent angestiegen. Das ist der niedrigste Anstieg seit Ende 2008, als China die Folgen der globalen Finanzkrise zu spüren bekam. Selbst die Maßnahmen der Regierung zur Verbesserung der Energieeffizienz und Drosselung umweltschädlicher Industriezweige können nicht zur Erklärung dafür herangezogen werden, weshalb der Stromverbrauch stagniert. Dieser Umstand deutet viel eher auf eine heftige allgemeine Verlangsamung der Wirtschaft hin. Noch dramatischer sieht es bei den Gütern auf der Schiene aus aus, die im entsprechenden Quartal um neun Prozent zurückgegangen sind.
Das Beraterfirma „Fathom“ aus London hat das Wirtschaftswachstum Chinas des ersten Quartals auf Grundlage der Kriterien analysiert, die von Premier Li vorgeschlagen werden. Demnach rangiert das Wachstum eher bei drei Prozent als bei der offiziellen Angabe von sieben Prozent. „China ist jetzt auf dem Weg zu einer harten Landung“, so Erik Britton von „Fathom“ gegenüber der Tageszeitung „The Guardian“ (13. April 2015).
Rückgang auf dem Immobilienmarkt
In den letzten sieben bis acht Jahren waren der Wohnungsbau und die Investitionen auf dem Immobilienmarkt ein Grundpfeiler für wirtschaftliches Wachstum in China. Dieser Sektor hatte noch größere Bedeutung als der Export. Der dramatische Rückgang, der im vergangenen Jahr einsetzte, lässt nicht nur die Nachfrage nach Stahl, Zement, Bauausrüstungen einbrechen. Der bisherige Hort für den Boom auch in anderen Industriezweigen ist eingebrochen. Das bringt die Gefahr einer ganzen Welle von Zahlungsausfällen auf Seiten der Bauträger, die von Fremdkapital abhängen, und bei den „Investitionskonstruktionen“ des Schatten-Bankensystem mit sich, die davon schließlich abhängig sind. Die Hälfte aller in China vergebener Kredite hängt vom Immobiliensektor ab. Selbst für den Fall, dass sich der Immobilienmarkt auf einem niedrigeren Niveau stabilisieren sollte (was die bestmögliche Folge der letzten Zinssenkungen und Konjunkturpakete der Regierungen wäre), so wird auch das das Problem der Überkapazitäten der Industrie verstärken und Auswirkungen auch auf das Finanzsystem haben.
Der Einbruch auf dem chinesischen Immobilienmarkt hat bereits enorme Kollateralschäden verursacht, die die Weltwirtschaft (und vor allem Mineral-Exporteure wie Australien, Brasilien, Chile und eine Reihe von afrikanischen Ländern) zu spüren bekommen hat. Waren im Jahr 2000 noch 12 Prozent des weltweiten Metallverbrauchs auf China zurückzuführen, so stieg dieser Anteil in den letzten Jahren auf beinahe 50 Prozent an. Die Investitionen auf dem Immobilienmarkt sind seit 1998 jährlich um durchschnittlich 20,2 Prozent angestiegen. Damit wurde das BIP-Wachstum Chinas um das Doppelte überstiegen. Im ersten Quartal 2015 ist dieser Zuwachs auf nur noch 8,5 Prozent zurückgegangen.
Seit der Immobilienmarkt in dieser Form durch massenhafte Privatisierungen in China 1998 geschaffen worden ist, ist es zu keinem derart heftigen Rückgang in dieser Branche gekommen. Im vergangenen Jahr sind die Häuserpreise im Schnitt um sechs Prozent gesunken. Demgegenüber waren in den Jahren zuvor doppelstellige Preissteigerungen zu verzeichnen. Die Anzahl der Immobilienverkäufe ist im ersten Quartal noch drastischer zurückgegangen: um 9,1 Prozent. Den Vogel bei alldem schießt jedoch der Trend der Baugrund-Verkäufe durch die Regionalregierungen ab. Hier kam es im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zu einem Rückgang von 32 Prozent im ersten Quartal. Bauträger, die bereits seit Jahren nicht bezahltes Wohnraum-Inventar mit sich herumschleppen, ziehen sich mehr und mehr zurück. Zhiwu Chen schreibt im „Foreign Policy“-Magazin (30. April 2015): „Ende 2014 gab es in China rund sieben Milliarden Quadratmeter an Wohnraum, der noch im Bau befindlich oder bereits bezugsfertig war. Selbst wenn die Nachfrage stabil geblieben wäre, würde es sicherlich länger als fünf Jahre dauern, diese Wohnfläche zu verkaufen“.
Wenn man weiß, dass im letzten Jahr 46 Prozent der Einnahmen der Regionalregierungen durch den Verkauf von Bauland zustande gekommen sind, dann ist auch klar, dass diese Verkäufe einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, die Zahlungsfähigkeit dieser Regionalregierungen aufrechtzuhalten. Jetzt sorgt der rückläufige Trend auf dem Immobilienmarkt dafür, dass die Gefahr einer Kettenreaktion droht: Unternehmen könnten in Zahlungsschwierigkeiten geraten, was der schwerwiegenden Schuldenkrise, in der die Regionalregierungen stecken, weiteren Auftrieb verleihen wird. Die Schuldenstände dieser Lokal- und Regionalregierungen belaufen sich schon jetzt alles in allem auf 17,9 Billionen Yuan (~ rund 3 Billionen Dollar). Das ist jedenfalls das Ergebnis der letzten offiziellen Erhebung vom Juni 2013. Eine aktuelle Untersuchung lässt noch auf sich warten, da Peking die Lokalbehörden angewiesen hat, „nochmals zu prüfen“, weil man der Ansicht ist, dass einige der eingegangenen Berichte falsch sind. Das „Caixin“-Magazin, das für seine glaubhaften Erhebungen bekannt ist, ist der Ansicht, dass die wirkliche Schuldenhöhe der Lokalregierungen heute bei 40 Billionen Yuan (~ 5,9 Billionen Euro) liegen könnte.
Die „Financial Times“ (12. Januar 2015) berichtete, dass Lokal- und Regionalregierungen Zuflucht darin suchen, sich gegenseitig Bauland abzukaufen. Dies geschieht über Investmentgeschäfte, die sie selbst kontrollieren. Auf diese Weise werden noch mehr Schulden gemacht, um die Haushaltsdefizite zu überbrücken. Bei diesen „Tarngeschäften“ handelt es sich um den verzweifelten Versuch, die Preise für Bauland stabil zu halten, weil sinkende Preise schwerwiegende Folgen für die Lokalregierungen nach sich ziehen würden. Schulden könnten ansonsten schwerer abzubezahlen sein und neue Kredite wären schwerer zu bekommen.
Genau daraus besteht das politische Dilemma, in dem Peking steckt, wenn die Regierung versucht, beim Schuldenabbau zu einer Art von Gleichgewicht zu finden und parallel dazu ein spürbares Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, um eine nicht mehr zu kontrollierende Welle an Zahlungsausfällen zu vermeiden, die sich zu einer Finanzkrise ausweiten kann. Anstatt den Vorgaben der Regierung Folge zu leisten, verfolgen die staatlichen Banken in zunehmendem Maße ihrer ganz eigenen Agenda. Ein Bericht von „Reuters“ (20. April 2015) hat gezeigt, dass keine der großen Banken den jüngsten politischen Vorgaben Pekings gefolgt ist, mit denen der Immobilienmarkt gestützt werden sollte. Dazu hätte auch die Senkung der Hypothekenzinsen gehört sowie eine Lockerung der Bedingungen für die Kreditvergabe bei Zweitwohnsitzen. Die Bankhäuser sind offenbar nicht besonders zuversichtlich, wenn es um die Frage geht, ob sich die Immobilienpreise kurzfristig wieder fangen werden. „Banken halten Ausschau nach attraktiven Rückläufen aus ihrer Investitionstätigkeit. Deshalb investieren sie lieber an der Börse“, so die Auskunft eines Bauträgers aus Shenzhen gegenüber „Reuters“.
Schuldenfalle
chinaworker.info und die UnterstützerInnen des CWI in China warnen seit langem davor, dass es sich bei der derzeitigen Wirtschaftskrise nicht einfach um ein verlangsamtes Wachstum handelt oder um eine zyklische Neuordnung. Wir gehen davon aus, dass wir es in China mit dem Einsetzen einer hartnäckigen Krise zu tun haben, die viele Aspekte enthält, die man auch schon in Japan nach dem Platzen der Immobilien- und Finanzblase in den frühen 1990er Jahren feststellen konnte. Das verdammte die damalige Wirtschaftsmacht Nummer 2 dazu, Jahrzehnte des verlangsamten Wachstums durchzumachen. Das ging mit einer Deflation (die enorme Probleme bei der Rückzahlung der Schulden bereitet) und dem Entstehen von „Zombie“-Unternehmen (die aufgrund ihrer hohen Kosten für die Schuldentilgung Werte aus der Volkswirtschaft abziehen) einher. In einigen Regionen und Wirtschaftsbereichen Chinas existiert bereits eine ganz ähnliche Situation.
Am Anfang schien es so, als wäre China 2008 in der Lage gewesen, den Gravitationskräften der damals einsetzenden globalen Rezession zu entgehen. Stattdessen schaffte es das Land mit Hilfe beispielloser und auf Schulden gebauten Konjunkturpaketen, zu doppelstelligen Wachstumsraten zurückzufinden. Auf diese Weise half China auch mit, die globale kapitalistische Wirtschaft zurückzuholen von der Klippe, auf der sie bereits stand und von der sie in eine Depression wie in den 1930er Jahren zu stürzen drohte. Allerdings ist das Unvermeidliche nicht aufzuhalten, wie ein Sprichwort sagt. So liegen die Schuldenberge, die man in vier Jahren für die Mega-Konjunkturprogramme von 2009 bis 2012 und auch danach noch angehäuft hat, heute wie ein Alp auf der Volkswirtschaft Chinas.
Chinas Schulden haben sich von sieben Billionen Dollar im Jahr 2007 auf 28 Billionen Dollar im vergangenen Jahr vervierfacht, so der entsprechende Bericht von „McKinsey & Co.“ vom Februar 2015. Das hat dazu geführt, dass das Verhältnis des BIP in China zur Staatsverschuldung bei unglaublichen 282 Prozent und damit höher liegt als in den USA und in Deutschland. Die Apologeten und Fürsprecher der Politik der KPC jener Jahre meinen, dass China mit den ganzen neuen Städten, Hochgeschwindigkeitstrassen und -züge „sein Geld schon wert sei“. Die Konjunkturprogramme, die von den kapitalistischen Regierungen in der westlichen Welt nach 2008 aufgelegt worden sind, seien demnach in erster Linie in die Finanzspekulation geflossen. SozialistInnen sind zwar unmissverständlich dafür, dass gesellschaftlich notwendige Infrastrukturprogramme, Programme des Wohnungsbaus und städtische Entwicklung vorangetrieben werden. Wir betonen jedoch, dass das, war in der Praxis in China geschehen ist, weit von dem blumigen Bild entfernt ist, das das Regime so gern zu malen pflegt. Eine im vergangenen Jahr von Experten der chinesischen Regierung angestellte Studie kam zu dem Ergebnis, dass 6,8 Billionen Dollar an Investitionen im Nirvana verschwunden sind. Das sind 37 Prozent aller Investitionen, die seit 2009 in China getätigt worden sind.
Eine Reihe aufeinanderfolgender „Prestige-Projekte“ (mit denen das Image des Regimes bzw. der örtlichen Behörden aufpoliert werden sollte) hat den jeweiligen Haushaltsrahmen aufgrund von Bestechung und Veruntreuung, Einkünften, die zu hoch angesetzt worden sind, und schlechter Planung kontinuierlich gesprengt. Der „Drei-Schluchten-Stausee“ hat das Budget um 100 Prozent überschritten und die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Peking und Shanghai übertraf das Budget um 139 Prozent. Das Schienennetz wurde in China gemessen an der abgedeckten Zahl an Kilometern zwischen 2005 und 2010 um 21 Prozent ausgebaut, wobei die Zahl der Passagiere um 45 Prozent zugenommen hat. Das machte aber eine Investitionssteigerung um 518 Prozent im selben Zeitraum erforderlich. Private Unternehmen, die am meisten von den Bauprojekten profitiert haben, haben sich gegenseitig in überteuerten Angeboten übertrumpft. „Caixin“ berichtet, dass die entsprechenden Anbieter 30.000 Yuan (~ 4.500 Euro) für einen einzelnen Sitz in einem Hochgeschwindigkeitszug veranschlagt haben. Das in Shanghai ansässige Unternehmen, das den Zuschlag für die größte Zahl an Zug-Sesseln in den Hochgeschwindigkeitszügen Chinas bekam, „verlangte Preise, die drei Mal höher lagen als bei anderen Anbietern“, so „Caixin“. Das hilft zu erklären, wie es das frühere Eisenbahn-Ministerium hinbekommen konnte, Schulden in Höhe von 2,2 Billionen Yuan (~ 320 Milliarden Euro) anzuhäufen. Das ist mehr als Griechenland an Staatsschulden vorzuweisen hat.
Überkapazitäten
Heute hat die Volkswirtschaft Chinas mit den Folgen dieser auf Schulden aufgebauten Konjunkturpakete zu kämpfen. In allen Bereichen gibt es Überkapazitäten. China produziert die Hälfte des weltweit hergestellten Stahls (822 Millionen Tonnen allein im Jahr 2014). Die brach liegenden Kapazitäten des Landes, die bei mehr als 200 Millionen Tonnen liegen, entsprechen jedoch dem Doppelten von dem, was jährlich in den USA produziert wird. Im letzten Jahr ging die Stahlproduktion um 3,4 Prozent zurück. Das war das erste Mal seit 30 Jahren, dass ein Rückgang zu verzeichnen war, und es gibt Stimmen, die von einem weiteren Rückgang um zehn Prozent in diesem Jahr ausgehen. Ähnlich verhält es sich mit der Automobilbranche Chinas, die als größter Produzent der Welt gilt. In diesem Jahr werden die Autofabriken in China in der Lage sein, 10,8 Millionen PKW mehr zu bauen als letztlich verkauft werden. Die brach liegenden Kapazitäten in diesem Bereich entsprechen dem Doppelten von dem, was Japan vorzuweisen hat (Japan hat im vergangenen Jahr 5,5 Mio. Fahrzeuge verkauft).
Mit den Überkapazitäten kam auch die Deflation. Die Herstellerpreise sind in den letzten drei Jahren kontinuierlich zurückgegangen und werden in diesem Jahr noch rascher sinken. Der offizielle Erzeugerpreis-Index (PPI) ist in China im März um 4,6 Prozent gesunken. Etliche Sektoren der Weltwirtschaft sind von Deflation und „lowflation“ (niedrige Inflation) betroffen. Dies gilt vor allem für Europa und Japan. Dieser durch die Deflation erzeugte Druck wird weiter zunehmen, wenn China sich entscheidet, seine Art der Deflation zu exportieren, indem es den Yuan abwertet und sich auf diese Weise am „Währungskrieg“ beteiligt.
Die Abwertung einer Währung führt zu Inflation im Inland, weil die Kosten für Importe (wie Rohstoffe) steigen. Gleichzeitig wird der Druck der Deflation an andere Volkswirtschaften weitergegeben, da der Preis für Waren aus China auf dem Weltmarkt sinkt. Bislang wehrt sich das Regime in China diesen Schritt zu tun. Das liegt nicht zuletzt am eigenen Vorhaben, dem Yuan international eine größere Rolle zukommen zu lassen. Dieser Ansatz wird auch „redback“ genannt (Stärkung des in roten Farben gedruckten Yuan; Erg. d. Übers.). Damit verfolgt man eine langfristige Strategie, mit der die Dominanz des Dollar (auch „greenback“ genannt) im globalen Finanzsystem zurückgedrängt werden soll. Deshalb und aufgrund anderer Vorhaben, die man auf internationaler Ebene plant, braucht Peking eine stabile Währung. Die sich zuspitzende Krise könnte das Regime allerdings dazu zwingen, die o.g. Überlegungen hinten anzustellen und doch zum Mittel der Währungsabwertung zu greifen. Allerdings wird auch ein solcher Schritt, der zu zunehmenden protektionistischen Maßnahmen vor allem seitens der USA und Europas führen und politischen Streit hervorrufen wird, Probleme mit sich bringen.
Wenn zugelassen wird, dass der Yuan gegenüber dem Dollar an Wert verliert, dann würde das zur Kapitalflucht aus China führen. In den letzten beiden Quartalen ist bereits Kapital in Rekordhöhe aus dem Land abgezogen worden. Angaben der „Barclays Bank“ zufolge wird doppelt so viel Kapital aus China abgezogen wie im Falle Russlands, das im letzten Jahr unter den Folgen der Sanktionen zu leiden hatte, die unter der Ägide der USA zur Anwendung gekommen sind. „Barclays“ geht davon aus, dass in den letzten 12 Monaten rund 300 Milliarden US-Dollar aus China weg transferiert worden sind (das ist das Dreifache von dem, was offiziell eingeräumt wird). Hauptsächlich wird dabei versucht, Vorteile aus dem steigenden Dollar und steigenden Zinsen in den USA zu ziehen, die man in naher Zukunft erwartet. Eine Abwertung der eigenen Währung und die daraufhin einsetzende Kapitalflucht könnte die Regierung dazu zwingen, noch schärfere Kapitalkontrollen einzuführen. Das käme einer Umkehrung der aktuellen und noch geplanten Liberalisierungsmaßnahmen gleich. Umgekehrt könnte dadurch auch Panik an den Finanzmärkten ausgelöst werden, und Banken könnten dazu animiert werden, dem Markt-Platz China den Rücken zu kehren, da Kapitalisten in China wie auch auf internationaler Ebene geschockt zurückschrecken.
Historische Krise
Chinas Dilemma ist ein Beleg für den Irrsinn des derzeit herrschenden Wirtschaftssystems, in dem Produktion und Investitionen nicht miteinander einher gehen, um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen sondern nur der Profitmaximierung dienen. Die chinesischen Märkte können nicht aufnehmen, was in den chinesischen Fabriken und auf den Baustellen des Landes produziert wird, weil die Mehrheit der Bevölkerung sich die Waren nicht leisten kann. Die aktuell rund 260 Millionen WanderarbeiterInnen sind in Notbehelfsunterkünften untergebracht und fast die Hälfte von ihnen lebt direkt auf den Baustellen oder in Baracken auf dem jeweiligen Werksgelände. Gleichzeitig stehen Schätzungen zufolge 49 Millionen Apartmentwohnungen in China leer!
Die KPC glaubt, sie könne das System des Kapitalismus „austricksen“, indem sie vom Mittel staatlicher Interventionen Gebrauch macht, Kredite von staatlichen Banken ausgeben und die Regierung Aufträge vergeben lässt, um einer winzig kleinen Elite, die mit der Partei verbunden ist, ganz fantastische Profite zu bescheren. Die KPC glaubt weiter, dass man darüber auch die Schattenseiten des Kapitalismus (z.B. Krisen und Überproduktion) abwenden kann. Das Konjunkturpaket von 2009 wurde von der ganzen Welt als „wahres Wunder“ gepriesen, es hat die Wirtschaft aber in eine ausweglose Situation gebracht, in der die führenden Köpfe der KPC jetzt selbst zu der Erkenntnis kommen, dass das alte Modell des „Staatskapitalismus“ an seine Grenzen gekommen ist. Weil sie aber den Sozialismus ablehnen, der für die Milliardärsfamilien, die das Regime der KPC mittlerweile beherrschen, natürlich eine „No-Go“ darstellt, kommt das Regime mit nichts anderem um die Ecke als ihrer Variante einer neoliberalen Politik der Marktwirtschaft, die ansonsten auch vom westlichen Kapitalismus her bekannt ist. Dabei geben sie jedoch keinen Milimeter an Macht und Kontrolle ab.
Es ist der Finanzsektor, für den Peking die radikalste neoliberale „Reform“ vorbereitet. Dies ist ein weiterer Grund dafür, weshalb das Regime den Anschein macht, als habe es den Börsenspekulanten eine Blankovollmacht ausgestellt und darüber hinaus Pläne in petto, mit denen die Anleihemärkte noch ausgeweitet werden können und der Bankensektor für privates Kapital geöffnet wird. Ein weiterer Teil dieses Prozesses ist der Umstand, dass das Geschäft mit dem Online-Banking, dass von nicht-staatlichen Internetfirmen wie „Tencent“ und „Alibaba“ dominiert wird, an Boden gewinnt. Ebenfalls neu ist, dass ein Premier namens Li Keqiang – wie jüngst geschehen – ankündigt, Beschränkungen für Kredite aus dem Ausland aufheben zu wollen und die entsprechenden Geschäfte über Banken laufen zu lassen, die sich in einer der vier er vor kurzem eingerichteten Freihandelszonen (Guangdong, Fujian, Tianjin und Shanghai) befinden. Die Liberalisierung des Finanzsektors und die parallel dazu stattfindenden Schritte in Richtung einer Liberalisierung der Kapitalbilanz des Yuan sollen darauf hinauslaufen, dass mehr Konkurrenz-Druck auf die staatlichen Banken ausgeübt wird und das die Zuweisung von Kapital mehr am Markt orientiert und profitabler wird. Dies bietet den vielen elitären Familien, die an der KPC hängen, als Kronprinzen des Systems gelten und die es sich in der Welt der Hochfinanz bequem gemacht haben, die Möglichkeit, sich weiter zu bereichern und ihren unrechtmäßig erworbenen Reichtum zu legitimisieren.
„Belt and Road“ strategy
Am 1. Mai griff zum ersten Mal der lange schon erwartete Einlagensicherungsmechanismus. Diese Einlagensicherung deckt Bankkredite von bis zu 500,000 Yuan (~ 75.000 Euro) ab und ist mit Mechanismen vieler anderer Länder vergleichbar. Im Falle Chinas steht dies jedoch für das Ende der inbegriffenen Regierungsgarantien zur Rettung jedweder gescheiterter Finanzinstitution (weil diese ausnahmslos dem Staat oder einer Einrichtung gehören, die auf die ein oder andere Weise dem Staat unterstellt ist). Aufgrund dieses neu installierten Mechanismus wird davon ausgegangen, dass Peking Zahlungsausfälle von Finanzhäusern in weitaus größerem Umfang akzeptieren wird. In solchen Fällen wird das Regime dafür Sorge tragen, dass sie für die volkswirtschaftliche Großwetterlage als zweitrangig angesehen werden. Banken und Konzerne, die als „systemrelevant“ gelten, werden weiterhin gerettet werden. Diese als delikat zu bezeichnende Art, für eine Form von Gleichgewicht sorgen zu wollen, zielt darauf ab, dem Finanzsektor mehr Disziplin abverlangen zu wollen, um Auswüchse des Schatten-Bankensystems im Zaum zu halten und eine allgemein bremsende Wirkung zu erzielen. Vor allem wegen des finsteren Charakters des Schatten-Bankensystems, auf das momentan ein Drittel aller Kredite in der chinesischen Volkswirtschaft zurückgehen, bringt das große Risiken mit sich. Es besteht das Potential für Fehlkalkulationen und weitere böse Überraschungen in der Zukunft.
Parallel dazu tut sich Xi Jinping mit einer ganzen Reihe ambitionierter Initiativen für die Regionen und die internationale Ebene betreffend hervor, die darauf abzielen, die Finanzmacht China abzusichern. Das Land soll in zunehmendem Maße eine Herausforderung für den US-amerikanischen Kapitalismus sein, der sich auf dem Rückzug befindet. Es geht aber auch um die Erschließung neuer Märkte für Chinas Überschüsse aus Beton, Aluminium, Stahl sowie weitere Produkte der Schwerindustrie, die im Inland zur Deflation beitragen. Das erklärt auch die Bedeutung von Projekten wie „Silk Road Economic Belt“ (dt.: „Wirtschaftsgürtel Seidenstraße“) oder „Maritime Silk Road“ (dt.: „Übersee-Seidenstraße durchs Rote Meer“), die zusammenfassend als „Belt and Road“ bezeichnet werden und darauf abzielen, massive Infrastrukturprojekte zwischen Asien, Europa und Afrika zu unterstützen. Dazu zählen auch Pläne für Autobahnen, Hochgeschwindigkeits-Eisenbahntrassen, Öl-Pipelines und Häfen. Sogar ein Tunnelprojekt unter dem Mount Everest gehört dazu. All dies soll vornehmlich von chinesischen Unternehmen übernommen und in erster Linie durch chinesisches Kapital und mit chinesischen Krediten finanziert werden.
Mit dieser Strategie hofft Peking, seine Nachbarn in stärkere Abhängigkeit vom chinesischen Kapitalismus zu treiben und die Versuche der USA zu blockieren, den eigenen Einfluss zu unterminieren. Bei der „Belt and Road“-Strategie sowie den neuen Regionalbanken (wie der „Asian Infrastructure Investment Bank“, AIIB), die China nur zur Unterstützung dieser Strategie aufbaut, kommt aber noch ein weiterer Aspekt hinzu: In der Welt des globalen Finanzwesens soll der Yuan eine wesentlich stärkere Rolle zukommen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass der „Kotau“ ein Ende findet, den der chinesische Kapitalismus vor dem „Dollar“ macht. Weil der Dollar die wichtigste Reservewährung ist, die für 65 Prozent aller Reserven der Regierungen dieser Welt steht, kommt den USA eine einzigartige Fähigkeit zu – dass sie selbst entscheiden können, wohin sie wirtschaftlich gehen wollen, und anderen Regierungen dabei ihre Bedingungen aufoktroyieren können.
Deshalb treiben die inneren Widersprüche der chinesischen Ökonomie, die große Angst vor einer „japanischen Entwicklung“ und das Risiko, dass massive soziale Unruhen drohen könnten, wenn die Wirtschaft stagniert, den chinesischen Staat zum „Großen Sprung bis ans Äußerste“. Dies wird zwangsläufig zu intensivierten globalen und regionalen Rivalitäten und Konflikten führen. In der Vergangenheit ist Chinas rapide ökonomische Expansion aufgrund der Sonder-Bedingungen, die unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in Russland und Osteuropa herrschten, und der raschen (wenn auch inhärent instabilen) Entwicklung des asiatischen Kapitalismus durch den globalen Kapitalismus absorbiert und ermöglicht worden. Heute wird der Kuchen des Kapitalismus aber nicht mehr größer. Stattdessen wird er kleiner, und der Kampf zwischen den rivalisierenden Gruppen um jedes Stück dieses Kuchens kann nur zunehmen. Nur die Arbeiterklasse in China und weltweit kann – wenn sie sich auf eine sozialistische Alternative stützt – der ökonomischen Zerstörung durch den Kapitalismus ein Ende bereiten, der immer neue Krisen hervorruft und auf internationaler Ebene zu immer neuen Katastrophen führt.