100 Jahre Abkommen von Sykes-Picot

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Naher Osten im Chaos

von Katharina Doll, Hamburg

Im Youtube-Video „The Islamic State“ des Magazins Vice und im Propagandavideo „Das Ende von Sykes-Picot“ inszeniert der IS theatralisch die Öffnung der syrisch-irakischen Grenze „für Muslime“. Er wirbt damit, die Grenzen aufzuheben, die vor genau 100 Jahren, am 16. Mai 1916, von den Kolonialmächten England und Frankreich gezogen wurden. Ein IS-Kämpfer erklärt den Reportern, dass das Geheimabkommen Sykes-Picot der „Grund für den Ärger“ der Menschen sei, die den IS unterstützen.

Es ist kein Wunder, dass diese Propaganda auf offene Ohren stößt! Sykes-Picot war das Produkt des Verfalls des Osmanischen Reichs und der Unterwerfung des Nahen Ostens durch imperialistische Großmächte. Die Politik der Unterwerfung der Völker im Nahen Osten durch die westlich-kapitalistischen Mächte fordert bis heute das Blut von Millionen Opfern in Kriegen, in ethnischen und religiösen Konflikten.

Wie kam es zu Sykes-Picot?

Die Region, die Frankreich und England mit Sykes-Picot unter sich aufteilten, war zuvor Teil des Osmanischen Reichs, das sich im 16. Jahrhundert über Südosteuropa und Ungarn bis kurz vor Wien, die Türkei, Kurdistan, Mesopotamien, Armenien, Palästina, einen großen Teil des heutigen Iraks, Syriens und Ägyptens erstreckte und großen Einfluss auf die Krimregion und Nordafrika hatte. Seit dem 7. Jahrhundert war das Gebiet vorwiegend islamisch.

Dass dieses Reich zerfiel und den westlichen Kolonialmächten Platz machte hing mit den ökonomischen Veränderungen ab dem 16. Jahrhundert zusammen. Damals kam es zum allmählichen Wachstum des überregionalen Handels, in Städten wie Florenz entwickelte sich ein wohlhabendes Handelskapital (1). Diese Entwicklung fand auch in Teilen des Osmanischen Reichs statt. Selbst Personen aus dem Staatsapparat des alten Regimes verließen ihre Posten, um selbst Händler zu werden (2). Die wachsende Bedeutung regionaler Eliten wie in Bagdad, Acre in Palästina, Mosul oder Damaskus führte zum Machtkampf mit dem Zentrum (3).

Neben den Machtkämpfen der osmanischen Herrscher mit regionalen Eliten veränderte sich auch die Beziehung zu den zentraleuropäischen Mächten. Weitgehender als im Osmanischen Reich hatte sich dort die Produktion verändert und eine neue wirtschaftliche Elite herausgebildet. Zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert fanden bürgerliche Revolutionen in England, Frankreich und Deutschland statt. Bis zum 19. Jahrhundert entwickelten diese Länder zunehmend koloniale und imperialistische Interessen (4), unter anderem auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs. Nach dem 1. Weltkrieg kontrollierten europäische Kolonien etwa 90 Prozent der Landoberfläche der Erde.

Schon vor Sykes-Picot war das im Osmanischen Reich spürbar. 1798 besetzte Napoleon im Krieg gegen England drei Jahre lang Ägypten (5). Ab 1830 eroberte Frankreich Algerien. Auch nahm die finanzielle Abhängigkeit der Regionen des Osmanischen Reichs von westlichen Kreditgebern zu. Die Bedeutung des überregionalen Handels und der Rohstoffbeschaffung wuchs, tunesisches Olivenöl wurde zur Herstellung von Seife nach Europa transportiert, libanesische Seide in Lyon verarbeitet und ägyptische Baumwolle in Lancashire (6).

Was war Sykes-Picot?

Bis 1916 wurde immer deutlicher, dass das Osmanische Reich es militärisch und ökonomisch nicht mit den aufstrebenden Westmächten aufnehmen konnte. England und Frankreich kooperierten schließlich, um ihr Einflussgebiet im Nahen Osten auszudehnen. Um das Osmanische Reich zu schwächen, verbündeten sie sich mit der „Arabischen Revolte“, die von verschiedenen beduinischen Stämmen aus dem westlichen Saudi-Arabien ausging und sich auf Jordanien und Syrien ausbreitete.

Der Aufstand richtete sich gegen das Osmanische Reich auch mit der Begründung, das Reich sei vom wahren Islam abgekommen. Frankreich und England versicherten den Aufständischen für ihre Zusammenarbeit die Befreiung der „von den Türken unterdrückten Völker“. Die arabischen Bündnispartner wurden hintergangen und gleichzeitig zu diesen Versprechen wurde im Geheimen das Sykes-Picot-Abkommen abgeschlossen.

Widerstand gegen Sykes-Picot

Nach der Oktoberrevolution wurden in Russland die Archive des Zarenreichs geöffnet, das Abkommen von Sykes-Picot kam zum Vorschein. Die Bolschewiki traten für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein, verzichteten auf alle regionalen „Ansprüche“ und veröffentlichten das Dokument im November 1917 in den Tageszeitungen Prawda und Iswestija (7).

Der Abschluss des Sykes-Picot-Abkommens und die Art und Weise, wie die arabischen Stämme von den westlichen Kolonialmächten hintergangen wurden, war ein Schlag ins Gesicht der arabischen Völker. Über die Grenzziehung in ihrem Lebensraum, die Steuer die sie abgeben sollten und die Regeln nach denen sie zu leben hatten sollten nun die Militärs und Vertreter kolonialer Weltmächte bestimmen, die sie nicht befreien, sondern ausbeuten wollten. Das führte in einigen Regionen zu enormen Widerstandsbewegungen wie der „Syrischen Revolution“ 1925 bis -27, an der sich drusische, alawitische, sunnitische, schiitische und christliche Teile der Bevölkerung beteiligten.

Auf britischem Gebiet kam es zu so heftigen Aufständen, dass eine sogenannte „Luftkontrolle“ durch die Royal Air Force eingesetzt und „aufständische“ Ziele bombardiert wurden. Im Irak, wo sich riesige Aufstände gegen die koloniale Steuerlast entzündet hatten, wurden bis zu 10.000 Iraker durch das britische Militär getötet – um den Aufstand niederzuschlagen war für die britische Kolonialmacht das sechsfache dessen nötig, was die komplette Militärkampagne im Nahen Osten gekostet hatte. Kurdische Stämme entwickelten ein System von Rauchzeichen, um vor möglichen Luftangriffen zu warnen. (8)

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Nahen Osten

Den Nahen Osten wie wir ihn kennen hätte es ohne Sykes-Picot nie gegeben. Und das nicht nur, weil sein Boden weiter vom Blut etlicher Kriege und Bürgerkriege trieft, sondern auch, weil es Nationen wie Irak, Syrien, Israel,… ohne die westliche Kolonialherrschaft so nie gegeben hätte.

Nach Sykes-Picot entschied die jeweils herrschende Kolonialmacht auf „ihrem Gebiet“ nach den eigenen Interessen über nationale Grenzziehung. Dabei wurde auf die bisher kulturell gewachsenen Strukturen keine Rücksicht genommen. Im Gegenteil: regional sollten die alten Bündnispartner über andere Gebiete und Stämme herrschen. Andere Völker, vor allem die, die besonders stark gegen die koloniale Unterdrückung kämpften, wurden bewusst in verschiedene Nationen aufgeteilt, um sie zu schwächen.

Dazu gehörte das Volk der Kurden, das heute in verschiedenen Nationen verstreut lebt und dort Unterdrückung aus Übergriffen ausgesetzt ist. Ein wichtiger Grund dafür, dass englische Politiker und Bosse einen kurdischen Staat verhinderten, war sicher die Entdeckung von Öl in Kirkuk, war doch die Royal Navy erst kurz vorher auf Öl umgestiegen und war die Anglo-Persian Oil Company (heute BP) gegründet worden.

Ab den 60ern kam es im Irak immer wieder zu Bombardierungen, Giftgasangriffen, politischer Gefangennahme, Mord und Folter durch das Regimes gegen Teile der Bevölkerung. In der Türkei verarmt die kurdische Bevölkerung, gegen die der Staat gerade wieder einen grausamen Bürgerkrieg führt, und tausende kurdische Aktivistinnen und Aktivisten befinden sich in politischer Gefangenschaft.

Ein anderes Beispiel ist das Volk der Palästinenser. Durch Sykes-Picot wurde England der südliche Mittelmeer-Zugang über palästinensisches Gebiet zugesichert. Das britische Mandat über Palästina regelte die „Balfour-Deklaration“ von 1917. Von da an wurde die Kolonisation Palästinas durch jüdische Teile der Bevölkerung Mittel zur Aufrechterhaltung der kolonialen Herrschaft. Die Ideologie, die dafür genutzt wurde und die gleichzeitig die rassistische Spaltung der Bevölkerung vorantrieb war die des Zionismus. Theodor Herzl selbst gründete 1899 den „Jewish Colonial Trust“ (spätere Bank Leumi) und etwas später die „Anglo-Palestine Company“, um Kapital zur Kolonisation Palästinas zu organisieren und Profite aus der Ausbeutung der Region zu verwalten.

Ihre aggressive und rassistische Kolonisationspolitik in Palästina fiel der britischen Regierung zunehmend auf die Füße – zionistische Terrorgruppen wie Irgun (Vorgänger der Likud-Partei und Organisation von Menachem Begin, später Premierminister Israels) wurden gegründet und verübten Angriffe auf die palästinensische Bevölkerung genauso wie auf britische Offiziere. Heute werden in Palästina alle paar Jahre in militärischen Operationen tausende Zivilisten durch den israelischen Staat grausam getötet, werden drangsaliert durch die Besatzung des Westjordanlands und ausgehungert im Gazastreifen, dem größten Freiluftgefängnis der Welt.

„Denn im Süden, im Osten, im Westen, im Norden, es sind überall die selben Horden, die uns ermorden!“

Das Abkommen von Sykes-Picot war Ausdruck dessen, wie sich die weltweite Produktionsweise bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte. Sykes-Picot war der Anfang der imperialistischen Unterdrückung, wie sie bis heute im Nahen Osten fortbesteht. Auch ist die Politik der ethnischen und religiösen Spaltung, die seit Sykes-Picot in der Region betrieben wird, die Ursache für die sektiererischen Konflikte und das Aufflammen grausamer Bürgerkriege. So und nicht anders kann und muss der Kapitalismus funktionieren.

Jede Plastiktüte, jede Zahnbürste und jeder Joghurtbecher enthält Polyethylen, hergestellt aus Erdöl und Erdgas. Auch Kraftstoffe wie Diesel oder Heizöl bestehen aus diesen Materialien. 49 Prozent des Rohöls der Welt kommen aus dem Nahen Osten. In den Kriegen dieser Welt, die von imperialistischen Großmächten geführt werden, geht es fast ausschließlich um den Zugriff auf diese Rohstoffe, auf die billigen Arbeitskräfte die sie abbauen und verwerten, und um geostrategische Interessen. „There is a Middle East Monopoly to bust“, titelte das Wall Street Journal im Mai 2003 nach dem Krieg der US-Regierung gegen den Irak, bei dem hunderttausende Zivilisten starben9. Mit der Erinnerung an die grausamen Erfahrungen der Bevölkerung von 2003 wirbt der IS heute seine Kämpfer im Krieg „gegen den Westen“ (10). So und nicht anders kann und muss der Kapitalismus funktionieren.

In der Politik die auf dieser Welt gemacht wird, sei es bei der Privatisierung des Altenheims von nebenan, bei Lohnsenkungen in (fast) egal welcher Branche oder beim Krieg im Irak, geht es um die Profite der wenigen weltweiten Großkonzerne (11). Überall auf der Welt leben die einfachen Menschen nicht in Wohlstand und Überfluss, sondern müssen oft täglich mit Armut kämpfen.

In Deutschland lebt jedes fünfte Kind in Armut. Die Altersarmut wächst und der ärmeren Hälfte der deutschen Bevölkerung gehört nur etwa 2,5 Prozent des gesamten Besitzes. Gleichzeitig würden alle reichen Menschen, denen weltweit 50 Prozent des Vermögens gehört, in einen Bus passen. So und nicht anders kann und muss der Kapitalismus funktionieren.

Hier und da sind es die selben die uns ausbeuten. Sie profitieren davon, uns gegeneinander auszuspielen. Wir aber können den Kampf um die eigene Gleichberechtigung nur gewinnen, wenn wir uns mit der Gleichberechtigung anderer solidarisieren. Sektiererische Kräfte, die das ablehnen, waren und sind immer zum Scheitern verurteilt.

Die Unterwerfung eines Volkes durch eine fremde Nation, unter einer kapitalistischen Regierung und imperialistischen Weltmächten, hat für die unterdrückten Völker im Nahen Osten immer die eigene gewaltsame Unterdrückung und den Stoß in die Armut bedeutet, die sie nun in 100 Jahren kolonialer Herrschaft erfahren mussten. Sie werden sich nie mit uns verbünden, wenn wir uns nicht mit ihrem Kampf um Gleichberechtigung solidarisieren – und ein isolierter Kampf wird scheitern. Wie es Lenin im „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ schrieb: Nie kann ein Volk, das andere Völker unterdrückt, frei sein!

Fußnoten

1 Franz Mehring schrieb dazu in „Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters“: „In mehreren Städten entstand durch die besondere Gunst historischer und geographischer Umstände der Welthandel, zunächst in Unteritalien durch den überseeischen Verkehr mit dem Orient, mit Konstaninopel und Ägypten […]. Das moderne Kapital erscheint hier zuerst, und zwar im Wesentlichen noch als Kaufmannskapital. Doch übte es sofort eine zersetzende Wirkung auf die feudale Produktionsweise aus.“ (1910/11 im Berliner Vorwärts)

2Beispielsweise manche Janitscharen (Teil des stehenden Heeres im Osmanischen Reich und Symbol für die Macht des Sultanats)

3 An der Oberfläche wurden diese Konflikte oft an religiösen Linien ausgetragen. Ein Beispiel ist die Entwicklung des Wahhabismus durch Muhammad ibn ‘Abd al-Wahhab im 18. Jahrhundert. Wahab vertrat in Allianz mit Teilen einer starken, lokalen Händlerelite (die „Saudis“) regionale Interessen gegen das Osmanische Reich, das er für seinen „unauthentischen“ Islam angriff. Diese Entwicklung war die Grundlage für die Entwicklung und religiöse Ausrichtung des späteren Saudi-Arabiens.

4Siehe auch W.I. Lenin „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“

5 Das führte zum ersten Bündnis des Osmanischen Reichs mit einer zentraleuropäischen Macht, England

6 Siehe Albert Hourani: A History of the Arab Peoples

7 Drei Tage später verbreitete der britische Guardian das Dokument weiter

8 Ein sehr interessantes Beispiel für Widerstandsbewegungen gegen die britische Herrschaft, das aber nicht auf das Gebiet von Sykes-Picot fällt, ist die Sowjetrepublik Gilan im Iran. Im frühen 20. Jahrhundert wurde dort bereits eine Übersetzung des Kommunistischen Manifests verbreitet. Schon im Widerstand gegen die zaristische Herrschaft wuchs im Nordiran eine Rebellengruppe (die sog. Dschangali-Rebellen) heran. Da der Iran etwas später Aufmarschgebiet Englands gegen die Sowjetunion werden sollte, organisierten die Dschangali-Rebellen unter Mithilfe des späteren Trotzkisten Jakow Bljumkin an der Seite der Roten Armee Aufstände gegen die britische Besatzung. Zeitweise kam es im Iran zum Aufbau einer lokalen Roten Armee, zu Versuchen des Aufbaus einer Sowjetrepublik vor allem in Gilan und zur Einheitsfront sozialdemokratischer, anarchistischer und kommunistischer Kräfte gegen die Regierung in Teheran.

9 Brigitte Kiechle, „Das Kriegsunternehmen Irak. Eine Zwischenbilanz“ S.100

10 In „10 Tage im Islamischen Staat“ schreibt Jürgen Todenhöfer: „Ob ich schon einmal darüber nachgedacht habe, was in einem Menschen vorgegangen sein müsse, bevor er sich als Selbstmordattentäter in die Luft sprenge. Als ich schweige, fügt er hinzu: „Hört auf, uns zu überfallen und zu demütigen. Haut ab aus unseren Ländern. Dann wird Al Qaida von alleine verschwinden.““

11 Eine Studie aus der Schweiz von 2011 hat ergeben, dass 147 Konzerne weltweit etwa 40 Prozent aller internationalen Unternehmen kontrollieren http://www.fr-online.de/wirtschaft/maechtige-konzerne-147-unternehmen-kontrollieren-die-welt,1472780,11055250.html