Wie weiter nach dem „Impeachment“?
Nachdem Dilma Rousseff Anfang 2011 ihren Vorgänger Luiz Ignacio „Lula“ da Silva als brasilianische Präsidentin abgelöst hat, kam es seit 2012 zu deutlich mehr Arbeitskämpfen und seit 2013 auch zu massiven Protesten der sozialen Bewegungen, der Jugend und der Armen allgemein. Inzwischen ist ihre Präsidentschaft im Rahmen des in Brasilien „Impeachment“ genannten Amtsenthebungsverfahrens für sechs Monate suspendiert. Welche Rolle spielte die Wirtschaftskrise und wieviel Einfluss hatten die Protestbewegungen?
von Johannes Ullrich, Berlin
Es waren vor allem Arbeitskämpfe der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst gegen Lohnkürzungen und die Rücknahme von Arbeiterrechten, die 2012 zum Jahr mit der höchsten Anzahl an Streiktagen seit 16 Jahren machten. Waren die politischen Auswirkungen dieser Kämpfe noch begrenzt, so zeigte sich spätestens in der explosionsartig entstandenen Massenbewegung im Juni 2013, dass die Unterstützung der Regierung der PT (Arbeiterpartei) von Lula und Dilma unter einer breiten Schicht von Jugendlichen und ArbeiterInnen stark zurückgegangen war. Die Anhebung der Fahrpreise im ÖPNV war vor dem Hintergrund magerer Lohnerhöhungen und einer hohen Inflationsrate der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Innerhalb weniger Wochen mussten Dilma & Co. nachgeben und die Erhöhungen zurücknehmen. LSR (Freiheit, Sozialismus und Revolution), die brasilianische Schwesterorganisation der SAV, spielte sowohl in São Paulo als auch in Rio de Janeiro eine wichtige Rolle dabei, die Proteste der „obdachlosen ArbeiterInnen“ (MTST) mit denen der jugendlichen StadtbewohnerInnen zusammenzubringen.
Im Jahr 2014 waren die sichtbarsten Protestbewegungen diejenigen gegen die Fussball-WM mit ihrer Korruption im Immobilienbereich, der Vertreibung tausender Familien und dem weiteren Abbau von Arbeiterrechten. Hier kam es am 5. Juni 2014 auch zu einer direkten Vernetzung der Bewegungen, indem sich die MTST-AktivistInnen mit den streikenden U-BahnfahrerInnen in São Paulo solidarisierten, welche wiederum ausdrücklich die Massenbewegung aus 2013 aufgriffen und sich deren Forderung nach einem Nulltarif im ÖPNV auf die Fahnen schrieben. Aber auch LehrerInnen, Bank- und Postbeschäftigte und ArbeiterInnen in der Metallindustrie führten 2014 wichtige Arbeitskämpfe. In fast allen diesen Kämpfen spielten Frauen die Hauptrolle und Aktivistinnen von LSR waren an der Organisation der „Konferenz der Bewegung der Frauen im Kampf“ beteiligt, die im Oktober 2014 für eine dauerhaftere landesweite Vernetzung linker GewerkschafterInnen sorgte.
Direkt nach ihrer Wiederwahl im Oktober 2014, bei der sie gegen einen konservativen Kandidaten nur knapp in der zweiten Runde gewonnen hatte, setzte Dilma einige neoliberale Gesetze durch – obwohl sie in ihrem von linker Rhetorik geprägten Wahlkampf das Gegenteil versprochen hatte. Der folgende tiefe Fall ihrer Beliebtheitswerte und die sich weiter verschlechternde wirtschaftliche Lage sowie der Korruptionsskandal beim staatlichen Erdölunternehmen Petrobras gaben der politischen Rechten eine Möglichkeit, die Initiative zu übernehmen und am 15. März 2015 landesweite Protestdemonstrationen zu organisieren. Trotz der sehr erfolgreichen Mobilisierung der Konservativen für ein Amtsenthebungsverfahren setzte die Mehrheit der brasilianischen KapitalistInnen damals aber noch auf Dilma und die PT, und diese enttäuschten die Bosse nicht: In der zweiten Jahreshälfte wurde die „Anti-Terror-“Gesetzgebung verschärft und dient seitdem verstärkt dazu, alle sozialen Bewegungen zu kriminalisieren; die brasilianischen Offshore-Ölreserven wurden privaten Investoren zugänglich gemacht und Renten- und Sozialgesetze sollten zu Lasten der Arbeiterklasse verschlechtert werden.
Die zuletzt genannten Pläne konnten aber eben nicht mehr von der nationalen PT-Regierung durchgesetzt werden, weil allzu viele ehemalige und aktuelle Senatoren und Minister in den Korruptionsskandal verwickelt waren und auch Dilma und Lula politischen Schaden erlitten. Zudem richteten sich viele Arbeitskämpfe direkt gegen lokale und regionale PT-Regierungen. Im Zuge der Vorbereitung der Demonstrationen am 13. März 2016, zum Jahrestag des 15. März 2015, schwenkte daher der Großteil der brasilianischen Bourgeoisie auf einen Anti-Dilma-Kurs ein und beteiligte sich vor allem über die von ihr kontrollierten Massenmedien an der Vorbereitung des Amtsenthebungsverfahrens. Zwar versuchte Dilma noch im März, durch eine vorzeitige Rückholung Lulas in die Regierung von dessen immer noch vorhandener Beliebtheit zu profitieren (und Lula selbst vor der Strafverfolgung zu schützen), aber letztendlich wurde ihre Präsidentschaft am 11.05.2016 für sechs Monate suspendiert und ihr konservativer Vizepräsident Michel Temer von der PMDB-Partei übernahm die Amtsführung.
LSR, die brasilianische Schwesterorganisation der SAV, stellt klar, dass eine Regierung Temer die gleichen Konterreformen versuchen wird wie die PT. Angesichts der Verstrickung aller etablierten Parteien in die Korruptionsskandale rufen unsere GenossInnen dazu auf, sofort den Kampf gegen Temer aufzunehmen und nicht zu warten, ob sich im durchkorrumpierten und arbeiterfeindlichen politischen System Brasiliens die Bourgeoisie für eine konservative Regierung oder für Neuwahlen entscheidet.