Interview mit Lucy Redler zum Ausgang der Abgeordnetenhauswahlen in Berlin
Am vergangenen Sonntag fanden in Berlin Wahlen statt, wie bewertest du den Ausgang?
Die Wahlen waren eine schallende Ohrfeige für die Regierungsparteien SPD und CDU. Beide haben ihr historisch schlechtestes Ergebnis in Berlin eingefahren. Das hat verschiedene Gründe und reicht vom Chaos am Lageso, der Kostenexplosion beim BER, steigenden Mieten und prekären Arbeitsverhältnissen bis zur katastrophalen Lage auf den Warteämtern (auch Bürgerämter genannt). Die Grünen konnten interessanterweise gar nicht davon profitieren, sondern haben prozentual an Zustimmung verloren. Hinzugewonnen haben DIE LINKE um 3,9 Prozent, die FDP um 4,9 Prozent und die AfD um 14,2 Prozent. Die AfD hat Stimmen von allen Parteien, aber vor allem von den NichtwählerInnen gewonnen. Auch wenn die AfD in Berlin nicht so stark geworden ist, wie in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, sollten wir das Ergebnis und die Gefahr, die von der AfD ausgeht, nicht kleinreden, sondern das als ernste Warnung betrachten.
Die Linke konnte als einzige parlamentarische Kraft dazu gewinnen, woran liegt das?
Das liegt vor allem daran, dass sie sich in den fünf Jahren in der Opposition erholt hat und daran, dass die schwarz-rote Regierung sehr unbeliebt war. Davor hatte DIE LINKE (bzw. PDS) zehn Jahre mit der SPD regiert und durch die Zustimmung zu Privatisierungen und Sozial- und Stellenabbau massiv an Glaubwürdigkeit verloren. Ihre Zustimmung sank von 22,6 Prozent im Jahr 2001 auf 11,7 Prozent im Jahr 2011. Diesmal konnte sie fast 88.500 Stimmen dazu gewinnen. Das ist gut, aber kein Durchbruch. Bei den Wahlen war soziale Gerechtigkeit das wichtigste Thema. Das hat der LINKEN geholfen. Sicher haben auch viele Jugendliche aus Angst vor der AfD DIE LINKE gewählt. Der Stimmenzuwachs wurde jedoch vor allem im Westen der Stadt erzielt: Von den 84.690 neuen Stimmen wurde 59.000 in Westbezirken dazu gewonnen, das sind zwei Drittel, davon knapp 10.700 in Neukölln. Hier gibt es oftmals eine stärkere Bewegungsorientierung der Partei oder wie in Neukölln eine oppositionelle Ausrichtung.
Während im Westen der Stadt überall Zugewinne erzielt wurden, gab es im Osten auch Verluste, welche Ursachen hat das?
DIE LINKE ist im Osten stärkste Kraft, hat aber in Treptow-Köpenick, Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf bei steigender Wahlbeteiligung prozentual an Zustimmung verloren. Besonders im Südosten und im Nordosten ist die AfD sehr stark geworden. Das hat verschiedene Gründe, liegt sicher aber auch daran, dass DIE LINKE im Osten als etabliert betrachtet wird und nicht die erste Adresse für Wut und Protest ist.
Besonders beeindruckend ist der starke Anstieg in Neukölln, wo es einen Stimmenzuwachs um 170 Prozent gab, was unterscheidet den Bezirk von anderen?
Besonders in Nordneukölln ist die Partei seit langem in Bewegungen verankert und dafür bekannt, nicht nur in Wahlkämpfen regelmäßig auf der Straße präsent zu sein. Unsere Slogans „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“, „Nein zum Hartz IV-System! Nein zu Niedriglöhnen!“ oder „Obergrenzen für Reichtum nicht für Geflüchtete“ haben offenbar einen Nerv getroffen. Hier haben die drei DirektkandidatInnen Sarah Moayeri, Irmgard Wurdack und Ruben Lehnert Erststimmenergebnisse von über zwanzig Prozent erreicht. Mit einem kämpferischen Profil können wir Menschen für uns gewinnen. Wichtiger als Stimmen ist aber immer, Menschen zu überzeugen, selbst aktiv zu werden. Allein am Wahlwochenende haben wir acht neue Mitglieder in Neukölln gewonnen, im Wahlkampf insgesamt sind es fünfzig neue Mitglieder.
In dem Wahlkreis, in dem ich Wahlkampf gemacht habe, hat die Kandidatin Sarah Moayeri (die auch SAV-Mitglied ist, A.d.R.) erklärt, dass sie gegen eine Koalition mit SPD und Grünen ist. Wir haben daran erinnert, dass unter Rot-Rot 120.000 Wohnungen privatisiert wurden. Und wir sind offen damit umgegangen, dass die Landesspitze der Partei eine Regierungsbeteiligung anstrebt. Ich denke, es ist richtig, den Menschen zu erklären, dass es zur Regierungsfrage unterschiedliche Meinungen in der Partei gibt.
Was erwartest du von einer Mitte-Links-Regierung, gibt es überhaupt Perspektiven für ein linkes Regierungsprojekt?
Nein, ich gehe davon aus, dass es keine rot-rot-grüne Regierung ohne Schuldenbremse und ohne Abschiebungen und für eine Wiedereingliederung aller Tochterunternehmen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit für die LehrerInnen und andere Beschäftigte und ein Ende des Sozialabbaus der Vergangenheit geben wird. Für diese Forderungen braucht es starke Bewegungen und Proteste und sie sind nur gegen die Reichen und Privatinvestoren und deren Parteien (CDU, AfD, FDP, SPD, Grüne) durchsetzbar und nicht im Schulterschluss mit einigen von ihnen. Die Erfolge in Berlin der letzten Jahre wie die Rekommunalisierung der Wasserbetriebe, der Mietenvolksentscheid und mehr Personal an der Charité wurden alle durch Proteste, Streiks oder öffentlichen Druck durchgesetzt und nicht durch geschicktes Agieren im Abgeordnetenhaus. Es hat DIE LINKE gestärkt, dass sie sich an Protesten während ihrer Oppositionszeit beteiligt hat. Natürlich würde eine rot-rot-grüne Regierung auch einige Verbesserungen beschließen und aufgrund der Haushaltslage ein paar Investitionen tätigen, aber das würde nicht aufwiegen, dass DIE LINKE Sozialkürzungen, Abschiebungen, Polizeieinsätze, die Fortsetzung prekärer Lebens- und Arbeitsbedingungen usw. mit zu verantworten hätte.
Ein Argument ist, dass laut Umfrage, 98 Prozent unserer WählerInnen wollen, dass DIE LINKE regiert. Ich bin dafür, dass es nicht an der LINKEN scheitert, eine rot-grüne Minderheitsregierung ins Amt zu bringen. Dann könnte DIE LINKE Verbesserungen zustimmen und alle Verschlechterungen ablehnen. Wir dürfen uns nicht durch einen Koalitions- oder Tolerierungsvertrag in unserer Freiheit einschränken lassen, das Wahlergebnis jetzt als Rückenwind zu nutzen, den dringend nötigen Widerstand auch gegen die Politik von SPD und Grünen aufzubauen. Es ist doch die neoliberale Politik von CDU, SPD und Grünen, die die AfD erst stark gemacht haben. Wenn DIE LINKE erneut regiert und Menschen enttäuschen sollte, wird die AfD in der Opposition weiter zulegen.
Lucy Redler ist Mitglied im Parteivorstand der LINKEN und Bundessprecherin des innerparteilichen Zusammenschlusses Antikapitalistische Linke (AKL). Sie ist aktiv im Bezirksverband Neukölln und der SAV. Das Interview erschien zuerst in einer längeren Fassung auf freiheitsliebe.de