Es gilt, in einer neuen Ära das Erbe von 1917 zu verteidigen
Leitartikel aus der „Socialism Today“ (Ausgabe Dez. ´16/Jan. ´17), Monatsmagazin der „Socialist Party“ (Schwesterorganisation der SAV und Sektion des CWI in England und Wales)
Im Jahr 2017 jährt sich der Ausbruch der Russischen Revolution zum 100. Mal. Diese Revolution von 1917 sticht als – bislang – größtes Ereignis der Menschheitsgeschichte hervor. Und das, obwohl ihre Bedeutung zweifellos durch die groteske Degenerierung der Sowjetunion und die unerbittliche Verunglimpfung der Anhänger des Kapitalismus verschleiert bzw. in den Dreck gezogen worden ist.
1917 steht für eine elementare Massenbewegung gegen eine feindselige und ausbeuterische herrschende Klasse. Die unterdrückten Arbeiter*innen, verarmten Bäuerinnen und Bauern, Soldaten und anderen unterdrückten Schichten, die während des imperialistischen Krieges unter einer noch schlimmeren Ausbeutung als ohnehin schon zu leiden hatten, begehrten auf und stürzten das marode Zaren-Regime und mit ihm die herrschende gesellschaftliche Klasse der Kapitalisten und Grundbesitzer. Zum ersten Mal in der Geschichte etablierte eine Revolution – unter der Führung einer revolutionären Partei, den Bolschewiki – eine Regierung, die sich auf die Arbeiterklasse und andere ausgebeutete Schichten gründete. Ja, man schaffte es sogar, dieses Regime gegen eine Militäroffensive und trotz eines Wirtschaftsembargos aufrechtzuerhalten. Die sowjetische Form der Regierung basierte auf massenhafter, demokratischer Partizipation der Massen selbst.
Die Massen betreten die Bühne der Geschichte
Diese „Festtage der Unterdrückten und Ausgebeuteten“ (Lenin) umfassten einen regelrechten Schwall an Diskussionen und Debatten, in denen die Massen ihr Leid und ihre Bestrebungen zum Ausdruck brachten. Beschrieben wurde dies in dem Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ von John Reed und in dem Werk „Year One of the Russian Revolution“ von Victor Serge. Diese tiefgreifende Bewegung versetzte die weltweite Bourgeoisie in Angst und Schrecken, die umgehend Armeen bereitstellte, um die „Weißen“ zu unterstützen, bei denen es sich um bürgerlich-feudale Konterrevolutionäre handelte.
Ausgelöst wurde die Revolution durch Massendemonstrationen von Frauen, die in den Fabriken arbeiteten. Im Zuge der Revolution kam es zur massenhaften Beteiligung von weiblichen Aktivistinnen aus der Arbeiterklasse. Die Sowjetregierung setzte etliche Rechte für Frauen durch – lange bevor diese in den parlamentarischen Systemen vieler westeuropäischer Länder Gesetzeskraft erlangten. Aufgrund der extremen ökonomischen Situation, die in den ersten Jahren nach der Revolution vorherrschte, kam es unvermeidlich zu Schwierigkeiten, diesen Reformen Substanz zu verleihen.
Dennoch kam es zu einem ungeheuren Ausbruch an Kreativität: in der Kunst, am Theater, in der Architektur und in anderen Bereichen der Kultur. Das hatte international Auswirkungen. Eine demnächst anstehende Ausstellung über Russische Kunst in der „Royal Academy“ in London wird dennoch als Mittel genutzt werden, um zu versuchen die Errungenschaften der Revolution in einem schlechten Licht darstellen.
Die Sowjetregierung, die durch die Wucht der Revolution an die Macht gekommen war, sah sich immensen Problemen gegenüber. Die Arbeiterklasse stellte in einer überwältigend ländlich geprägten Gesellschaft nur eine Minderheit. Zahlenmäßig war das Land von der Bauernschaft dominiert. Russland war ökonomisch wie kulturell ein rückständiges Land, das unter den Folgen des Ersten Weltkriegs schwer zu leiden hatte. Hinzu kam, dass die Revolution isoliert blieb, weil die revolutionären Bewegungen in den entwickelteren Staaten Niederlagen erlitten hatten. Dies galt auch für Deutschland, wo es eine wesentlich stärkere Arbeiterklasse gab als in Russland. Lenin und Trotzki, die einflussreichsten Führungspersonen der Revolution, hatten keine Illusionen. Sie gingen davon aus, dass die Russische Revolution nur im Einklang mit den internationalen revolutionären Entwicklungen würde vollendet werden können.
Wegen der Isolierung der Revolution in einem rückständigen Land setzte schon bald der Prozess der bürokratischen Degeneration ein, wobei Stalin den Kopf dieser Entwicklung darstellte. Bis zu seinem Tod im Januar 1924 kämpfte Lenin gegen diese Tendenz. Und Trotzki setzte sich gegen die Bürokratisierung zur Wehr und kämpfte von 1923 an bis zu seiner Ermordung durch einen Agenten Stalins im Jahr 1940 für die Wiederherstellung der Arbeiter-Demokratie.
Es mag zwar sein, dass bürgerliche Historiker*innen die Person Stalin und die reaktionäre Bürokratie beklagen, auf die er sich stützte. Auch mögen sie das groteske und totalitäre Regime anprangern, das er aufbaute. Sie sind aber zu keinem Zeitpunkt bereit, die Ideen oder die Arbeit von Trotzki anzuerkennen. Mit der „Internationalen Linken Opposition“ kämpfte Trotzki pausenlos gegen die Degenerierung der Revolution.
Und dennoch wird das Beispiel der Russischen Revolution und ihrer Errungenschaften, die sie in ihrer gesunden Phase hervorgebracht hat, niemals ausgelöscht werden. Trotz der bürokratischen Verfehlungen des Stalinismus machte die Planwirtschaft das ehedem rückständige und nur teilweise entwickelte Russland in den 1950er und 1960er Jahren zu einem mächtigen modernen Staat – wenn auch auf Kosten ungeheurer menschlicher Ressourcen. In einer späteren Phase, die einige Jahre vor dem Zusammenbruch des Stalinismus nach 1989 datiert, bewies die Planwirtschaft in ihrer undemokratischen und stalinistischen Ausformung, dass sie ihr Potential für Wachstum aufgebraucht hatte.
Das Erbe der Russischen Revolution in einer neuen Ära verteidigen
Auf der ganzen Welt werden Sozialist*innen, Marxist*innen und kämpferische Arbeiter*innen das Beispiel der Russischen Revolution und ihre Errungenschaften feiern. Gleichzeitig werden wir im Laufe des Jahres 2017 erleben, wie die bürgerliche Propagandamaschinerie heißlaufen wird. Die Presse, das Fernsehen, akademische Veröffentlichungen, Ausstellungen etc. werden angekurbelt, um die Idee von der gesellschaftlichen Transformation im Allgemeinen und die Russische Revolution im Speziellen schlechtzumachen.
Die propagandistischen Auswüchse des Jahres 2017 werden zweifelsohne die Exzesse von 1989 noch übertreffen. Damals läutete der Fall der Berliner Mauer einen allgemeinen Prozess ein, der im Zusammenbruch des Stalinismus mündete. Auf der ganzen Welt begann die Bourgeoisie einen „Kulturkampf“, einen ideologischen Krieg, um die Idee des Sozialismus und der Planwirtschaft in Verruf zu bringen. Stattdessen wurde die Idee vom „Ende der Geschichte“ verbreitet, was bedeuten sollte, dass die ultimativen Errungenschaften der Zivilisation aus parlamentarischer Demokratie und freier Marktwirtschaft bestehen.
Zu jener Zeit sah alles danach aus, als würden die Kapitalisten dieser Welt damit Erfolg haben. Schließlich standen sie in starkem Gegensatz zum Chaos und dem Kollaps der Sowjetunion und der osteuropäischen Regime. Die kapitalistischen Regierungen standen plötzlich nicht mehr unter dem Druck, „Sozialstaaten“ aufrechterhalten zu müssen, um einem etwaigen Vorsprung des stalinistischen Blocks entgegenzuwirken. Stattdessen wurde dem Finanzkapital freie Hand gegeben und die Profite sprudelten. Die Globalisierung beschleunigte sich und eine neue Kombination aus neoliberalen Bedingungen ermöglichte es den Regierungen, einen Feldzug gegen Arbeitnehmerrechte und die Lebensstandards zu beginnen.
Bis 2007 schien das internationale Kapital damit höchst erfolgreich zu sein. Doch heute zeichnet sich ein ganz anderes Bild von der Lage. Der Kapitalismus sieht wich weltweiten Krisen, sozialer Instabilität und politischen Fieberkrämpfen ausgesetzt. Das System steckt in einer „Legitimitätskrise“. Auch wenn sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Alternative haben, lehnen große Teile der Bevölkerung die kapitalistischen Lebensbedingungen ab. Seinen Ausdruck findet dies unter anderem in der Wahl von Donald Trump in den USA. Es war eine Wahl, die sich gegen das Establishment richtete (womit wir uns an anderer Stelle genauer befassen). Im selben Atemzug ist der „Brexit“ zu nennen, für den sich beim EU-Referendum vom Juni eine Mehrheit in Großbritannien ausgesprochen hat.
Infolge des Dilemmas, in dem sie selbst steckt, wird die Bourgeoisie die Russische Revolution jedoch nicht mehr als positiv darstellen können. Im Gegenteil wird ihre, gegen die Ereignisse von 1917 gerichtete Propaganda an Intensität noch zunehmen. Es wird zu ganz entsetzlichen Übertreibungen, Verdrehungen der Wahrheit und offenen Lügen kommen. Eine verwundete Bestie ist eben gefährlicher als eine Kreatur, die sich gerade satt fressen konnte.
Und dennoch wird es trotz des neu beginnenden Feldzugs gegen den Marxismus und die Idee von der Revolution zu neuem und gesteigerten Interesse an marxistischen Ansätzen kommen. In den USA hat der Wahlkampf von Bernie Sanders anlässlich der Vorwahlen eine riesige Schicht an Arbeiter*innen und jungen Menschen in ihren Bann gezogen, die beginnen, sich für eine weiterentwickelte Form des Sozialismus zu interessieren als diejenige, die Sanders selbst anzubieten in der Lage war. Letzterer steht lediglich für eine sehr begrenzte sozialdemokratische Variante. Ähnlich verhält es sich in Großbritannien, wo viele, die der sozialdemokratischen „Labour Party“ beigetreten sind, um Jeremy Corbyn zu deren neuem Vorsitzenden zu wählen und die sich dieses Jahr erneut gegen den innerparteilichen und rechtsmotivierten Putschversuch wehren werden, nach sozialistischen Ideen Ausschau halten, die mit der Vorstellung von einem grundlegenden Wandel der Gesellschaft einhergehen.
Um sich gegen die absehbare ideologische Offensive das nötige Rüstzeug verschaffen zu können, wird die „Socialism Today“ im Sommer dieses Jahres mit einer Sonderausgabe zur Russischen Revolution erscheinen. Im Laufe des Jahres 2017 werden wir Artikel veröffentlichen, bei denen es sich sowohl um Archivmaterial wie auch um aktuelle Analysen handelt, die dazu beitragen sollen, die wahre Geschichte von 1917 und die sozialistische Alternative, für die dieses Jahr steht, zu beleuchten.