Was ist dran an Martin Schulz?

Warum der SPD-Kanzlerkandidat weder links, noch ein „Mann des Volkes“ ist

Es ist ein immer wiederkehrendes Ritual, dass die SPD in Zeiten des Wahlkampfes links blinkt. Ins Wahlkampfjahr 2017 geht sie nun mit einem Mann als Kanzlerkandidaten, der sich – obwohl ganz auf Agenda 2010-Linie stehend – links verkauft und viel über „mehr soziale Gerechtigkeit“ spricht.

von Marcus Hesse, Aachen

Medial wird Martin Schulz gefeiert und als Hoffnungsträger inszeniert. Bei vielen kommt das an: Ersten Umfragen zufolge würde sich eine knappe Mehrheit ihn als Kanzler wünschen und die SPD, die zum Jahresanfang unter dem unbeliebten Sigmar Gabriel noch bei 21 Prozent herumdümpelte, rückt laut einer aktuellen Emnid-Umfrage auf bis zu 33 Prozent. Es gab sogar eine kleine Welle von Neueintritten in die SPD: Im Januar waren es 3000. (Vorwärts, 31.1.2017) Das ist jetzt nicht vergleichbar mit den Masseneintritten Anfang der 1970er Jahre, als Willy Brandt Kanzlerkandidat war oder nach der Abwahl der sozialliberalen Koalition und dem Beginn der Kohl-Ära, aber für die Partei ist es seit anderthalb Jahrzehnten etwas völlig Ungewohntes, verlor sie doch seit Jahren beständig Mitglieder. Offenbar weckt Schulz‘ Nominierung als Kanzlerkandidat bei Teilen der Bevölkerung Hoffnungen auf eine Rückbesinnung der SPD auf klassisch sozialdemokratischen Politik.

Durch Hartz IV und Leiharbeit wurde Deutschland zum ausgesprochenen Niedriglohnland. Aus der Sicht des Kapitals ist die Agenda 2010 eine große Erfolgsstory. Für Millionen Menschen aber bedeutet sie Armut und Prekarität. Diese sozialen Verwerfungen haben zu einer regelrechten Massenabwanderung von der SPD geführt. Besonders ArbeitnehmerInnen und sozial arme Menschen traten aus und blieben bei Wahlen zu Hause. Noch heute gilt: „Je ärmer, desto häufiger NichtwählerIn.“ Nicht wenige linke SozialdemokratInnen und sozialistische SPD-UnterstützerInnen haben sich mittlerweile der LINKEN angeschlossen, andere Teile der Wählerschaft liebäugeln mit der AfD. Da musste ein Imagewandel für die SPD her. Martin Schulz ist dafür das perfekte Gesicht: er präsentiert sich als ehrliche Haut aus dem Volk, gehört nicht zum SPD-Regierungsestablishment, verweist auf seinen Lebensweg „von unten“ und seine menschlichen Seiten und setzt sich geschickt von seinem Vorgänger ab. Er redet von „Veränderung, obwohl seine Partei bis auf die kurze Pause von 2009 bis 2013 seit 19 Jahren an der Regierung ist und er die Regierungspolitik nie kritisierte.

Mann des Establishments

Die Inszenierung von Martin Schulz als einfachen Mann mit „Stallgeruch“ und Volktribun ist relativ bizarr. Die bürgerliche und linksliberale Presse wird nicht müde, den „Proleten aus Würselen“ (Der Freitag) so zu präsentieren. Ungewöhnlich ist an ihm nur, dass er anders die große Mehrheit der SpitzenpolitikerInnen kein Akademiker ist. Aber das war es dann auch schon. Mit Politik im Interesse der Arbeiterklasse hat er schon lange nichts mehr am Hut. Politisch steht Schulz in allen relevanten Fragen auf dem Boden des Neoliberalismus und ist selbst innerhalb der SPD ein Rechter. Er hat die Politik der Agenda 2010 mitgetragen und verteidigt sie bis heute. In seinem Interview mit dem SPIEGEL von Januar 2017 bezeichnete er sie als „richtig“ und als „Erfolgsmodell“. Er forderte lediglich Korrekturen, eine (nicht näher definierte) größere finanzielle Belastung der Reichen als sozialen Ausgleich und sagt, dass der Mindestlohn hätte früher kommen sollen. Von einer Rücknahme von Hartz IV und anderer Verschlechterungen ist er weit entfernt. Dennoch machte die bürgerliche Presse aus diesen Aussagen fälschlicherweise eine Kritik an der Agenda 2010. Und diese Schlagzeilen kommen an. Vielleicht auch deshalb, weil nach Jahren der Enttäuschung und des Verrats die Erwartungen an etablierte PolitikerInnen enorm gesunken sind.

Als Präsident des Europäischen Parlaments ab 2012 war Martin Schulz maßgeblich und führend an der Erpressung des verschuldeten griechischen Staates beteiligt. Er drohte im Sommer 2015 der SYRIZA-Regierung mit dem Entzug aller Kredite, wenn sie nicht privatisiere und kürze.

Tsipras knickte schließlich ein und erfüllt seitdem die Diktate der Troika. Das bedeutet eine Zunahme der Verarmung und Perspektivlosigkeit für die Massen in Griechenland. Durch diese Politik ist die Suizidrate dort in die Höhe geschnellt und viele Menschen können sich nicht einmal mehr elementare medizinische Behandlung leisten.

Schulz ist ebenso ein vehementer Befürworter der Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Er vermeidet konkrete Aussagen, zum Beispiel über die Höhe der von ihm angeblich angestrebten Steigerung des Mindestlohns. Hört man genau hin, präsentiert er sich auch nicht links oder als Vertreter der ArbeiterInnen, sondern er will die „hart arbeitende Mitte der Gesellschaft“ vertreten.

Die mediale Inszenierung Schulz ist sehr darauf fokussiert, ihn als vermeintlich bodenständigen und volksnahen Typen zu verkaufen. Tatsächlich aber gehört er zu den Spitzenverdienern im Politikbetrieb. Der einstige Chef des Europarlaments (das Parlament mit der zweithöchsten Lobbyistendichte der Welt) ließ sich seine Tätigkeit fürstlich belohnen. Er gehört zu den Spitzenverdienern im Politikbetrieb. Neben seinem üppigen Grundgehalt von 8000 Euro als Abgeordneter und Parlamentspräsident sackte er noch Tagesgelder ein, die ihm monatlich noch einmal 18.000 Euro steuerfreie Zulagen brachten. (Focus Online 07.02.2017,) 2014 rückte ihn das kurzzeitig in den Fokus der öffentlichen Kritik. Der vermeintlich bodenständige „Mann aus dem Volk“ ist also weit entfernt, so zu leben wie die, die er angeblich vertritt.

Ein deutscher Sanders oder Corbyn?

Im letzten Jahr gab es international interessante Entwicklungen, die das Potenzial für PolitikerInnen aufzeigt, die mit einem linken „Populismus“ antreten. In den USA konnte Bernie Sanders Millionen mit seinem Slogan von einer „Politischen Revolution gegen die Milliardäre“ begeistern. Doch das Establishment der Demokratischen Partei wollte seine Kandidatur um jeden Preis verhindern und setzte die Kandidatin der Wall Street, Hillary Clinton, durch. Bei der Wahl zwischen Pest und Cholera blieb die Hälfte der registrierten WählerInnen zu Hause und heraus kam Trump.

In Großbritannien wurde – für die meisten völlig überraschend – der linke Sozialdemokrat Jeremy Corbyn zum Labour-Vorsitzenden gewählt. Die Labour Party hatte sich unter dem Schröder-Vorbild Tony Blair gänzlich zu einer neoliberalen Partei entwickelt und bis auf die enge Verbindungen mit der Gewerkschaftsbürokratie jede Verbindung zur Arbeiterklasse verloren. Aber diverse Ansätze linker Neugründungen scheiterten. Corbyn versteht sich als „demokratischer Sozialist“, will Privatisierungen zurücknehmen und spricht sich gegen Kriege aus. Er ist ein linker Kritiker der EU – auch wenn er sich nicht für den Brexit aussprach. Aus Begeisterung für Corbyn gab es Masseneintritte in die unter Blair völlig verrottete Labour-Party, die in die Zehntausende gingen.

Schulz‘ Rhetorik mag manche Linke verleiten, in ihm eine Art deutsche Variante von Sanders oder Corbyn zu sehen und sie hoffen, ungeachtet von dessen politischem Sündenregister der Vergangenheit auf die Möglichkeit, dass dieser sich auf Grund einer politischen Dynamik nach links entwickeln könnte. Er wäre nicht der erste Sozialdemokrat, der sich unter dem Druck der Ereignisse nach links entwickelt. Warum also sollte nicht innerhalb der „Alten Tante“ SPD ein Linksruck stattfinden?

Was diese Leute übersehen, ist nicht nur die politische Vergangenheit von Martin Schulz, sondern auch seine gegenwärtige Rolle und sein Verhältnis zur SPD-Bürokratie. Sanders sprach von einer „politischen Revolution“ und artikulierte eine Haltung gegen „die da Oben“ – doch Martin Schulz will (laut SPIEGEL-Interview im Heft 6/2017) das Vertrauen „in die da Oben“ wieder herstellen. Die soziale und Gerechtigkeits-Rhetorik dienst also selbst in seinen eigenen Worten der Systemerhaltung – einer Aufgabe, der sich die SPD-Führung seit 1914 mit Vorliebe widmet.

Corbyn vertritt ein linksreformistisches Programm, während Schulz bei aller Rhetorik auf dem Boden des Neoliberalismus steht.

Während Sanders und Corbyn – bei all ihrer politischen Begrenztheit – das ganze Establishment in Gesellschaft, Staat und in ihren „eigenen“ Parteien gegen sich aufgebracht haben bzw. noch aufbringen, ist Schulz Teil dieses Establishments und wird aus ihm heraus unterstützt. Das ganze verkommene Agenda 2010-Personal in der SPD feiert den angeblichen „Agenda 2010-Kritiker“ Schulz als ihren Mann – mit Recht!

Wie umgehen mit Schulz?

Mit der Präsentation eines „linken“ und „sozialen“ Gesichtes im Wahlkampf will die SPD sicherlich auch DIE LINKE schwächen. Das bedeutet eine neue Herausforderung, der DIE LINKE begegnen muss. Es stellt sich die Frage, wie das anzustellen sein wird. Wichtig wird dabei sein, zweigleisig zu fahren. Es wird ohne jeden Zweifel wichtig sein, Schulz‘ leere Rhetorik politisch zu entlarven, sein Gerede von „mehr sozialer Gerechtigkeit“ an seinen politischen Taten und denen seiner Partei zu messen. Es wird wichtig sein, auf seine konkrete neoliberale und arbeitnehmerfeindliche Politik in der Vergangenheit und Gegenwart hinzuweisen und seine Imagekampagne einem Realitätscheck zu unterziehen. Zugleich aber sollten wir seine Rhetorik positiv aufgreifen und seinen abstrakten Aussagen unsere konkreten Forderungen entgegenstellen: Wenn Schulz sagt, wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit und dass auch die Reichen mehr zahlen sollten, müssen wir sagen dass das nur geht, wenn die Verschlechterungen der Agenda 2010 (besonders die Hartz-Gesetze und die Rente mit 67) zurückgenommen werden und aufzeigen, dass eine Reichensteuer wirklich an die Profite ran gehen muss, um einen Effekt zu erzielen. Wir müssen aufzeigen, dass eine soziale Politik unter den Bedingungen der Schuldenbremse und unter dem Diktat der Schwarzen Null nicht möglich ist. Je konkreter Linke diese Politik für einen wirklichen sozialen Wandel formulieren, desto deutlicher wird sie mit Schulz‘ neoliberalem, pro-kapitalistischen Programm kollidieren. Dabei kann auch helfen, wenn DIE LINKE entsprechende Anträge in den Bundestag einbringt und deutlich macht, wenn die SPD gegen ihre eigene Propaganda solchen nicht zustimmt, wie zum Beispiel in der Frage der Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung.

Zweifellos wird die Nominierung des vermeintlich linken Martin Schulz den gesamtgesellschaftlichen wie innerparteilichen Druck verschärfen, DIE LINKE in Richtung R2G (also einer Koalition mit SPD und Grünen) zu drängen. Das wird den KoalitionsbefürworterInnen in den eigenen Reihen Auftrieb geben. Dagegen hilft nur eine Politik, die prinzipienfest und nicht-sektiererisch zugleich ist. MarxistInnen werden mit ihrer prinzipiellen Koalitionsablehnung zunächst relativ isoliert sein und müssen geduldig erklären, warum mit SPD und Grünen keine linke Politik umgesetzt werden kann und gleichzeitig den Fokus auf die Notwendigkeit des außerparlamentarischen Widerstands, von Streiks und Demonstrationen, legen.

Dass Schulz Erfolg hat, zeigt auf verzerrte Weise das Potenzial für linke Politik. Sie ist offenbar auch dann erfolgreich, wenn sie beim genauen Hinsehen gar nicht links ist, aber lautstark Probleme benennt und einen Wandel verspricht. Mit einer richtigen politischen Linie kann es SozialistInnen gelingen, an dieser Stimmung anzusetzen und ihr einen richtigen Inhalt zu geben.

Das Ziel der Schulz-SPD ist die Fortsetzung einer Großen Koalition unter ihrer Führung. Ob sie den derzeitigen „Schulz-Effekt“ bis in den Bundestagswahlkampf retten kann, ist offen. Linke müssen davor warnen, dass es der Partei der Agenda 2010, der Kriege und des Arbeitnehmerbetrugs erneut gelingen könnte, Hoffnungen und Erwartungen von Millionen für Wahlkampfzwecke und rechte Politik zu missbrauchen – und zugleich aufzeigen, wie eine linke Politik für eine wirkliche Veränderung aussehen kann.

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