Die politische Lage in Lateinamerika

beschlossen vom Internationalen Exekutivkomitee des CWI, November 2017

Bei seinem Treffen im Dezember 2016 hat das IEK des CWI die Ansicht bekräftigt, dass die Periode relativer ökonomischer und politischer Stabilität in Lateinamerika ihr Ende gefunden hat. Das ist das Ergebnis der internationalen Krise und der Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung in der Region: peripher, was die Lage angeht, und abhängig vom Imperialismus. Auf dem Subkontinent ist eine neue, von großer Instabilität sowie sozialen und politischen Turbulenzen geprägte Phase angebrochen.

Zu diesem neuen Szenario gehört auch, dass die „progressiven“ politischen Kräfte in die Krise geraten, die seit Beginn dieses Jahrhunderts aus dem Widerstand gegen den Neoliberalismus in der Region Kapital schlagen konnten. Im Zusammenhang mit dem Rohstoffboom war es einem Teil der lateinamerikanischen „progressiven“ Kräfte (wie im Falle der PT-Regierungen unter Lula in Brasilien) möglich, sich für eine bestimmte Form von „sozialem Pakt“ mit begrenzten Zugeständnissen an die Armen zu entscheiden. Im Gegenzug dazu blieben die Privilegien der Elite unangetastet.

In anderen Ländern, in denen der Prozess – wie in Venezuela – polarisierter und radikalisierter vonstatten ging, ist der Ölreichtum für eine umfassendere Reichtumsverteilung und Sozialreformen genutzt worden. In keinem Land ist es zum Bruch mit dem kapitalistischen System gekommen.

Die Zuspitzung der kapitalistischen Krise hat alle „progressiven“ Varianten in Lateinamerika geschwächt und den Kern der lateinamerikanischen herrschenden Klasse dazu gebracht, mit der Politik der Klassen-Kollaboration zu brechen und sich in die Gegenoffensive zu begeben, um neue Angriffe auf die Beschäftigten und die Armen durchzuführen.

Im Zuge der Krise der „progressiven“ Alternativen in Lateinamerika und aufgrund des Fehlens neuer konsequenter aufgestellter linker Alternativen mit Massenverankerung erlebte die Rechte eine Renaissance. Es sind neue Regierungen neoliberaler rechter Kräfte an die Macht gekommen: so mit Macri in Argentinien, Temer in Brasilien, Kuczynski in Peru u.a. In Venezuela hat die Rechte die Mehrheit in der Nationalversammlung gewonnen und nutzt diese, um ihr reaktionäres Projekt voran zu bringen.

Wie wir schon früher gesagt haben, hat genau diese Rechte allerdings große Schwierigkeiten, ihre Macht und Politik zu konsolidieren. Was die Frage der politischen Repräsentanz angeht, existiert eine allgemeine Krise, die zu Spaltungen in der Bourgeoisie führt. Dies geschieht im Kontext bedeutsamen Massen-Widerstands gegen neue Attacken dieser Regierungen auf die Arbeiterklasse, indigene Völker, Frauen, junge Leute und andere unterdrückte Bevölkerungsteile.

Diese Widersprüche sind 2017 noch stärker geworden und auch in der nächsten Periode wird diese Dynamik anhalten. Lateinamerika befindet sich in einer Phase, die von einer historischen politischen und ökonomischen Krise gekennzeichnet ist.

Auf der einen Seite geht es um eine Krise der ökonomischen Modelle, die auf dem Export von Rohstoffen und einer steigenden Binnennachfrage basieren, die Kredit-finanziert ist. Andererseits hat die Rückkehr des offen auftretenden Neoliberalismus diese Widersprüche im Namen des schnellen Profits für die Kapitalisten nur noch weiter verschärft.

Von politischer Warte aus betrachtet weisen die in der vergangenen Periode umgesetzten Herrschaftsformen klare Krisen-Zeichen auf. Das gilt für die „progressiven“ Regierungen genauso wie für die explizit rechtslastigen, die die letzte Periode überstanden haben (z.B. die PRI-Regierung von Peña Nieto in Mexiko).

Allgemein befindet man sich in der Region zur Zeit in einer Sackgasse, in der das Alte abstirbt und das Neue noch nicht das Licht der Welt erblickt hat. Diese Situation eröffnet (um es mit den Worten Gramscis zu sagen) allen Formen „morbider Phänomene“ neue Möglichkeiten. Möglich sind Rückschläge auf politischer, ökonomischer und auf sozialer Ebene.

Weit ab davon, die Lage zu stabilisieren, hat das Aufkommen neuer rechter Regierungen in Ländern wie Argentinien und Brasilien nur dazu geführt, dass die politische Situation sich weiter polarisiert hat. Es wurden starke Reaktionen von Seiten der Arbeiterklasse und der Armen hervorgerufen. Gezeigt hat sich das am größten Generalstreik der jüngeren Geschichte, der am 28. April in Brasilien stattgefunden hat. Aber auch die enormen Mobilisierungen gegen die Politik von Macri in Argentinien und die größte Mobilisierung von ArbeiterInnen seit dem Ende der Diktatur in Chile gegen das private Rentensystem (AFP), bei der unsere GenossInnen dort eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben.

Da jedoch die alte Gewerkschaft und die politische Führung der Arbeiterklasse keinen klaren alternativen Weg aufgezeigt haben, konnten viele Attacken erfolgreich umgesetzt werden. Das bestehende politische Vakuum kann von reaktionären politischen Kräften genutzt werden, die als „neue“ Formationen daher kommen, oder es dient möglicherweise sogar den Kräften des Establishments, die von der Idee des „kleineren Übels“ profitieren könnten.

Der Wiederaufbau der Linken und der Arbeiterbewegung in Lateinamerika, die in der Lage ist, die Reaktion beiseite zu drängen, kann nur auf der Basis einer politischen und organisatorischen Neuaufstellung der sozialistischen Linken erreicht werden. Grundlegend hierfür ist, dass die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit gezogen werden und dass eine klare antikapitalistische und sozialistische Perspektive aufgezeigt wird. Es ist eine zentrale Aufgabe für das CWI in Lateinamerika in diesem Prozess einen Beitrag zu leisten.

Wirtschaftskrisen und soziale Ungleichheit

Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften haben sich in der letzten Periode in zunehmendem Maße vom Export von Rohstoffen abhängig gemacht und waren vom Ende des Booms bei den Verbrauchsgütern sowie durch die Verlangsamung in China stark getroffen. Der geringe Anstieg des Welthandels und bei den Rohstoffpreisen im Jahr 2017 dürfte zu einem geringfügigen Wachstumsschub in der Region führen. CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der UNO) schätzt, dass das Wachstum in Lateinamerika und der Karibik bei 1,2 Prozent liegen wird. Für 2018 geht man von einer Verdopplung dieses Wertes aus.

Brasilien und Venezuela gehören weiterhin zu den Ländern mit der schlechtesten wirtschaftlichen Lage. Was Brasilien angeht gehen die optimistischsten Schätzungen nach drei Jahren der Rezession von 2014 bis 2016 und einem Gesamtverlust von 8,6 Prozent des BIP davon aus, dass 2017 ein Wachstum von 0,7 Prozent zu verzeichnen sein wird. Dies bedeutet nur, dass die Situation nach der längsten Rezession seit 1980 aufgehört hat, sich noch weiter zu verschlechtern. Es gibt keine Garantie dafür, dass eine Dynamik soliden Wachstums begonnen hat. Das schwache Wachstum, das wir bisher erleben konnten, geht in erster Linie auf die Ausfuhr von Agrargütern zurück, und hinsichtlich der Binnennachfrage besteht keine Aussicht auf Wachstum. Die Investitionstätigkeiten liegen immer noch brach. Das politische Szenario mit den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr machen die Dinge nur noch komplizierter.

Das langsame und schwache Wachstum kommt lediglich den Reichsten in der Gesellschaft zu Gute. Die durchschnittlichen Einkommen der Ärmsten befinden sich weiter in freiem Fall. Die Erwerbslosigkeit verharrt bei rund 12 Prozent bis 13 Prozent und es herrscht ein enormes Maß an Unterbeschäftigung. Gleichzeitig ist eine große Mehrheit der Beschäftigten von extremer Prekarisierung am Arbeitsplatz betroffen.

Der öffentliche Sektor befindet sich in einer Art finanzpolitischen Würgegriffs. Das hat viele Bundesstaaten dazu gebracht, den Beschäftigten im öffentlichen Dienst Löhne und Rentenzahlungen vorzuenthalten. Selbst in so wichtigen Bundesstaaten wie Rio de Janeiro stehen Schulen und Krankenhäuser am Scheideweg. Ohne finanzielle Mittel der Bundesregierung sind in beinahe 4.000 Kommunen insgesamt 8.239 öffentliche Beschäftigungsprojekte zum Stillstand gekommen.

Ein geringes Wachstum hat in Verbindung mit hohen Zinsen und zurückgehenden Staatseinnahmen dazu geführt, dass das Defizit der öffentlichen Kassen ständig größer wird. Und das, obwohl nach einem als Putsch zu bezeichnenden Vorgehen, das im Namen der Verantwortung für die öffentlichen Kassen ausgeführt worden war, Temer an die Macht gekommen ist. Seit Ende 2014 bis Juli 2017 ist die Verschuldung der öffentlichen Hand von 56,3 Prozent auf 73,8 Prozent des BIP angestiegen und könnte 2018 den Wert von 80 Prozent erreichen. Mindestens die Hälfte dieser Schulden steht in Bezug zu den meist kurzfristigen Zinsen der Zentralbank.

Wenn die öffentlichen Schulden in Brasilien eine Zeitbombe darstellen, so läuft in Venezuela alles auf eine extreme Situation hinaus. Wirtschaftlich betrachtet befindet sich das Land weiterhin in einem Zustand, den man als Teil-Zusammenbruch bezeichnen muss. Die CEPAL geht für 2017 von einem erneuten Absinken des BIP im Rahmen von nun acht Prozent aus. Zu verzeichnen sind vier Jahre ökonomischen Schrumpfens, das insgesamt 36 Prozent des BIP umfasst.

Nach enormen Bemühungen, mit denen den ausländischen Gläubigern ein umgehender Schuldendienst garantiert werden sollte und die der venezolanischen Regierung unheimliche Kosten (bis hin zur Mangelwirtschaft) verursacht hat, versucht die Regierung Maduro jetzt die Umstrukturierung der Schuldenlast, indem sie mit den Kreditgebern verhandelt.

Aufgrund der Sanktionen, die Trump auferlegt hat, hat sich die Lage drastisch verschlechtert. In Venezuela hat dies bereits zum Teil-Ausfall geführt. Durch Verhandlungen mit Russland über einen Kredit i.H.v. drei Milliarden Dollar hat die Regierung etwas Zeit gewonnen. Sie wird versuchen, Ähnliches mit China zu bewerkstelligen. Dennoch besteht weiterhin die Gefahr einen Komplett-Ausfalls. Sollte es dazu kommen, würde dies zu einer weitaus kritischeren Situation führen, was die Beziehungen der Regierung zum Imperialismus angeht. Venezuela hält Vermögenswerte in Übersee, darunter auch eine Tochtergesellschaft des staatlichen Ölriesen PDVSA in den USA, die als Leidtragende aus den schwerwiegenden US-Sanktionen hervorgehen könnte.

Ohne Maßnahmen, die mit der Logik der Kapitalakkumulation im Land und der Region brechen, kann es für die venezolanische Wirtschaft aus der Sicht der ArbeiterInnen und Armen keinen Ausweg geben. Starke Zustimmung von Seiten der Beschäftigten in Venezuela und in ganz Lateinamerika würde hingegen die Ablehnung der Staatsschulden haben, wenn sie mit der Verstaatlichung der Banken einhergeht und von einer Arbeiterregierung durchgeführt wird, die die Ressourcen dafür einsetzt, um die Lebensmittel- und Medikamenten-Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Dadurch kann in der gesamten Region eine neue Welle offensiver Kämpfe angestoßen werden.

Verglichen mit dem Großteil Südamerikas weist Mexiko viele Besonderheiten auf. Zwar hat das Land unter dem Rückgang der Rohstoffausfuhren gelitten, jedoch nicht so stark wie andere Länder, die sich weiter südlich befinden. Der Wirtschaft des Landes ist dieses Jahr sogar ein leichter Anstieg der Öl-Exporte zugute gekommen. Der wesentliche Faktor allerdings, der bestimmend ist für die Volkswirtschaft von Mexiko, sind die USA und die Frage, wie es mit NAFTA weitergeht. Die Drohungen, die Trump zu Beginn seiner Amtszeit von sich gegeben hat, haben in Mexiko zwar zu Turbulenzen geführt, sind aber seither kaum konkret geworden. Die mexikanische Wirtschaft befindet sich in einer Situation, geprägt von Stagnation und niedrigem Wachstum. Arbeitsplätze entstehen nicht und die Lebensverhältnisse der Armen werden ebenfalls nicht besser.

Das Erdbeben, das im September den Südosten des Landes und die Region um Mexiko Stadt heimgesucht hat, offenbarte das Versagen des Staates und die perverse Logik des mexikanischen Kapitalismus. Angesichts der Tatenlosigkeit der Regierung ist die Solidarität und Hilfsbereitschaft für die Opfer von den jungen Menschen, den ArbeiterInnen und vor allem von den Frauen ausgegangen. Das schwere Erdbeben von 1985 wurde bis vor zwei Jahren noch als Wendepunkt in Mexikos Geschichte gesehen. Dadurch wurde eine neue Phase im Klassenkampf eingeleitet. Was die momentane Situation angeht, finden sich Elemente dieser Entwicklung auch heute.

Gegen-Reformen, Angriffe und Widerstand

In allen Ländern der Region haben die Regierungen auf die Krise reagiert, indem sie die Rechte der Arbeiterklasse beschnitten haben. In so gut wie jedem Fall sind diese Regierungen jedoch auch auf mächtigen Widerstand gestoßen. Es stimmt aber auch, dass dieser Widerstand aufgrund der Rolle der alten politischen Führungen (inklusive der Gewerkschaftsapparate) begrenzt geblieben ist.

Auf dem gesamten Kontinent standen vor allem die Themen soziale Sicherheit und Renten im Fokus des Klassenkampfes. In Chile entzündete sich daran sogar ein als historisch zu bezeichnende Massenbewegung. Aber auch in Argentinien, Brasilien, Mexiko und anderen Staaten waren dies die zentralen Punkte der neoliberalen Regierungen.

In Brasilien hat Temer es geschafft, eine Verfassungsreform durchzusetzen, die die öffentlichen Ausgaben für die nächsten 20 Jahre deckeln wird. Darüber hinaus hat er auf der Ebene des Arbeitsrechts eine Gegen-Reform durchgeführt, mit der historische, von der Arbeiterbewegung seit den 1930er Jahren erkämpfte Rechte wieder eliminiert werden. Dass er diese Reformen im Kongress durchbringen konnte, erklärt, weshalb die Regierung mit den weltweit geringsten Zustimmungswerten (sie kommt auf lediglich drei Prozent!) es schafft, sich an der Macht zu halten. Temer fungiert als Instrument der parasitären Bourgeoisie, um für sie die Drecksarbeit zu machen und dann wieder fallen gelassen zu werden.

Auf der anderen Seite kommt der Präsident, der in Korruptionsskandale verwickelt ist und es mit einer starken Mobilisierung gegen ihn sowie mit einer permanenten Krise zu tun hat, nicht auf genügend Stimmen, die er für eines seiner wichtigsten Vorhaben bräuchte: die Rentenreform. Wenn er es dieses Jahr nicht mehr umgesetzt bekommt, dann wird es ihm 2018, dem Wahljahr, nahezu unmöglich sein, das Projekt noch zu verwirklichen.

Ohne diese weitere Gegen-Reform wird die von ihm durchgesetzte Verfassungsreform, mit der die Ausgaben der öffentlichen Hand eingefroren worden sind, im Großen und Ganzen unrentabel bleiben. Möglich wäre sogar, dass die Arbeiterbewegung zum Gegenschlag ausholt und die brutale Attacke wieder rückgängig macht.

In Argentinien hat Macri Zollerhöhungen und Ausgabenkürzungen durchgesetzt sowie die Rechte beschnitten. Dabei musste er allerdings mit wesentlich langsamerer Gangart als eigentlich geplant vorgehen. Der Grund dafür waren Massenmobilisierungen und der Widerstand aus der Bevölkerung. Nachdem sie bei den Parlamentswahlen vom Oktober einen wichtigen Erfolg einfahren konnte, wird die Regierung versuchen, eine neue Offensive zu beginnen – mit einem neuen Paket neoliberaler Gegen-Reformen, zu dem auch eine Attacke auf RentnerInnen und eine Gegen-Reform des Arbeitsrechts gehören wird. Trotz der Rolle, die die Gewerkschaftsbürokratie gespielt hat, die wie ein Bremsklotz wirkte, gibt es bereits Initiativen für den Widerstand. Der Konflikt ist unumgänglich.

Die Regierung Bachelet in Chile war nicht in der Lage, größere Angriffe auf die Arbeiterklasse zu fahren, und musste eine Sprache annehmen, mit der sie versucht hat, die Stimmung der Straße zu reproduzieren. Das galt vor allem für die Bereiche Bildung und bezüglich des Rentensystems. Auf beiden Feldern sind in der vergangenen Periode Massenmobilisierungen der ArbeiterInnen und jungen Leute provoziert worden. Und dennoch bleibt die Bachelet-Regierung einer neoliberalen Logik verhaftet und ist auf keine der Forderungen der Bewegung eingegangen, die zu den o.g. Themen gemacht worden sind. Auf diese Weise hat sie einen Großteil ihrer Unterstützung eingebüßt.

Trotz des Widerstands der Arbeiterklasse, den es in Mexiko zu beobachten gab, hat die dortige Regierung Nieto mit ihrer Privatisierungspolitik weitergemacht und diese auf Energie- und Ölunternehmen ausgeweitet. Hinzu kamen Attacken auf den Bereich der öffentlichen Bildung.

Die historisch am stärksten gebeutelten Bevölkerungsteile sind von der Krise und den Attacken gegen die Arbeiterklasse am schwersten getroffen. Das gilt vor allen anderen gerade für die Frauen. In allen Fällen, in denen Angriffe auf die Rechte stattgefunden haben, gab es bedeutende Mobilisierungen von Frauen. Das gilt zum Beispiel für die „Ni una menos“-Kampagne in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Der Kampf gegen Frauenmorde hat Massenmobilisierungen zur Folge gehabt. Selbiges gilt für den Kampf für das Recht auf Abtreibung und gegen den Roll-back der Rechte, die die Frauen bereits errungen haben.

In Bezug auf die ökonomische Krise und die Ungleichheit umfasst die Situation in zunehmendem Maße Elemente von sozialer Barbarei. Obwohl der Kontinent nur acht Prozent der Weltbevölkerung stellt, finden in Lateinamerika 33 Prozent der Morddelikte statt. 14 der 20 Kommunen mit den weltweit meisten Morden liegen in dieser Region.

Einen weiteren prägenden Aspekt in dieser Situation bilden die Folgen des landwirtschaftlichen Export-Modells, das auf Raubbau basiert und mit dem die Umwelt ausgebeutet wird sowie den indigenen Gemeinden enorme Lasten auferlegt werden. In den meisten Ländern ist es auf diesem Gebiet zu Angriffen gekommen. Die Vernichtung indigener Völker, Vorstöße des Kapitals in ihre Territorien und die Zerstörung der Umwelt sind allesamt Folgen der grundlegenden Natur des Kapitalismus in Lateinamerika

In Brasilien hat die Regierung Temer ein Dekret verabschiedet, mit dem ein Naturreservat (RENCA) vernichtet wird, das im Amazonasgebiet liegt und eine Fläche von 47.000 Quadratkilometern umfasst. Geschehen ist dies, um Bergbauunternehmen entgegen zu kommen. Wegen der enormen Reaktionen, die ihr Schritt nach sich gezogen hat, sah sich die Regierung gezwungen, das Dekret wieder zurück zu nehmen. Das Problem besteht jedoch weiterhin. 2016 hat die Abholzung am Amazonas um 30 Prozent zugenommen. Beinahe 8.000 Quadratkilometer sind vernichtet worden.

Auch Regierungen, die als „progressiv“ beschrieben worden sind, haben sich bei ihren Wirtschaftsmodellen ebenfalls für das neo-extraktivistische Raubbau-Konzept entschieden. So war es die brasilianische Regierung unter der „Arbeitspartei“ PT, die die Fabriken „Belo Monte“, „Santo Antonio“ und „Jirau“ inmitten des Amazonasgebiets gebaut hat. Der Umwelt, den indigenen Völkern und Arbeitnehmerrechten ist damit massiver Schaden zugefügt worden.

Das heftigste derartige Beispiel ist mit dem „Arco Minero del Orinoco“ in Venezuela zu beobachten. Es geht dabei um ein Gebiet von 112.000 Quadratkilometern Größe, das im Endeffekt 150 multinationalen Konzernen aus 35 Ländern ausgehändigt worden ist, um dort in den nächsten 40 Jahren hunderttausende von Bodenschätzen auszubeuten. Mit dieser Politik hat Maduro nicht nur der Umwelt und der nationalen venezolanischen Souveränität einen Bärendienst erwiesen sondern auch den sozialen Rechten in einem sehr großen Teil des Landes.

Wahlen und Bewegungen auf der Straße

In Lateinamerika sind in diesem Jahr hunderttausende von Beschäftigten, jungen Leuten, Frauen und Angehörige indigener Völker auf die Straße gegangen, in Streik getreten, an Besetzungen und allen möglichen Formen von Kämpfen beteiligt gewesen, um ihre Rechte zu verteidigen. Das alles geschah entgegen der Drohkulisse, die von neuen wie alten Regierungen aufgebaut worden ist. In vielen Fällen haben diese Ereignisse trotz aller aufgebrachter Macht nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt. Manche dieser Niederlagen widerspiegeln die Tatsache, dass die alte Führung der Bewegung darauf besteht, die Priorität auf die parlamentarische und die Wahl-Ebene zu legen. Sie stellt die Politik der Versöhnung über den direkten Kampf.

Zwischen 2018 und 2019 wird es in 14 von 21 Ländern Lateinamerikas zu Präsidentschaftswahlen kommen. Für die weitere Entwicklung auf dem gesamten Kontinent mit am wichtigsten dürften folgende Wahlen und Länder sein: Chile noch in diesem Jahr, Brasilien, Venezuela, Mexiko und Kolumbien in 2018 und Argentinien im Jahr 2019.

In Ländern wie Brasilien und Argentinien sind der Lulaismus bzw. der Kirchnerismus nach über einem Jahrzehnt entmachtet worden. Beide Ansätze haben all ihre Bemühungen rein auf der parlamentarischen Ebene vollzogen. In beiden Ländern ist es zu einer Zunahme an Massen-Kämpfen gekommen, die sich der Kontrolle dieser alten Führungsfiguren entzogen haben und zu Problemen führen könnten, wenn es darum geht, dass ihre Wiedergänger an die Macht und zu neuer Stabilität zurückkehren wollen.

In Argentinien hat der Erfolg der Verbündeten von Macri bei den Regionalwahlen im Oktober das Scheitern dieses Ansatzes offenbart. Dieser Sieg für Macri wird für eine neue Welle von Attacken gegen die Arbeiterklasse genutzt werden. Obwohl sie als Senatorin für Buenos Aires gewählt worden ist, hat Christina Kirchner weniger Stimmen erhalten als der Kandidat von Macri. Nicht nur der Erfolg von Bullrich, so sein Name, wird Folgen für die Präsidentschaftswahlen haben, die 2019 dort anstehen.

Bei den Wahlen vom Oktober kam die FIT („Front der Linken und ArbeiterInnen“) auf ein bedeutendes Ergebnis. Das gilt vor allem, wenn man an die auf den Gegensatz zwischen Kirchnerismus und Macri fokussierte Polarisierung der Lage denkt. 1,5 Millionen Menschen haben für die Linke gestimmt. Insgesamt hat sie nun 40 Abgeordnete auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Regionen. Nicht was die absolute Größe angeht aber gemessen am Vergleich zum Abschneiden bei den letzten Wahlen macht dieses Ergebnis die FIT ganz klar zu einem Faktor in der politischen Landschaft Argentiniens.

Dabei agiert die FIT eher als Wahlbündnis mit begrenzter Präsenz bei den täglichen Kämpfer der Beschäftigten.

Chile

In der zweiten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen, die am 17. Dezember stattfinden, wird Sebastián Piñera von der Rechten gegen Alejandro Guillier antreten, den Kandidaten, der von der bisherigen Regierung unterstützt wird. Piñera gewann in der ersten Runde mehr Stimmen und könnte wieder an die Macht kommen. Dann hätten wir es mit einem weiteren Fall zu tun, in dem eine angeblich „progressive“ Regierung (gemeint ist Bachelets Koalitionsbündnis der „Neuen Mehrheit“, dem auch die KP angehört), die eine rechtslastige Politik betrieben hat, den Boden für die traditionelle Rechte bereitet und sie zurück ins Amt bringt.

Allerdings macht das Ergebnis der ersten Runde, entgegen aller Vorhersagen aus den Umfragen und trotz des Diskurses in den dominierenden bürgerlichen Medien, klar, wie viel Raum doch für eine linke Alternative vorhanden ist – sowohl gegenüber der „Neuen Mehrheit“ als auch hinsichtlich der herkömmlichen Rechten. Die „Breite Front“ unter der Führung des Präsidentschaftskandidaten Beatriz Sanchez, kam auf überraschende 20 Prozent der Stimmen (in absoluten Zahlen waren das 1,3 Millionen). Damit lag sie nur zwei Prozent hinter Alejandro Guiller und wurde somit zur drittstärksten politischen Kraft im Land. Piñera, von dem viele dachten, er würde die Wahl schon in der ersten Runde gewinnen, erhielt viel weniger Stimme als erwartet: 36 Prozent gegenüber 22 Prozent für Guiller. Was das angeht, geht Piñera wesentlich geschwächter in die zweite Runde als angenommen.

Nach der ersten Runde drehte sich die Debatte weniger um die Feststellung, dass „einfach“ ein Rechtsruck stattgefunden hat (was angesichts des Aufstiegs von Piñera und den fast acht Prozent der Stimmen, die auf den Rechtsextremen Kast entfallen sind, keine Überraschung gewesen wäre). Vielmehr ging es darum, dass das politische System hinterfragt worden ist. Das zeigt sich an den Stimmen, die die „Breite Front“ bekam, aber auch daran, dass sich derart viele der Stimme enthalten haben. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 49 Prozent.

Jetzt besteht die große Herausforderung darin zu kämpfen, um den Raum einzunehmen, der auf der Linken frei geworden ist. Das muss mit aller Konsequenz geschehen. Bei der „Breiten Front“ handelt es sich um ein Parteienbündnis, dem auch heterogene linke Strukturen angehören. Darunter befinden sich moderate ReformistInnen, Unabhängige und eher sozialistische Linke. Bei den internen Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl machte bei der „Breiten Front“ die moderate Kandidatin Beatriz Sanchez vor dem linken Kandidaten Alberto Mayol das Rennen. Hinsichtlich der zweiten Runde ist unsere Position, dass die „Frente Amplio“ („Breite Front“) als echte Opposition auftreten muss und nicht in eine Regierung eintreten oder sich an einer Diskussion über ein etwaiges Regierungsprogramm beteiligen darf. Wir rufen dazu auf, gegen Piñera, den rechten Milliardär, zu stimmen. Gleichzeitig dürfen wir nicht einfach zur Wahl Guilliers aufrufen, da er für die Fortsetzung des bisherigen neoliberalen Regierungskurses steht. Er lehnt es ab, die Forderungen der breiten Masse der Bevölkerung zu akzeptieren: Stopp des privaten Rentensystems (AFP), Aufhebung der Studiengebühren, der CAEs (staatlich garantierte Bankkredite) und Beendigung der Privatisierungen im Gesundheitsbereich sowie der durch Missbrauch gekennzeichneten privaten Gesundheitseinrichtungen namens ISAPRES.

In jedem Fall haben wir es bei der „Breiten Front“ mit einer direkten Folge der zunehmenden Kämpfe der jungen Leute und Beschäftigten in Chile zu tun, die sie in den letzten Jahren gegen das bestehende Bildungssystem und das Rentensystem ausgefochten haben, bei denen es sich um das Erbe der Pinochet-Zeit handelt. Unsere GenossInnen haben nicht nur aktiv an den Debatten rund um die „Breite Front“ teilgenommen, sie waren auch ProtagonistInnen bei den Kämpfen gegen das AFP und haben stets ein Programm verteidigt, das auf der Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und auf dem Sozialismus basiert. Zusammen mit den anderen Organisationen der Linken innerhalb der „Breiten Front“ (z.B. mit unseren GenossInnen von der linkssozialistischen „Movimiento Socialista Allendista“) haben wir an der „Demokratischen Volksbewegung“ MDP teilgenommen und innerhalb der „Breiten Front“ am Aufbau einer neuen linken Partei gearbeitet.

2018 wird es in Kolumbien zu den ersten Wahlen nach dem Abkommen zwischen Regierung und der FARC kommen. Letztere ist nun eine rechtlich anerkannte Partei und wurde in „Alternative Revolutionäre Kraft für das Gemeinwesen“ (FARC) umbenannt. Die Wahlen werden im März 2018, die erste Runde der Präsidentschaftswahlen wird im Mai desselben Jahres stattfinden. Die neue FARC wird voraussichtlich ihren Anführer Timoschenko (eigentlich: Timoleón Jiménez) als Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken.

Trotzdem zeichnet sich bereits die erste Krise bei der Umsetzung der Friedensvereinbarungen ab. Trotz der erklärten Amnestie befinden sich immer noch über 1.000 ehemalige KämpferInnen im Gefängnis. Viele weitere sind Opfer von Übergriffen oder Vergeltungsakten geworden. Allein in diesem Jahr werden 130 führende Köpfe der sozialen Bewegung als ermordet gelistet.

Brasilien – Risiken, Unsicherheiten und Möglichkeiten in 2018

In Brasilien sind die lulaistische Führung des größten Gewerkschaftsbunds, des CUT, und vieler anderer sozialer Bewegungen (z.B. der bundesweiten Studierenden-Gewerkschaft oder der Bewegung der obdachlosen LandarbeiterInnen) an ihrer alten Position haften geblieben oder haben gar vor dem von der PT als prioritär erachteten Programm kapituliert, das da lautet: Wiederwahl von Lula bei den Wahlen 2018. Im Namen dieses Projekts hat Lula den Kampf zum Sturz von Temer herunter gefahren und einen Prozess der Wiederannäherung mit Teilen der PMDB (von Temer; Erg. d. Übers.) und anderer traditioneller Parteien initiiert.

Wie die Wahlen in Brasilien im Jahr 2018 ausgehen werden, ist noch völlig offen. Die politische Krise, die noch angeheizt worden ist durch Ermittlungen wegen Korruption, ist die größte in der Geschichte des Landes und lässt die Situation äußerst volatil erscheinen.

Aktuell würde Lula laut Wahlumfragen gegen alle möglichen KontrahentInnen eine starke Mehrheit sicher sein (rund 35 Prozent in der ersten Wahlrunde). Angesichts des massiven öffentlichen Widerstands gegen Temer scheint Lula für viele die einzige Antwort auf die zu sein, die momentan an der Macht sind. Dies steht im Zusammenhang damit, dass viele abhängig Beschäftigte sich nach den Niederlagen der Kämpfe, die in diesem Jahr stattgefunden haben, frustriert fühlen.

Auf Platz zwei in den Umfragen rangiert mit beinahe 13 Prozent Jair Bolsonaro, ein rechtsextremer Populist, Reservist der Armee und Fürsprecher der Diktatur sowie reaktionärer Positionen in Bezug auf die Menschenrechte. Er ist ein Anti-Feminist, homophob usw. Groß werden konnte er aufgrund des Vakuums, das die allgemeine Unzufriedenheit geschaffen hat. Dies gilt vor allem für die eher konservative Mittelschicht und vor dem Hintergrund traditioneller Politikansätze. Dort sind Menschen auf der Suche nach einer deftigen Antwort auf das bestehende Chaos, die Korruption und das, was er selbst als „Gefahr des Kommunismus“ beschreibt!

Die traditionelle Rechte (vor allem die PSDB) ist tief gespalten und keineR ihrer KandidatInnen hat zur Zeit gute Aussichten gewählt zu werden. Selbst der „neue“ João Doria, neuer Bürgermeister von São Paulo und Geschäftsmann, der gewählt worden ist, weil er als jemand betrachtet wurde, der außerhalb des politischen Systems steht, scheint ins Wanken zu geraten. Er befindet sich in Konflikt zu seinem Mentor, dem Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin. Es geht dabei um die Auseinandersetzung um die Nominierung für die Präsidentschaftskandidatur der PSDB. Die sinkenden Zustimmungsraten für Doria – als Bürgermeister und als möglicher Präsidentschaftskandidat – lassen seine Kandidatur immer unwahrscheinlicher werden. Doch der Streit darum wird noch anhalten.

Das Szenario einer zweiten Runde zwischen Lula und Bolsonaro versetzt Teile der Bourgeoisie in Schrecken. Lula geht nicht ganz zu Unrecht davon aus, dass ein beträchtlicher Teil der Bourgeoisie in dieser Gemengelage für ihn und gegen die Unsicherheit votieren würde, die ein extremes Abenteuer unter Bolsonaro bedeuten könnte.

Auch Bolsonaro strebt – trotz seines Festhaltens an einer antikommunistischen und proto-faschistischen Rhetorik – nach einer Übereinkunft mit ernstzunehmenderen Teilen der Großbourgeoisie, um sich selbst als den Kandidaten gegen Lula zu präsentieren, der für die herrschende Klasse kein Risiko darstellt. Er hat eine liberalere wirtschaftspolitische Haltung angenommen, die in Widerspruch dazu steht, dass er die Diktatur verteidigt, die 1964 installiert wurde. Die damaligen Generäle befürworteten bei weitem stärker staatliches Eingreifen und waren nationalistischer als ihre südamerikanischen Gegenstücke.

Trotz dieser Bemühungen ist es sehr unwahrscheinlich, dass die brasilianische Bourgeoisie sich um Bolsonaro vereinen wird. Wenn kein PSDB-Kandidat realisierbar wird, dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil der brasilianischen Bourgeoisie ihr Medienmonopol nutzt, um eine alternative und zuverlässigere Figur aufzubauen.

Sollten die ökonomischen Grunddaten nicht zu schlecht ausfallen, dann könnte die Wahl auf den Innenminister fallen. Henrique Meirelles ist einer, auf den sich die Elite einigen könnte und der sogar die Zustimmung einiger PolitikerInnen der PT bekommen mag. In der Zeit der Regierungen unter Lula war er Präsident der Zentralbank und Lulas Wunschkandidat für das Amt des Innenministers unter Dilma Rouseff.

Ein weiterer Name aus dem Bereich der Justiz ist der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs Brasiliens, Joaquim Barbosa. Auch er könnte eine Rolle spielen. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass noch einE KandidatIn aus dem Bereich der Fernsehunterhaltung dazu kommt; so z.B. der TV-Moderator Luciano Huck.

Nichtsdestotrotz ist die Kandidatur von Lula aufgrund des Schuldspruchs gefährdet, den er im Lava Jato-Korruptionsfall bereits hinnehmen musste. Eine Möglichkeit, die die Bourgeoisie sieht, ist, ihn wegen dieser Sache noch aus dem Rennen zu drängen. Gleichzeitig wissen Teile der herrschenden Klasse, dass eine solche willkürliche Maßnahme auch zu noch stärkerer Polarisierung und Radikalisierung führen kann.

Ohne Lula würde sich das Rennen um das Präsidentenamt radikal ändern. In einer solchen Situation wäre sogar für eine linke Alternative, die sich um die PSOL organisiert, möglich, zu wachsen und einen Teil des o.g. Vakuums auszufüllen.

Neuorganisation der brasilianischen Linken

Wenn es nicht zu einer Kandidatur von Lula kommt, dann steigen die Chancen auf eine Kandidatur von Guilherme Boulos von der MTST, der wichtigsten Führungsfigur der heutigen brasilianischen sozialen Bewegungen.

Boulos ist eine Person, die die Beziehung zur PSOL als prioritär betrachtet (bei den letzten Wahlen hat er die Partei unterstützt) und von der sozialen Basis von Lula und der PT dennoch weitgehend akzeptiert wird. Er ist den vergangenen Regierungen der PT und ihrer Politik der Klassen-Kollaboration sowie dem Festhalten am Neoliberalismus gegenüber kritisch eingestellt. Dennoch verbindet er diese Haltung mit einer ausdrücklichen Verteidigung der Aktionseinheit gegen Temer und seine Angriffe.

Das politische Projekt von Boulos und der MTST-Führung besteht darin, einen Prozess der Neu-Organisation der brasilianischen Linken zu unterstützen. Als Beispiel nimmt man sich PODEMOS in Spanien, mit der man enge Beziehungen unterhält. Ein möglicher Präsidentschaftswahlkampf würde Bestandteil dieses Prozesses sein. Aus diesem Grund würde PSOL sich entsprechend anschließen und ein breites Bündnis der Bewegungen zusammen mit AktivistInnen und linken Parteien aufbauen.

Es geht um ein Projekt, mit dem der Lulaismus und die PT von links überwunden werden sollen. Das würde aber auch bedeuten, dass man über die PSOL in ihrer aktuellen Konstellation hinaus geht. Wenn das dazu führt, dass die soziale Basis der PSOL ausgeweitet wird und man sich direkter in Verbindung zu den Kämpfen setzt, die stattfinden (z.B. die von der MTST initiierten), dann wäre das äußerst begrüßenswert. Es besteht allerdings weiter die Gefahr, dass dieser Prozess opportunistische Teile der PT anzieht und die PSOL unter Druck setzt, moderatere Positionen zu übernehmen. Das wäre eine Kapitulation vor dem Lulaismus.

Boulos meint, dass es keinen Sinn macht, eine eigene Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen anzustreben, wenn Lula antritt. Damit würden alle Stimmen, die Temer gegenüber kritisch sind, kanalisiert, weil das Prinzip des „kleineren Übels“ zöge. Unter diesen Voraussetzungen würde er nicht antreten und könnte in der ersten Runde die/den KandidatIn der PSOL unterstützen. Wenn es zu einer zweiten Wahlrunde kommt, dann wird der Druck drastisch steigen, eine kritische Stimme für Lula abzugeben.

Die PT und Lula versuchen auch, die MTSTS und Boulos zu beeinflussen. Damit wollen sie ihre in Verruf geratene Partei „renovieren“, die sich von der alten sozialen Basis der Partei distanziert hat. Lula und die PT gründen sich allerdings weiterhin auf on top-Vereinbarungen, weil sie regieren wollen und den Kapitalismus besser zu managen meinen als die traditionellen Parteien. Daraus, dass sie die Macht wieder aus den Händen verloren hat, hat die PT nichts gelernt. Abgesehen von ihrer etwas kämpferischeren Wortwahl, die sie als Oppositionspartei nun an den Tag legt, steht sie immer noch für dieselbe Art von Politik, die sie an der Regierung verfolgt hat.

Die Tatsache, dass Boulos sich näher an Lula positioniert hat, als einige erwartet hätten, hat Teile der Linken (innerhalb und außerhalb der PSOL) zur Vereinfachung gebracht, er sei nur Teil des Projekts von Lula. Diese Teile der Linken haben eine ultra-linke Position angenommen und gehen davon aus, dass die PSOL mit Boulos zusammengeht, was eine Gefahr für die Partei sei und zur Selbst-Auflösung zugunsten des Lulaismus führen wird. Dieses Risiko und die Gefahr der Kapitulation vor dem Lulaismus hat für den Großteil der PSOL immer bestanden und wird weiterhin bestehen. Die beste Haltung in diesem Prozess besteht jedoch darin, innerhalb des heute dynamischsten Teils der Massenbewegung in Brasilien die Einheit der PSOL zu verteidigen und gleichzeitig für ein sozialistisches Programm und eine ebensolche Strategie für diesen Prozess der Re-Organisation zu kämpfen.

Die „Povo Sem Medo“-Front, eine Kampfstruktur unter der Führung der Landlosenbewegung MTST, hat im ganzen Land eine Reihe programmatischer Debatten mit Versammlungen und Podiumsdiskussionen organisiert, die auch im Internet übertragen worden ist. Mehr als 200.000 Menschen haben online daran teilgenommen. Obwohl sie von ihrer Grundstruktur eine heterogen zusammengesetzte Bewegung ist (an den Debatten sind die PSOL, Unabhängige und sogar die PT beteiligt, auch wenn sie nicht viel Gewicht hatte), zielen die Ergebnisse dieses Prozesses in die Richtung eines Programms, das die wesentlichen Forderungen der sozialen Bewegungen und eine allgemeine Verteidigungshaltung gegenüber radikalen Reformen miteinander vereint. Der Fokus liegt dabei auf dem Klassenkampf als Mittel, mit dem diese Ziele erreicht werden sollen.

Ob Boulos kandidieren wird, muss spätestens bis März 2018 geklärt sein. Die Bundeskonferenz der PSOL wird im Dezember stattfinden, und die Mehrheit wird voraussichtlich dafür votieren, die Entscheidung auf in drei Monaten zu verschieben. LSR tritt dafür ein, dass die Partei ihr Wahlprogramm demokratisch auf der Bundeskonferenz beschließt (diesem Vorschlag werden jedoch verschiedene Formalia entgegengehalten). Wir unterstützen zwar die Fortsetzung der Debatte mit Boulos, vertreten aber den Standpunkt, dass die Partei sich für eineN alternativeN KandidatIn entscheiden sollte, falls Boulos nicht antritt. Wir sind dagegen, dass die Entscheidung ohne weitere Diskussion von einer kleinen Führungsriege gefällt wird.

Venezuela – Polarisierung hält an

In Venezuela hat der Wahlsieg von Chávez einen tiefgreifenden revolutionären Prozess eingeläutet. Zwei Jahrzehnte später ist mit dem Kapitalismus immer noch nicht gebrochen worden. Die kapitalistische Wirtschaft ist ebenso noch intakt wie der kapitalistische Staat. Einhergegangen ist dies mit der Entwicklung einer Bürokratie, die zwar den sozialistischen Diskurs nutzt, sich aber in zunehmendem Maße von den Massen entfernt. Diese Bürokratie häuft Privilegien an und teilt ihre Interessen mit Teilen der Bourgeoisie.

Unter Maduro hat dieser Prozess einen qualitativen Sprung hingelegt. Die Regierung spricht immer noch von Sozialismus, versucht aber im Bündnis mit den imperialistischen Mächten Russland und China den Kapitalismus zu managen. Als Teil dieser Zielvorgabe hält die venezolanische Regierung an Abkommen mit Teilen der Bourgeoisie fest. Im Zusammenhang mit sinkenden Erdöleinnahmen bedeutet dies, dass Maßnahmen zum Einsatz kommen, mit denen soziale Errungenschaften wieder gestrichen werden. Die Preise steigen, in staatlichen Betrieben oder beim Bergbauprojekt „Arco Minero del Orinoco“ werden tausende von Arbeitsplätzen abgebaut. Die Folge ist, dass die Unterstützung für die PSUV zurückgeht und die Rechte die Möglichkeit bekommt wieder an Boden gut zu machen. Letztere hat die Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung von 2015 für sich entscheiden können und war in der Lage, im September/Oktober 2016 und im April/Juni 2017 die Massen mobilisieren zu können.

Ziel dieser letzten Offensive, bei der über 100 Menschen ums Leben gekommen sind, war es, einen Staatsstreich zu forcieren und die Macht zu übernehmen. Maduro und die Bürokratie reagierten darauf nicht mit der Mobilisierung der Massen sondern mit bonapartistischen Maßnahmen. Sowohl auf politischer wie auch auf ökonomischer Ebene wird der Militärführung immer mehr Macht zugestanden. Was die Bewegung angeht, so fördert man Parallelstrukturen, die man mit dem eigenen Klientel besetzt und von denen man erwartet, dass sie soziale Unruhen verhindern werden sowie die bürokratische Kontrolle wahrnehmen.

Die Einberufung der „Verfassunggebenden Nationalversammlung“ (ANC) war Bestandteil dieser Strategie. Damit sollte die Blockade der MUD, die das Bündnis auf gesetzgebender Ebene aufrecht erhielt, gebrochen und ferner eine neue demokratisch gewählte Körperschaft legitimiert werden. Selbstverständlich sollte die ANC streng unter der Kontrolle der Bürokratie stehen. Die Massen reagierten zunächst unterkühlt auf dieses Vorgehen. Alles änderte sich dann mit den Aktionen der faschistischen Banden, die mehrere AktivistInnen lynchten und verbrannten. Hinzu kamen die Drohgebärden seitens des US-Imperialismus und der Wahlboykott des MUD. All dies brachte Millionen von Menschen dazu, energisch in die Bewegung mit einzusteigen. Darunter waren sogar Bevölkerungsteile, die schon in Apathie versunken schienen. Ein sehr großer Teil unterstützte dann KandidatInnen, bei denen es sich um „kritische ChavistInnen“ handelten. Nur der Druck der Bürokratie (in manchen Fällen gar die Wahlmanipulation) und interne Spannungen unter diesen regimekritisch eingestellten Kandidaturen verhinderten, dass mehrere von ihnen Erfolge einfahren konnten.

Dass dem konterrevolutionären Plan, mit dem die Macht errungen werden sollte, eine Niederlage beigebracht worden ist, hat eine neue Phase im Klassenkampf eröffnet. Der MUD ist gespalten und befindet sich in der Krise. In seinen traditionellen Hochburgen hat das Bündnis vermehrt Stimmenthaltungen hinnehmen müssen und im Oktober die Hausmacht auf regionaler Ebene eingebüßt. Bei den Kommunalwahlen im Dezember könnte sich diese Erfahrung wiederholen. Interessanter Weise ging der Wahlsieg der PSUV (die damit 18 von 23 GouverneurInnen stellt) ebenfalls einher mit zunehmenden Unannehmlichkeiten und internen Widersprüchen. Zwischen einzelnen Teilen der Bürokratie kam es zu gegenseitigen Korruptionsvorwürfen, und erneut gewannen kritische Kandidaturen an Unterstützung. Bezeichnend war die Situation in der Hauptstadt Caracas, wo der ehemalige Minister Eduardo Saman in den Umfragen massive Unterstützung bekommen hatte. Verglichen mit dem von der PSUV unterstützten Kandidaten hatten die Menschen an der Basis ihn als wesentlich weiter links stehend angesehen und als kritisch gegenüber der Bürokratie.

Obwohl die Rechte heute nur sehr wenige Kapazitäten für Mobilisierungen und eine Wahlunterstützung hat, schafft das anhaltende ökonomische Desaster die Bedingungen, die sie braucht, um das Heft wieder in die Hand nehmen zu können. Aus demselben Grund werden Teile der chavistischen Basis und Schichten der Arbeiterklasse dazu getrieben, sich weiter nach einer Alternative umzusehen. Das geschieht trotz der enormen Schwierigkeiten, der sich politische AktivistInnen gegenübersehen und die mit der Wirtschaftskrise zu erklären sind. Hinzu kommen noch die Manöver der Bürokratie und deren Repressalien und Nötigungsversuche. Die Aufgabe für MarxistInnen besteht darin, in diese Bewegung hinein zu arbeiten und mit einem revolutionären Programm, das die ArbeiterInnen und die Armen zusammenbringt und mobilisiert, eine Einheitsfront der kritischen Linken des Chavismus zu verteidigen. So kann der konterrevolutionären Bedrohung durch den MUD Einhalt geboten werden und der Kampf gegen die Bürokratie kann damit organisiert werden, damit schließlich die gesamte politische und ökonomische Macht auf die Beschäftigten übergeht. Damit wäre die Richtung vorgegeben für die sozialistische Transformation Venezuelas und ganz Lateinamerikas.

Mexiko

Was die Frage „progressiver“ Regierungen bzw. von Mitte-Links-Regierungen angeht, die von rechten Koalitionen ersetzt werden, bewegt Mexiko sich möglicherweise in die entgegengesetzte Richtung. Die neoliberale Regierung Nieto von der PRI hat nur wenig Unterstützung und es herrscht allgemeine Unzufriedenheit. Auf der anderen Seite ist „MORENA“, die Partei von Andres Manoel Lopes Obrador (kurz: AMLO) stark geworden. Es besteht dort die reale Möglichkeit, dass er die Wahlen 2018 für sich entscheidet.

Bei den Kommunalwahlen vom Juni hatte sich gezeigt, dass die Stimmung in Richtung Wandel geht, obwohl die vorhandenen linken Alternativen sehr begrenzt sind und das politische System Mexikos strukturell von Betrügereien gekennzeichnet ist. Im Vergleich zum letzten Urnengang hat die PRI im Bundesstaat Mexiko fast die Hälfte ihrer WählerInnen verloren. Den rechten Alternativen wie der PAN oder gar der PRD, die sich in vielen Regionen mit der Rechten zusammengetan hat, ist es kaum besser ergangen. In der Hauptstadt-Region ist „MORENA“ zur stärksten Kraft geworden und geht gestärkt in die Wahlen von 2018.

Je mehr die Siegchancen von AMLO zunehmen, desto entwickelten er und „MORENA“ sich hinsichtlich der öffentlich geäußerten Positionen nach rechts. AMLO macht die Entwicklung von Lula durch, die letzterer in seinem Wahlkampf von 2002 vollzogen hat. Um die Märkte, Investoren und die herrschende Klasse zu beruhigen versprach er, keine „Brüche“ vollziehen zu wollen. AMLO und „MORENA“ sind auch entfernt von den Kämpfen der Massen wie z.B. im Falle der Bewegung der Beschäftigten im Bildungssektor.

Dieser von AMLO angenommene „Moderator-Ansatz“ wird noch nicht einmal die Garantie mit sich bringen, dass er nicht auch zum Opfer von Wahlbetrug wird. Nur der Kampf der Massen und eine Kandidatur gegen die Hegemonie der PRI und den Neoliberalismus der PAN kann eine Kraft schaffen, die sich effektiv gegen Wahlbetrügereien zur Wehr setzen kann.

Auch die „Zapatistas“ (EZLN) und der „Nationale Indigene Kongress“ (CNI) haben ihre im Zuge ihrer letzten Konferenz getroffene Vereinbarung umgesetzt, eine weibliche Kandidatin ins Rennen zu schicken. Sie haben sich für María de Jesús Patricio Martínez entschieden, die auch als Marichuy bekannt ist. Es handelt sich hierbei eher um eine „Anti-Kandidatur“, mit der auf die derzeitige Lage und den Zustand der „Etablierten“ hingewiesen werden soll. Auch wenn sie keine großen Auswirkungen haben wird, so wird der Wahlkampf der EZLN möglicherweise doch eine Schicht von jungen Leuten ansprechen, denen die Rechtsentwicklung von AMLO zu weit geht.

Die Lage drängt

Die Schwächung und das Zurückdrängen „progressiver“ politischer Kräfte in Lateinamerika bietet Raum für ein Wiedererstarken der traditionellen Rechten. Obwohl sie nicht in der Lage ist, den großen Herausforderungen ins Auge zu sehen, mit denen die Völker Lateinamerikas konfrontiert sind, und trotz der Tatsache, dass sie die Rechte nicht von der Macht vertreiben kann, gelangen einige alte Empfehlungen der traditionellen Linken angesichts des Scheiterns neuer rechter Regierungen wieder zu neuer Blüte.

Sollte es dazu kommen, wäre im Falle Brasiliens eine mögliche neue Regierung Lula außerstande, den Forderungen der Bevölkerung zu entsprechen und würde im Land schnell für eine extreme Polarisierung und Instabilität sorgen. Wenn in diesem Kontext keine neue sozialistische Linke mit Massencharakter aufgebaut wird, dann kann ein Großteil der Unzufriedenheit von neuen rechten oder rechtsextremen Kräften ausgenutzt werden.

Wir haben nicht viel Zeit, um uns auf dieses Szenario vorzubereiten und ein solides Fundament für die Kräfte des revolutionären Sozialismus in Lateinamerika zu schaffen. Für unsere revolutionäre Arbeit müssen wir unseren GenossInnen die Dringlichkeit der Situation bewusst machen.

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