Interview mit Ismail Okay von Sosyalist Alternatif
Wie bewertest Du das Wahlergebnis für Erdogan und sein Bündnis mit der MHP?
Mit dem Referendum im letzten Jahr wurde in der Türkei ein präsidiales System beschlossen, das aber erst nach der nächsten Wahl eingeführt werden sollte. Das war ein Grund für die vorgezogenen Wahlen. Ein noch wichtigerer Grund war die alarmierende Situation der Wirtschaft. Auf dem Papier gibt es zwar einen wirtschaftlichen Aufschwung, aber das sieht im realen Leben der Massen anders aus. Erdogan sah eine mögliche ökonomische Krise als Hauptgefahr für seinen Machterhalt. Mit diesem Wahlsieg ist das Erdogan-Regime erst einmal gefestigt. Auf der anderen Seite konnten die AKP und Erdogan nur durch das Bündnis mit der nationalistischen Partei MHP diesen Wahlsieg erreichen. Das wird sicher Folgen haben. Die MHP wird die AKP unter Druck setzen, zum Beispiel für eine Amnestie der im Gefängnis sitzenden Mafia-Bosse oder auch im Hinblick auf ein noch härteres Vorgehen gegen die KurdInnen.
Wird die Türkei jetzt eine Ein-Mann-Diktatur und wird Erdogan ein starker Präsident sein?
Die Türkei ist seit langem de facto eine Ein-Mann-Diktatur. Diese hat jetzt eine „Legitimation“ und strukturelle Konsolidierung erreicht. So gesehen ist Erdogan durchaus gestärkt und werden die Zeiten für die Linke und andere oppositionelle Kräfte noch schwieriger.
Das bedeutet aber nicht, dass der Faschismus in der Türkei gesiegt hat und alles hoffnungslos ist. Es gibt immer noch funktionierende Gewerkschaften, linke Parteien und Organisationen, auf die in der kommenden Periode viele wichtige Aufgaben zukommen. Eine wichtigste davon ist es, eine starke, unabhängige politische Kraft der Arbeiterklasse aufzubauen.
Die objektive Lage wird sich in der kommenden Periode zu Gunsten der Linken entwickeln. Die Wirtschaft entwickelt sich in Richtung einer Krise. Die Folgen dieser Krise werden die Arbeiterklasse und arme Menschen, die teilweise noch Illusionen in das Regime haben, stark erschüttern.
Wie ist das Ergebnis der HDP einzuordnen?
Die HDP war die einzige Partei, die an keinem Wahlbündnis beteiligt war. Die zehn-Prozent-Wahlhürde galt nur für sie. Wäre sie daran gescheitert, wären alle ihre Sitze auf die AKP übergegangen, was sie zur stärksten Kraft aller Zeiten im Parlament gemacht hätte.
Die HDP ist jetzt die dritte Kraft im Parlament. Aber wichtiger ist: sie hat viele VertreterInnen anderer linker Kräfte auf ihre Liste genommen und ist somit ein faktisches linkes Bündnis geworden. Das ist von enormer Bedeutung für den Aufbau einer starken linken Kraft, die die kurdische und türkische Arbeiterklasse und Armen zusammen bringen kann.
Außerdem ist die HDP seit drei Jahren einer enormen Repressionen ausgesetzt. Für viele gilt sie als der legale Arm der PKK. Trotzt diese Umstände konnte sie bei den Wahlen zulegen. Das ist von sehr großer Bedeutung.
Die HDP hatte in Kurdistan gewisse Verluste. Möglicherweise wurde sie aufgrund ihrer Linksentwicklung von manchen eher konservativen und nationalistischen Kräften unter den KurdInnen deshalb nicht gewählt. Aber der eigentliche Hauptgrund ist wahrscheinlich die militärische Besatzung unter die Wahl in den kurdischen gebieten stattfinden musste und damit einhergehende Wahlfälschungen.
Im Westen der Türkei hat die HDP aber zugelegt. Sicher gab es taktische Stimmen von Kemalisten. Aber selbst das bedeutet viel. Vor allem zeigt es, dass die türkische Arbeiterklasse ihre Berührungsangst mit einer Partei, die mit der PKK bzw. mit Terror gleich gestellt wird, überwinden kann.
Was sind eure Forderungen und Vorschläge für die neue Situation?
Sosyalist Alternatif hat gleich nach der Ankündigung der vorgezogenen Wahlen für ein Bündnis von HDP und der linken Kräfte geworben. Das ist geschehen. Außerdem, haben wir in unseren Stellungnahmen immer wieder vor Illusionen in die bürgerlichen Oppositionsparteien gewarnt und betont, dass der schwierigste Kampf nach den Wahlen auf uns zukommen wird, egal wie sie ausgehen. Es ist wichtig, das linke Bündnis, das vor der Wahl entstanden ist, nach den Wahlen zu stärken und in eine echte sozialistische Kraft zu verwandeln, die einen Kampf gegen die Auswirkungen der kommenden Krise und das kapitalistische System führen kann.
Die Regierung wird sicher bald Maßnahmen zu Lasten der Arbeiterklasse beschließen. Die HDP und die linken Kräfte müssen in den kommenden Tagen einen Plan erstellen, wie man den Kampf im Parlament und außerhalb des Parlaments verbinden kann. Dafür wäre eine schnell einzuberufende Konferenz ein wichtiger Schritt.