Die Geschichte der Lira-Krise
Insbesondere in den bürgerlichen Medien wird die Lira-Krise als aktuelles Ergebnis eines Zweikampfes der Egomanen Erdogan und Trump wahrgenommen. Doch wie kam es zur Lira-Krise?
von Patrick Haas, Troisdorf
Die Inflation türkischer Währungen ist kein neues Phänomen. Zuletzt kam es 2001 zu einer Währungskrise, in welcher eine Inflationsrate von 69 Prozent erreicht wurde. Hintergrund waren die Auswirkungen der Liberalisierungspolitik in den 80er und 90er Jahren. Die türkischen Betriebe waren nicht konkurrenzfähig und wurden spätestens durch die Zollunion mit der Europäischen Union ein gefundenes Fressen für Investoren aus dem Ausland. Hinzu kam ein starkes Leistungsbilanzdefizit. Dies bedeutet vereinfacht ausgedrückt, dass mehr Güter in die Türkei importiert als exportiert wurden. Die Türkei hatte sich somit in einen Absatzmarkt europäischer Waren gewandelt, hatte aber nicht die Mittel um diese zu bezahlen. Die Türkische Zentralbank sah sich deshalb gezwungen, den Kurs der Lira freizugeben. Die Hoffnung war, hierdurch Exporte billiger zu machen und Importe zu verteuern und somit das Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Die internationale Bourgeoisie verlor allerdings das Vertrauen in das Krisenmanagement der damaligen türkischen Regierung und zog Kapitalanlagen aus der Türkei zurück. Für die Bevölkerung in der Türkei bedeutete dies unmittelbar einen massiven Kaufkraftverlust und die Abwertung der Ersparnisse. Zudem rief die türkische Wirtschafts- und Staatskrise den IWF auf den Plan, welcher durch ein sogenanntes ,,Strukturanpassungsprogramm“ weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse durchführte. Politisch führten diese Entwicklungen zum Aufkommen einer damals neuen Kraft, der AKP. Sie schaffte es in der Parlamentswahl 2002 auf ca. 34 Prozent der Stimmen und durch die Zehn-Prozent-Sperrklausel für konkurrierende Parteien auf beinahe zwei Drittel der Parlamentssitze.
Das Scheitern des Wirtschaftsmodells der AKP
Ideologisch konnte die AKP hierbei auch auf das Erbe der Anavatan Partisi aufbauen. Diese versuchte neoliberale Wirtschaftspolitik und eine konservative Interpretation des Islam in einer Synthese zu verbinden. Die Unterstützerschicht der Anavatan Partisi rekrutierte sich insbesondere aus dem Klein- und Mittelbürgertum, also jenen Kräften, welche auch einen Teil der Machtbasis der AKP stellen und sich im Unternehmerverband MÜSIAD organisiert.
Erdogan und die AKP sahen sich vor der Herausforderung, einerseits die strukturellen Probleme der türkischen Wirtschaft wie den ungleichen Entwicklungsstand, steigende Arbeitslosigkeit und Inflation zu lösen und gleichzeitig das vom IWF auferlegte ,,Strukturanpassungsprogramm“ zu erfüllen. Darüber hinaus musste dies auch den türkischen WählerInnen politisch vermittelt werden. Heraus kam eine Mischung aus Populismus und Pragmatismus. So galt es zunächst das verlorene Vertrauen der Investoren wiederzugewinnen. So erklären sich die liberalen Reformen und das anfängliche Zugehen auf KurdInnen und Armeniernen zu Beginn von Erdogans Amtszeit. Mit der Einführung der neuen türkischen Lira wurde 2005 die Inflation vorläufig gestoppt. Gleichzeitig wurden die Zinsen kontinuierlich gesenkt, um Infrastrukturprojekte anzustoßen und sowohl Einkommens- als auch Körperschaftsteuer gesenkt. Die Kapitalisten im In- und Ausland reagierten mit Investitionen, welche nun eine höhere Rendite als Geldanlagen versprachen. Dennoch reichten die Investitionen nicht, um die Ausgaben für die Großprojekte zu decken. Deshalb wurden zusätzlich Kredite aufgenommen. Dasselbe Spiel wie zu Beginn des Jahrtausends begann erneut. Es war abzusehen, dass die Kredite nicht zurückgezahlt werden konnten und deshalb wurden die Zinsen weiter gesenkt, in der Hoffnung auf diese Weise mehr Investitionen anzuregen und das immer stärkere Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Dies führte zu einer immer weitergehenden Inflation. Außerdem entstand ein Teufelskreis, da die Türkei auf Rohstoffimporte wie Öl angewiesen ist. Bekanntlich verteuern sich Importe durch Inflation der heimischen Währung. Dem wurde mit einer Ausweitung der Geldmenge begegnet, wodurch sich der Effekt aufschaukelte.
Perspektiven
Aktuell ist Erdogan auf seinem lange erfolgreichen Feld, der Wirtschaft, in der Krise. Doch obwohl das Versagen seiner Wirtschaftspolitik offenkundig ist, stehen sowohl MÜSIAD als auch TÜSIAD (der Verband der Großindustriellen) fest hinter ihm. Dies erklärt sich mit den engen Verbindungen als auch mit der Alternativlosigkeit, welche der Bonaparte Erdogan für die Bourgeoisie verkörpert. Darüber hinaus steht die zu erwartende Kapitalrendite der Infrastrukturprojekte noch aus. Es wäre unklug für die Investoren, diese einfach abzuschreiben. Ferner zeigte schon die Vergangenheit, dass die Bourgeoisie von der Währungsabwertung viel weniger betroffen ist. Die wirklich Reichen haben ihr Geld schon längst in Dollar, Euro und Franken umgetauscht und ins Ausland geschafft, während es vor allem die arbeitende Bevölkerung ist, welche die Zeche in Form von sinkenden Löhnen und Lebensstandard bezahlen darf. Deshalb nimmt, wie in allen Kämpfen, die Arbeiterklasse die Schlüsselposition ein. Rosa Luxemburg brachte mit der Formel ,,Eure Ordnung ist auf Sand gebaut“ die Instabilität der bürgerlichen Ökonomie auf den Punkt.
Um effektiv Gegenwehr zu organisieren, tritt Sosyalist Alternatif, die Schwesterorganisation der SAV in der Türkei, für eine vereinigte Front ein, die kurdische und türkische linke Organisationen miteinbezieht, ebenso wie kämpferische GewerkschafterInnen, AktivistInnen sozialer Bewegungen und HDP-UnterstützerInnen. Die Umsetzung dieser Idee könnte den ersten Anknüpfungspunkt für ein revolutionäres Übergangsprogramm bieten, um Alternativen für die arbeitende Bevölkerung in der Türkei zu erkämpfen.