Interview mit Winfried Wolf, marxistischer Ökonom und Chefredakteur von Lunapark21
Wie schätzt du die ökonomische Lage ein?
Der Welthandel 2019 ist wie bereits im Vorjahr rückläufig. Das Welt-BIP dürfte 2019 zwar nochmals moderat wachsen. Doch der Kern der kapitalistischen Weltökonomie, der industrielle Sektor, nähert sich bereits einer Stagnation. Im ersten Halbjahr 2019 sank die industrielle Produktion in der Eurozone, in Japan und in Südkorea. Im zweiten Quartal soll nach einigen Angaben auch die chinesische industrielle Produktion rückläufig gewesen sein. Laut US-Bank JPMorgan befindet sich Mitte 2019 die Weltindustrie „im vierten Monat in Folge in Kontraktion“. Die deutsche Industrie befände sich sogar „im freien Fall“ – was übertrieben zu sein scheint.[1]
Sehr viel spricht dafür, dass die neue weltweite Krise bereits begonnen hat. Sie hat den Welthandel und einen der drei großen Blöcke, die EU, erfasst. Sie hat einen Kernbereich der chinesischen Industrie – die Autoindustrie – erfasst. Und sie ist dabei, noch vorhandene Stützpfeiler der Konjunktur im dritten großen Block, in den USA, zu zerstören.
Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Ursachen für eine erneute Krise?
Die gegenwärtige Lage der Weltwirtschaft muss als Teil des längerfristigen Konjunkturzyklus verstanden werden. Wir befinden uns am Ende eines langen Zyklus. Dieser setzte 2009 ein; nach zehnjähriger Dauer bewegt er sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf eine neue Krise zu. In der Hochkonjunktur werden riesige neue Anlagen geschaffen; es kommt zu Überkapazitäten. Gleichzeitig führt das Prinzip der Gewinnmaximierung dazu, dass die Masseneinkommen zurückbleiben, die Arbeitseinkommen gedeckelt und „gedumpt“ werden – was ja zunächst höhere Profite bringt. Dies wiederum führt aber dazu, dass den produzierten Waren und den angebotenen Dienstleistungen keine ausreichend großen Nachfrage gegenübersteht. Überkapazitäten und zurückbleibende Massennachfrage sind dann zwei Elemente, die wesentlich zum Einbruch der Konjunktur und meist auch zu einer Rezession oder Krise führen.
Welche Rolle spielen die politischen Faktoren wie der Handelsstreit zwischen USA und China?
Der „Handelsstreit“ oder auch „Handelskrieg“ wird von den bürgerlichen Konjunkturforschern als eine Ausgeburt eines einzelnen Präsidenten verstanden – als eine Fehlorientierung von Mr. Donald Trump. Das ist nicht zutreffend. Seit vielen Jahren gibt es ein Anwachsen des Protektionismus weltweit. Die US-Regierungen spielten dabei eine wichtige Rolle. Dies trifft aber bereits auf die beiden Amtsperioden von Barack Obama zu, dem Vorgänger von Trampel Trump im US-Präsidentenamt. Während die Zölle nach dem Zweiten Weltkrieg zügig reduziert worden wären, steckt der Prozess „seit der Doha-Runde 2001 fest.“ Seither gäbe es eine allgemeine Zunahme protektionistischer Tendenzen.[2]
Wie ernst ist dieser Handelskrieg?
Tatsächlich gibt es inzwischen den Handelskrieg zwischen den USA und China, den „Krieg“ zwischen den USA und Mexiko, zwischen den USA und Japan und den Handelskonflikt zwischen den USA und der EU. Es gibt auch längst eine Verselbstständigung der protektionistischen Tendenzen. Beispielsweise befindet sich Japan mit Südkorea in einem heftigen Handelskrieg, der teilweise einen politischen Hintergrund hat. Und Teile der in Großbritannien herrschenden Klasse können sich vorstellen, mit dem Brexit – der ja im ökonomischen Kern Protektionismus zum Ausdruck bringt – besser zu fahren als mit einer Freihandelszone in der EU.
Der Protektionismus ist aber auch allgemeine Begleiterscheinung einer massiv verschärften innerimperialistischen Konkurrenz. Und er ist ein Vorbote noch größerer Krisen als derjenigen, die wir 2007 bis 2009 erlebt haben. Alles, was vor dem Ersten Weltkrieg den Kapitalismus „auszeichnete“, was so massiv abstoßend und zerstörerisch an ihm war, wird seit rund fünfzehn Jahren wieder ganz nach oben auf die ökonomische Agenda gesetzt. Die Gefahr einer großen Krise und großer Kriege inbegriffen.
Du hast zu Beginn gesagt, dass die Eurozone im Besonderen von der Krise betroffen ist?
In der Eurozone gab es im zweiten Quartal nur noch ein 0,2-Prozent-BIP-Wachstum. Die Industrie der Eurozone war im ersten Halbjahr rückläufig. Während Frankreich und Spanien noch ein bescheidenes Wachstum aufweisen, befinden sich die italienische und die deutsche Wirtschaft bereits in der Rezession. Das deutsche BIP schrumpfte im 2. Quartal um 0,1 Prozent. Da die industrielle Produktion in der BRD seit Monaten rückläufig ist, bilanzierte die „Börsen-Zeitung“ am 9. September, dass die Zeichen nun klar auf Rezession stünden. Das gälte bereits jetzt, noch ohne Berücksichtigung der negativen Effekte, die ein Brexit-Vollzug Ende Oktober mit sich bringen könnte. Wie kritisch die Europäische Zentralbank (EZB) die Lage einschätzt, wird damit dokumentiert, dass sie im September ein ganzes Bündel von Maßnahmen wie Zinssenkung und ein neues Programm zum Anleihenkauf verkündete.
In der letzten Krise hat die chinesische Wirtschaft durch massive Konjunkturprogramme die Weltwirtschaftskrise abfedern können. Kann sich das wiederholen?
Die Autobranche und die mit ihr verbundene Ölindustrie sind auch in China inzwischen bestimmend für die Industrie als Ganzes; sie spielen in der gesamten Wirtschaft eine herausragende Rolle. Der Absatz von Autos ist in China deutlich rückläufig – zum ersten Mal überhaupt. Die Einbrüche im Automobilsektor finden trotz massiver Gegenmaßnahmen wie Steuerreduktionen und Förderung der E-Auto-Motorisierung statt. Es ist kaum vorstellbar, dass sich der Einbruch in der chinesischen Autoproduktion nicht zu einem deutlichen Rückgang in der gesamten chinesischen Industrie ausweitet.
Die staatlichen Stützungsmaßnahmen, die in diesem Zyklus in China ausgesprochen früh einsetzen, führen auch dazu, dass sich die Verschuldung in Land deutlich erhöht. Alle privaten, öffentlichen und Unternehmensschulden entsprachen im Jahr 2008, zu Beginn der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise, 164 % des chinesischen BIP. Mitte 2019 entsprechen diese Schulden bereits 275 % des China-BIP. Da ein erheblicher und wachsender Teil der Verschuldung von sogenannten Schattenbanken getragen wird, muss von einer wachsenden Labilität des chinesischen Finanzsektors ausgegangen werden. Daher lautet die Antwort auf deine Frage: Nein, die chinesische Wirtschaft kann diesmal keine Lokomotivfunktion für die Weltwirtschaft übernehmen, im Gegenteil.
Welche negativen Rückwirkungen hat das auf die Weltwirtschaft?
Die Wachstumsdelle in China, die absehbare industrielle Kontraktion und die mögliche erste größere Rezession der chinesischen Wirtschaft haben deutliche Rückwirkungen auf die übrigen Sektoren des Weltkapitals. Das gilt vor allem für die exportstarken Staaten, zuallererst für Deutschland. Der Anteil der China-Exporte am gesamten deutschen Export lag 2009 bei 4,6 %. 2019 liegt er bereits bei 7,2. Mindestens so wichtig ist die Produktion deutscher Unternehmen in China selbst. VW setzt in China inzwischen mehr Autos ab als in ganz Europa. Davon werden gut 90 % in China selbst produziert. Eine Krise in Chinas Autobranche ist heute identisch mit einer Krise der internationalen Autoindustrie.
Wie reagiert die chinesische Staatsführung auf den Handelskrieg?
Die chinesische Regierung steht innenpolitisch – auch aufgrund der politischen Zuspitzung in Hongkong – unter erheblichem Druck, der US-Politik Paroli zu bieten. Ein Mittel dabei kann der Verkauf von US-Anleihen sein. China ist der größte Gläubiger der USA. Das Land befindet sich in Besitz von US-Staatsanleihen im Wert von 1,11 Billionen US-Dollar. Mitte 2019 wurde bekannt, dass China in den vorausgegangenen zwölf Monaten bereits US-Bonds im Wert von 69 Milliarden US-Dollar verkauft hat. Ein massenhafter Verkauf der Treasuries wird als Pekings „nukleare Option“ bezeichnet. Diese hätte ohne Zweifel negative Rückwirkungen auf China selbst. Und in jedem Fall könnte ein solcher Massenverkauf das gesamte Weltfinanzsystem zum Einsturz bringen.
Erleben wir eine Neuauflage des billigen Geldes, um gegenzusteuern?
Die Spielräume dafür werden immer enger. Die US -Notenbank hat bereits ein zweites Mal binnen weniger Wochen den Zinssatz gesenkt (nun auf eine Spanne von 1,75 bis 2 %). Das heißt aber auch, dass die Notenbank bereits zu einem Zeitpunkt mit akzeptablem Wirtschaftswachstum ihr Pulver verschießt – und in einer Zeit mit tatsächlicher Krise über keine wirksamen Möglichkeiten mehr verfügt, um wirksam gegensteuern zu können.
Just dies ist auch die Situation in der Eurozone, wie es in einem Kommentar nach den jüngsten EZB-Maßnahmen hieß:
„Die Lage, in die sich die EZB manövriert hat, birgt drei schwere Risiken: Erstens dass die Politik des offenen Portemonnaies bereits jetzt jede Menge Nebenwirkungen entfaltet, die vor allem die Banken belasten. Zweitens, dass die Notenbank in Zeiten negativer Zinsen und billionenschwerer Anleiheprogramme keine Pfeile mehr im Köcher hat, um einzugreifen, falls sie im Fall einer echten Wirtschaftskrise […] dringend gebraucht würde. Und drittens dass mit jedem Maßnahmepaket das Vertrauen in die Zentralbank als letzte Bastion der Glaubwürdigkeit in schwierigen Zeiten erodiert.“[3]
Bereits jetzt gibt es erste Ankündigungen von Massenentlassungen wie beim Reiseveranstalter Thomas Cook. Was erwartet uns?
Letzten Endes zahlen die arbeitenden Menschen und die sozial Schwachen die Zeche, wenn sich kein breiter Widerstand entwickelt. Ein Prozess von Massenentlassungen kündigt sich an. Die Pläne der globalen Banken liefen bereits im August auf einen Abbau von mehr als 35.000 Arbeitsplätzen hinaus. Die Pleite des Reiseveranstalters Thomas Cook wird mindestens 20.000 Arbeitsplätze vernichten. Nach den im September vorliegenden Plänen der deutschen Autobauer werden in den nächsten zwei bis drei Jahren 15.000 bis 20.000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Im Südwesten gab es im September eine weitgehend unkommentierte, aber im Grunde spektakuläre Pleite des Autozulieferers Eisenmann mit dem Verlust von 3000 Jobs. All das dürfte erst der Anfang sein. Von „Alarmsignalen“ spricht zu Recht eine Kommentatorin in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.[4]
Anmerkungen:
[1] Financial Times vom 7. September 2019
[2] Hannes Hofbauer, Den Kapitalismus retten – eine Strategiediskussion hochrangiger Denkfabriken, Lunapark21, Heft 44, Seite 36ff
[3] Die unendliche Geschichte, in: Börsen-Zeitung vom 13. September 2019.
[4] Susanne Preuß, Alarmsignale im Südwesten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2019.