„Bestens vorbereitet“ auf Corona?

Personalmangel und Überlastung in den Kliniken

Die Bundesregierung spricht davon, bestens auf einen möglichen Ausbruch in Deutschland vorbereitet zu sein. Einige in anderen Ländern getroffene Maßnahmen – insbesondere die Absperrung von rund 60 Millionen Menschen in der Provinz Hubei (China) und die Quarantäne in ganz Italien – führen zu berechtigten Zweifeln bezüglich der Aussagen der Bundesregierung. Wie gut sind die bis jetzt ergriffenen Maßnahmen zum Seuchenschutz und kann das Gesundheitssystem in Deutschland einen Worst Case stemmen?

von Viktor, Berlin

Die detailierte Einschätzung der Gefährlichkeit eines neuen Virusstamms ist keine politische Frage, aber wir müssen uns damit beschäftigen, um eine ungefähre Bewertung der Pandemiepläne und des Grads der Bereitschaft im Gesundheitssystem außerhalb reiner Spekulation leisten zu könne.

Als Grundlage der Einschätzung müssen insbesondere die von China veröffentlichten Zahlen zu registrierten Infektionen und Todesfällen genutzt werden. Am 9. März waren in China 80.735 Infektionen mit 2870 Todesfällen bekannt. Das bedeutet, rund 3,9% der registrierten Infizierten sind in China an Covid-19 (der Erkrankung, die durch den neuartigen Coronavirus ausgelöst wird) verstorben. Anhand der Erfahrungen außerhalb Chinas – wo rund 2,6% der registrierten Infizierten bisher verstarben – kann davon ausgegangen werden, dass zumindest die Relation vom chinesischen Regime nicht grundsätzlich falsch angegeben wurdei

Allerdings ist wahrscheinlich, dass die Dunkelziffer der Infektionen sehr hoch ist. Epidemiologische Modelle gehen teilweise von über zehn mal so vielen Infektionen aus wie offiziell registriert.ii Das scheint auch bei dem neuartigen Coronavirus (SARS-CoV-2) wahrscheinlich, da der Virus in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht zu schweren Symptomen führt und entsprechend nicht unbedingt medizinische Hilfe gesucht wird.

Sofern diese Dunkelziffer berücksichtigt wird, erscheint die von Alexander S. Kekuléiii (Direktor des Instituts für medizinische Mikrobiologie im Universitätsklinikum Halle) geäußerte Schätzung von bis zu 0,5% tödlicher Verläufe eine vernünftige Annahme zu sein. Unterstützt wird diese Schätzung auch durch die Zahlen aus Südkorea, wo weltweit die meisten Tests auf das neuartige Coronavirus durchgeführt werden und die Sterblichkeit nach offiziellen Zahlen aktuell bei rund 0,7% liegt.

Insofern kann das Szenario eines Endzeitfilms wie “Contagion” zurückgewiesen werden. Allerdings taugt auch der  Vergleich mit der Gefährlichkeit der saisonalen Influenza nur bedingt. Diese fordert zwar jedes Jahr alleine in Deutschland deutlich mehr Opfer als Covid-19 bisher international, führt aber auch in schlimmen Jahren nur in etwa 0,1% der Erkrankungsfälle zum Tod.

Bezüglich der möglichen Ausbreitung erscheint der Vergleich zur saisonalen Influenza jedoch recht vernünftig. Die Übertragungswege sind sehr ähnlich, und dem Effekt der wahrscheinlich höheren Infektiösität von SARS-CoV-2 gegenüber der saisonalen Influenza steht die Ergreifung von Maßnahmen zur Begrenzung der Verbreitung entgegen.

Vor diesem Hintergrund ist ein Szenario mit einigen Millionen erkrankten Personen in Deutschland als Worst Case durchaus vorstellbar, obwohl in dieser Saison eher unwahrscheinlich. Wenn die Zahl von etwa 45.000 influenzabedingten Krankenhauseinweisungen aus der Saison 2017/2018iv und der durchschnittlich schwerere Verlauf von Covid-19 zur Grundlage genommen wird, würden in einem solchen Fall bis zu einigen Hunderttausend Patient*innen stationär behandelt werden müssen.

Eindämmung

Wenn wir uns die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung anschauen, scheint das dominierende Thema Beschwichtigung und Verharmlosung – ein exzellentes Beispiel dafür bietet die Homepage der Bundesregierung:v

„Welche Vorbereitungen sind in Deutschland getroffen? Deutschland ist gut aufgestellt, wenn es um die Behandlung von Erkrankten mit dem neuen Virus geht. Vor allem das Netzwerk von Kompetenzzentren und Spezialkliniken in Deutschland sichert eine Versorgung auf höchstem internationalen Niveau. Deutschland verfügt über ein sehr gutes Krankheitswarn- und Meldesystem und Pandemiepläne. Die Meldepflicht zu möglichen Erkrankungsfällen sind verschärft worden.“

Die einzige konkret genannte Maßnahme ist die Verschärfung der Meldepflicht, die aber angesichts von einer zum jetzigen Zeitpunkt teilweise nicht mehr nachvollziehbaren Infektionskette und nur unter sehr besonderen Umständen durchgeführten Tests kaum erfolgversprechend ist. Möglichkeiten der Seuchenkontrolle wären an dieser Stelle beispielsweise eine deutlich ausgeweitete Testung auf den neuartigen Corona-Virus bei Vorstellung mit Erkältungsbeschwerden, um Infektionsketten wieder sichtbar zu machen und Kontaktpersonen gezielt zu isolieren.

Der Test ist zwar aktuell mit 300 Euro teuer, dies liegt aber nicht prinzipiell am Verfahren, sondern am aktuellen Aufwand aufgrund der geringen Anzahl von getesteten Proben. Bei anderen klinischen Fragestellungen ist der PCR Nachweis seit vielen Jahren Teil der Routinediagnostik mit überschaubaren Kosten. Eine weitere Möglichkeit wäre das breite Screening mittels ELISA-Verfahren, die weniger genau aber einfacher und günstiger in der Anwendung sind. Das Beispiel Südkorea zeigt hier, dass eine deutlich häufigere Testung prinzipiell machbar ist – am 28. Februar wurde vorgerechnet, dass 26 bis 120 mal so häufig getestet wird wie in jedem anderen Land der Welt.

Denkbar wäre auch, in gefährdeten Ballungsgebieten Gesichtsmasken* zu verteilen und Desinfektionsmittelspender im öffentlichen Raum aufzustellen, anstatt die Leute nur dazu aufzufordern in die Armbeuge zu niesen. Das bietet zwar keinen 100%igen Schutz, aber Studien in Zusammenhang mit dem, in den Übertragungswegen sehr ähnlichen Influenzavirus legen eine mögliche Reduktion der Ansteckungen um 70-80%vi nahe, was ungefähr auch der Bereich ist, um den die Ansteckungen reduziert werden müssten, um eine Ausweitung wirksam zu verhindern.

Diese Untätigkeit und Beschwichtigung steht im starken Kontrast zu den in China und Italien bereits erfolgten Absperrungen von Teilen der Bevölkerung – eine Maßnahme, die auch Seehofer (CSU) am 1. März für Deutschland ins Gespräch brachtevii. Das Leitthema der Seuchenkontrolle beim neuartigen Coronavirus scheint international eine weitgehende Ignoranz bis zu einem Punkt zu sein, an dem es sich nicht mehr ignorieren lässt. An diesem Punkt werden massive Interventionen, wie die erwähnten Absperrungen für die Herrschenden begründbar – Maßnahmen, die auch enorme Einschnitte in die Grundrechte der Bevölkerung bedeuten und politisch zum Beispiel im Rahmen der Eingriffe ins Streikrecht den Herrschenden nützen. In Österreich sind Versammlungen mit mehr als 500 Teilnehmer*innen untersagt. Davon sind auch die laufenden Streiks im Sozialbereich betroffen. Es wurde allerdings nicht untersagt, dass Menschen zu Hunderten oder Tausenden arbeiten gehen.

Die aktuell diskutierten Maßnahmen bedeuten einerseits massive Einschnitte in Bürgerrechte, besonders in Italien, wo jedes Verlassen der Wohnung gerechtfertigt werden muss. Das steht im Kontrast zur Halbherzigkeit von Maßnahmen am Arbeitsplatz, die nicht betroffen sein sollen. Die Menschen sollen weiter dichtgedrängt im ÖPNV oder am Arbeitsplatz Kontakt miteinander haben – weil die Unternehmen weiter produzieren und Profit machen wollen. Sehr viel weniger in die Grundrechte einschneidende Maßnahmen mit einer gewissen Erfolgsaussicht – Infektionsketten schnell ausfindig machen, gefährdete Personen isolieren und allgemeine Infektionsprävention in Ballungsgebieten zu betreiben – scheinen in den politischen Entscheidungen keine ausreichende Rolle zu spielen.

Angespanntes Gesundheitssystem

Kann das Gesundheitssystem in Deutschland einen Worst Case stemmen? Wer den alltäglichen Wahnsinn in Deutschlands Krankenhäusern kennt, wird sich nicht schwer tun, eine Antwort darauf zu finden. Hochrechnungen von ver.di gehen von bundesweit etwa 162.000 fehlenden Stellen in Krankenhäusern aus, 70.000 davon betreffen die Pflegeviii. Alleine diese Zahl macht deutlich, dass das Gesundheitssystem nicht mit Reserve, sondern seit vielen Jahren auf Verschleiß gefahren wird. Ähnlich sieht es auch im Rettungsdienst aus – besonders angespannt bleibt die Lage in Berlin. Der Ausnahmezustand im Rettungsdienst ist keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Personal fehltix. Es liegen mehr Notrufe vor als Rettungswagen verfügbar sind. Um die Hilfsfrist einigermaßen einzuhalten werden Löschfahrzeuge zu medizinischen Einsätzen zweckentfremdet. Wie die zusätzlichen Fälle im Rahmen eines möglichen Ausbruchs des Corona-Virus zu bewältigen sind, ist weitgehend unklar – von der eigentlich notwendigen Desinfektion des Rettungswagens nach einem solchen Einsatz ganz zu schweigen.

Die Isolation einer großen Anzahl Infizierter dürfte schon aus Kapazitätsgründen schwierig werden. Rund 85% der Kapazitäten der Charité für solche Fälle sind im Winter auch ohne Covid-19 belegt. Gegenüber der Tagesschau kommentierte Christian Drosten (Virologe an der Charité) bezüglich der Gefahr eines größeren Ausbruchs: “Dann wird es schwierig, die normale Versorgung aufrechtzuerhalten”x

Auch bei der Möglichkeit der maschinellen Beatmung im Falle schwerer Verläufe stellt sich die Frage der Kapazitäten. Zwar kommt immer wieder die Idee auf, zusätzliche Beatmungsgeräte von Herstellern zu leihen, allerdings wird dabei die Frage übergangen, wer für die Betreuung dieser Intensivpatient*innen verantwortlich sein soll. Die maschinelle Beatmung kritischer Patient*innen erfordert speziell geschultes Personal, welches auch im Regelbetrieb in Intensivstationen knapp ist.

Als weiterer Faktor kommt hinzu, dass spezielle FFP3-Atemschutzmasken aus Kostengründen in den meisten Krankenhäusern nur in einem geringen Maße bevorratet werden. Dünne Gesichtsmasken sind zwar sehr gut geeignet, um im öffentlichen Leben eine Ausbreitung von Infektionen zu verhindern. Im ständigen direkten Kontakt zu infizierten Patient*innen ist jedoch ein höherer Schutzgrad nötig, um eine Ansteckung wirkungsvoll zu verhindern. Es steht zu befürchten, dass die Sicherheit des bereits knapp bemessenen Krankenhauspersonals nicht gewährleistet werden kann – eine für die Beschäftigten unzumutbare Situation, die eine berechtigte Weigerung zur Folge haben kann, Verdachtsfälle aufzunehmen.

im Rahmen des Ausbruchs des neuartigen Coronavirus wurde am 4. März den Krankenhausgesellschaften von Jens Spahn prinzipiell erlaubt, die erst vor kurzem in Kraft getretenen und unzureichenden Pflegepersonaluntergrenzen auszusetzen.  Dies passierte vor dem Hintergrund, dass der Coronavirus-Ausbruch in Deutschland aktuell noch weit davon entfernt ist, die behandlungsbedürftigen Fallzahlen einer saisonalen Influenzawelle zu erreichen.

Eigentlich sinnvolle Maßnahmen – wie die Verlegung von elektiven (d.h. nicht zeitkritischen) Behandlungen und Operationen und/oder die Entlastung des Personals durch eine Aussetzung der nur zu Abrechnungs- und Qualitätssicherungszwecken dienenden Teile der Dokumentationspflicht – spielten in den Überlegungen der Regierung hingegen keine Rolle.

Die Ursache für das auch im Regelbetrieb an der Belastungsgrenze gefahrene Gesundheitssystem ist im Fallpauschalensystem DRG zu suchen. Das Gesundheitssystem wird in diesem nicht nach Bedarf finanziert, sondern es wird eine fallbezogene Abrechnung eines durchschnittlich veranschlagten Aufwandes durchgeführt. Da Krankenhäuser in vielen Fällen in privater Hand als Wirtschaftsunternehmen fungieren, besteht der ständige Druck den durchschnittlichen Aufwand zu unterschreiten. Für den Aufbau von Reservekapazitäten besteht in diesem System weder Anreiz noch Platz – eine Problematik die insbesondere im Rahmen einer möglichen Pandemie sichtbar wird. Expert*innen befürchten auch, dass die mit der Behandlung von Covid-19 Fällen einhergehenden finanziellen Risiken bei privaten Krankenhauskonzernen zu inoffiziellen Weisungen führen können, solche Fälle möglichst nicht anzunehmen oder ggfs. zu verlegen – insbesondere wenn dadurch zum Beispiel finanziell lukrative Operationen aus dem Elektivprogramm verschoben werden müssen.

Wir fordern für das Gesundsheitsystem daher folgende Sofortmaßnahmen:

  • Die Aussetzung der Pflegepersonaluntergrenzen muss zurückgenommen werden
  • Sofortige Entlastung der Pflege und Ärzt*innen durch Aufhebung der nur zu Abrechnungs- und Qualitätssicherungszwecken dienenden Teile der Dokumentation
  • Ausreichende Ausstattung von Krankenhäusern und Arztpraxen mit geeigneter Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln; Verbot von Preistreiberei, Verstaatlichung der Hersteller unter demokratischer Kontrolle
  • Einfach zugängliche Tests auf den Covid-19-Virus; Um die Konkurrenz der Labore untereinander zu überwinden und eine Kooperation zu ermöglichen müssen die Labore unter öffentliche Kontrolle gestellt werden

Der Coronavirus-Ausbruch zeigt einmal mehr die Perversität des gewinnorientierten Gesundheitswesens und der Sparpolitik im Rettungswesen und Katastrophenschutz auf, deshalb fordern wir:

  • Bedarfsgerechte Finanzierung im Gesundheitssystem, Rettungswesen und Katastrophenschutz
  • Schließung der Personallücken im Gesundheitssystem und Rettungswesen – dafür muss die Arbeit in der Pflege und im Rettungsdienst wieder attraktiv werden, sowohl finanziell als auch insbesondere im Sinne von mit dem Familien- und Privatleben vereinbaren Arbeitszeiten und einem bewältigbaren Arbeitspensum
  • Überführung privater Krankenhauskonzerne in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle

*Es wird in diesem Zusammenhang immer wieder angebracht, dass dünne Gesichtsmasken keinen Schutz gegen den neuartigen Coronavirus bieten. Dies ist nur insofern richtig, als sie individuell nicht 100% schützen – allerdings verhindert das tragen Solcher relativ effektiv z.B. das Aushusten von Viren durch infizierte Personen und Schmierinfektionen (insbesondere wenn dazu noch Schutzbrillen getragen werden), die in der Verbreitung anderer auf Atemwege spezialisierter Viren eine große Rolle spielen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei SARS-CoV-2 auftauchen. Ein gezielter und koordinierter Einsatz von Gesichtsmasken in Epizentren ist insofern anders einzustufen als die aktuell im Rahmen panischer Reaktionen beobachtete individuelle Nutzung von Gesichtsmasken unabhängig von der konkreten örtlichen Bedrohungslage.

i https://en.wikipedia.org/wiki/2019%E2%80%9320_coronavirus_outbreak

ii https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.01.23.20018549v1.full.pdf

iii https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/alexander-kekule-bei-markus-lanz-100.html

iv https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2017.pdf

v https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/ausbreitung-coronavirus-1716188

vi https://www.healthline.com/health/cold-flu/mask#1

vii https://www.focus.de/gesundheit/news/coronavirus-ausbruch-im-news-ticker-letztes-mittel-seehofer-schliesst-staedte-absperrung-nicht-aus_id_11576018.html

viii https://www.mehr-krankenhauspersonal.de/1828

ix https://berlinbrennt.info/alles-bleibt-wie-es-ist/

x https://www.tagesschau.de/inland/coronavirus-vorbereitung-deutschland-101.html