von Sebastian Rave, Bremen
Es gibt nachdenkliche Spiele, welche mit künstlerischem Anspruch und Spiele, die die Gesellschaft kommentieren. Und selten gibt es auch mal welche, die all das vereinen. Das ist Disco Elysium: Ein Rollenspiel, in dem man einen an Liebe und Drogen gescheiterten Polizisten spielt, der sich das Gedächtnis weggesoffen hat, als er eigentlich gerade einen Mord aufklären sollte.
„Krimi“ ist aber nur das Genre. Tatsächlich ist Disco Elysium eher ein poetischer Roman als ein klassisches Adventure-RPG. Lange, geschriebene Dialoge, bisher leider noch ohne deutsche Übersetzung, mit detailliert entwickelten Charakteren, manchmal nur im Kopf des wahnsinnigen Protagonisten, aber immer tiefgehend, spannend oder witzig-skurril, bestimmen das Spielgeschehen.
Am faszinierendsten ist aber die wunderschön gemalte Spielwelt. Martinaise, ein heruntergekommener Stadtteil der neoliberalen Dystopiestadt Revachol, war der Schauplatz der Niederschlagung einer kommunistischen Revolution, niedergeschossen etwa fünfzig Jahre vor dem Spielgeschehen von einer fortan die Welt beherrschenden „Koalition“ der kapitalistischen Großmächte. Der Vordenker des wissenschaftlichen Sozialismus dieser Welt hieß Kras Mazov, und man kann sich im Spiel aussuchen, ob man ein faschistischer Schlägerbulle sein will oder doch lieber Anhänger des Mazovismus wird.
Letzteres hilft einem, die Klassenkämpfe zu verstehen, die das Spiel mitbestimmen. Die Hafenarbeiter*innen von Martinaise befinden sich, unter der Leitung eines korrupten Gewerkschaftsbonzen, in einem unbefristeten Streik für die kreative Forderung: „Jede*r Arbeiter*in ein Mitglied des Vorstands!“ Nachdem der multinationale Konzern Wild Pines schwer ausgerüstete Söldner entsendet hatte, von denen einer ermordet wurde, droht die Situation nun zu eskalieren.
Bei so viel Klassenkampf im Spiel ist es nur konsequent, dass sich die Entwickler*innen des kleinen, estnischen Independent-Studios ZA/UM bei der Preisverleihung des Game Awards im Dezember 2019 bei den großen Menschen bedankten, die vor ihnen kamen: „Marx und Engels für die politische Ausbildung.“