Ein Blick nach Italien offenbart, was in Deutschland angesichts der Corona-Pandemie droht: Angesichts nicht ausreichender Intensivbetten werden über 80-jährige oder bereits in einem sehr schwachen Zustand befindliche Patient*innen zum Sterben nach Hause geschickt, Pfleger*innen und Ärzt*innen infizieren sich mit teils tödlichem Verlauf, die Versorgung akuter Notfälle – wie z.B. Herzinfarkte – ist faktisch zusammengebrochen. Um dieses Szenario bestmöglich zu verhindern sind schnelle, entschiedene und umsichtige Maßnahmen nötig.
Von Viktor, Berlin
Darauf vertrauen, dass die Maßnahmen der Bundesregierung dieses Ziel erreichen, erscheint im höchsten Maße irrational: Es sind dieselben Politiker*innen, die über Jahrzehnte das Gesundheitssystem kaputt gespart haben. Aktuell fehlen nach Berechnungen von ver.di rund 162.000 Stellen in den Kliniken. Es sind dieselben Politiker*innen, die über viele Wochen mantraartig wiederholt haben, dass wir bestmöglich darauf vorbereitet sind. Über viele Wochen, die wir zur Vorbereitung und Eindämmung hätten nutzen können.
Die Verschiebung von Elektivbehandlungen (Behandlungen ohne Notfallcharakter wie z.B. Hüft- und Knieprothesenimplantation) wird bereits diskutiert und stellenweise umgesetzt. Allerdings passiert dies alles, während Krankenhäuser weiterhin Wirtschaftsbetriebe sind. Durch die Corona-Krise drohen den Krankenhausgesellschaften Millionen Verluste. Vor diesem Hintergrund sollen Chefärzt*innen – die auch eine finanzielle Verantwortung für ihre Abteilung tragen – entscheiden, welche Operationen verschiebbar sind und welche nicht. Diese Situation ist nicht tragbar.
Nötige Maßnahmen sind:
- Sofortige Abschaffung des Fallpauschalensystems – Finanzierung der Krankenhäuser nach Bedarf – Rekommunalisierung der bereits privatisierten Kliniken unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der örtlichen Bevölkerung
- Verschiebung von aufschiebbaren Operationen ohne dadurch entstehende gesundheitliche Nachteile für Patient*innen, die Entscheidungsfindung muss durch Ärzt*innen und Pfleger*innen gemeinsam erfolgen
Im pflegerischen und ärztlichen Alltag ist die Dokumentation von Maßnahmen, Vitalwerten, etc. von großer Bedeutung. Allerdings geht ein wesentlicher Teil der Arbeitszeit auch für Dokumentation z.B. zu Zwecken der Abrechnung und des klinikinternen Qualitätsmanagements drauf. Das ist in der aktuellen Situation kein hinnehmbarer Zustand.
- Aussetzung der Dokumentationspflicht über alles, was nicht für die medizinische Versorgung essentiell ist. Dadurch steht nach Schätzungen 20-30% mehr Zeit für Arbeit an Patient*innen zur Verfügung.
Es wird diskutiert, wie die Personalsituation kurzfristig verbessert werden kann. Das ist sinnvoll – auch angesichts der vielen aufgrund der Arbeitsbedingungen vorzeitig aus dem Pflegeberuf ausgeschiedenen Kolleg*innen. Im Zuge der Corona-Krise wird der „systemrelevante“ Status von medizinischem und an die Krankenversorgung angegliedertem Service- und Reinigungspersonal auch von der Politik benannt. Statt mit einem Lächeln muss dies aber auch finanziell honoriert werden. Die wahrscheinlich zu leistenden Überstunden dürfen nicht einfach in einer Schublade verschwinden.
- Allgemeine Aufstockung der Gehälter um 500 Euro plus einen Pandemie-Zuschlag von 500 Euro im Monat für alle im Gesundheitswesen Beschäftigten
- Bezahlte Freistellung von allen ehemaligen Krankenpfleger*innen, Notfallsanitäter*innen, etc. sofern sie kurzfristig bereit sind, bei der Bewältigung der Krise zu helfen. Auch für diese Kolleg*innen einen Zuschlag von 500 Euro pro Monat.
- Dokumentation aller Überstunden. Auszahlung mit Zuschlag sofort oder Freizeitausgleich nach der Corona-Krise
Die Beschäftigten im Gesundheitswesen müssen aus verschiedenen Gründen im besonderen Maße vor Infektionen geschützt werden. Sie sind berufsbedingt einem besonders hohem Risiko ausgesetzt. Durch infizierte Beschäftigte in Krankenhäusern oder Pflegeheimen kann die Verbreitung in Risikogruppen rasant ansteigen. Jeder krankheits- oder gar todesfallbedingte Ausfall verringert die Kapazitäten im Gesundheitswesen.
Dieser Schutz geschieht aktuell nicht ausreichend – insbesondere ist die Schutzkleidung Mangelware – stellenweise werden aufgrund des Mangels Einmalmasken über mehrere Tage getragen. Ein Screening (d.h. regelmäßige Überprüfung) auf Corona findet nicht statt, der Druck, auch krank zur Arbeit zu erscheinen, bleibt bestehen.
- Die Produktion von Schutzkleidung – insbesondere geeigneten Atemschutzmasken – muss massiv ausgeweitet werden. Das kann nicht dem Markt überlassen werden. Industriebetriebe, in denen die Produktion potenziell zeitnah auf Atemschutzmasken umgestellt werden kann, müssen zur Bewältigung der Krise beschlagnahmt werden
- Regelmäßige Screenings auf Krankheitssymptome und stichprobenartig auf den Erreger müssen umgehend umgesetzt werden. Nur so können mögliche Cluster in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen schnell erkannt und isoliert werden
- Den psychologischen Folgen für die Gesundheitsfachberufe muss durch die sofortige Einrichtung psychologischer Betreuung entgegengewirkt werden
Angesichts der Situation im Gesundheitswesen werden auch Forderungen laut, Ärzt*innen aus dem Ruhestand zur Bewältigung der Corona-Krise wieder in den Dienst zu versetzen. Diese Forderungen müssen sehr kritisch gesehen werden – gerade Menschen im Ruhestand gehören aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe mit den schwersten Verläufen. Auch nicht im Ruhestand befindliche Kolleg*innen über 60 und mit bestimmten Grunderkrankungen haben ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf. Diese Kolleg*innen müssen bestmöglich geschützt werden.
- Keine Mobilisierung aus dem Ruhestand
- Bestmögliche räumliche und organisatorische Trennung der Behandlung von Covid-19-Fällen und der Regelversorgung. Kolleg*innen aus Risikogruppen in die Regelversorgung
Statt Mobilisierung aus dem Ruhestand muss geschaut werden, welche fachkundigen Personenkreise sonst in Frage kommen. Beispiele wären hier die vielen ehrenamtlichen Sanitäter*innen der Hilfsorganisationen, die für Unterstützung im Krankenhaus und im Rettungsdienst mobilisiert werden können. Für die Ausweitung der Testmöglichkeiten können Labortechnische Assistent*innen z.B. aus dem Kosmetikbereich mobilisiert werden. Für Service-, Verwaltungs- und Reinigungsaufgaben kommen viele Beschäftigtengruppen in Frage. Das muss umgehend passieren, um eine bestmögliche Einarbeitung zu gewährleisten. Für diese muss gelten
- Bezahlte Freistellung von ihrer normalen Arbeit plus 500 Euro Zulage.
Um der Arbeit mit Patient*innen bestmöglich nachgehen zu können, brauchen die Beschäftigten die Sicherheit, dass ihre Kinder oder Angehörigen bestmöglich versorgt sind.
- Qualifizierte Kinderbetreuung in Kleingruppen, auch hier Screenings auf Infektionen
- Unterstützung von Angehörigen, die z.B. aufgrund ihres Alters in der gegenwärtigen Lage Supermärkte meiden sollten
In jedem Krankenhaus sollten Krisenstäbe unter demokratischer Beteiligung aller Berufsgruppen gebildet werden. In einem bundesweiten Krisenstab müssten Vertreter*innen von Belegschaften und der Gewerkschaften die Interessen der Beschäftigten und der Patient*innen vertreten. Der Krisenstab muss mit ausreichendem Personal und medizinischer Ausstattung eingerichtet werden, um auf die Entwicklungen in Epizentren rasch reagieren zu können. Er muss auch die Möglichkeiten haben, in Produktion und Transportwesen einzugreifen.
- Die Produktion von medizinischem Equipment (insbesondere Beatmungsgeräte) muss ausgeweitet werden – auch dazu ist zu prüfen, welche Betriebe ggfs. zur Umstellung der Produktion beschlagnahmt werden können
- Auch für die notfallmässige Einrichtung von Covid-19 Zentren müssen geeignete Orte genutzt werden. Keine Behandlung in Turnhallen und Zelten. Stattdessen Beschlagnahmung von z.B. Hotels und Bürogebäuden mit ausreichend Zimmern.
- Alle medizinischen Reserven und das Personal der Bundeswehr müssen unter zivile Kontrolle des Krisenstabs gestellt werden.
Die Corona-Krise zeigt die Missstände im Gesundheitssystem gnadenlos auf. Es fehlen Pfleger*innen und Ärzt*innen, Notfallsanitäter*innen, Service- und Reinigungspersonal. Das darf nicht länger hingenommen werden, das Gesundheitswesen muss auch für solche Ausnahmesituationen finanziell, materiell und personell vorbereitet werden.
- Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Pfleger*innen, die Personalbemessung (Personalschlüssel für Pflegekräfte in Relation zu Patient*innen) ist zentral.
- Die Arbeitsbedingungen im Rettungswesen müssen wieder mit einem Familien- und Privatleben vereinbar werden – es muss eine großzügige personelle Ausstattung her.
- Der Beruf Notfallsanitäter*in muss wieder attraktiv werden – das Lohndumping privater Rettungsdienstunternehmen muss beendet werden.
- Bedarfsgerechte Finanzierung im zivilen Katastrophenschutz.
- Dem Ärzt*innenmangel muss begegnet werden – Ausweitung der Ausbildungskapazitäten und Abschaffung des Numerus Clausus.
- Keine Schließung, sondern bedarfsberechte Finanzierung kommunaler Kliniken.