Buchrezension: Jane McAlevey – „Keine halben Sachen“
Unter Gewerkschaftsaktiven ist Organizing ein wichtiger Ansatz, gewerkschaftliche Stärke wiederzugewinnen, sei es in Form von Organizing-Projekten bei „weißen Flecken“ oder auch durch Nutzung von Organizing-Elementen bei der Ausbildung von Gewerkschaftssekretär*innen. Jane McAlevey unterzieht die klassischen Organizing-Ansätze einer kritischen Würdigung und stellt ihr weitergehendes Konzept des „Deep Organizings“ vor.
von Angela Bankert, Köln
McAlevey war mehrere Jahre als Community-Organizerin für eine Umweltorganisation tätig und 15 Jahre in führender Position bei verschiedenen Organizing-Kampagnen des US-Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO und der Gewerkschaft SEIU im Gesundheitsbereich. Seit einigen Jahren wertet sie die Organizing-Erfahrungen wissenschaftlich aus.
Die bisherigen Ansätze des Organizing charakterisiert sie eher als „Mobilizing“. Externe hauptamtliche Organizer*innen spielen eine zentrale Rolle, oftmals werden sie nach bestimmten Fristen abgezogen; die Erfolge sind häufig nicht nachhaltig. Je nach Ausrichtung der beauftragenden Gewerkschaftsgliederung steht die Mitgliederwerbung im Fokus. Kampfstrategien gegen das Unternehmen werden extern entwickelt.
„Deep Organizing“ soll dazu führen, dass die Beschäftigten im Mittelpunkt stehen und dabei unterstützt werden, die Durchsetzung ihrer Interessen selbst in die Hand zu nehmen. Denn so McAlevey: Beschäftigte sind die wichtigste Kraft ihrer eigenen Befreiung. Es geht darum, eine ständig wachsende Zahl normaler Beschäftigter nachhaltig zu aktivieren, indem sie nicht nur als Fußtruppen bei Protestaktionen und Streiks, sondern schon bei der Analyse und Strategieentwicklung einbezogen werden.
Das Konzept setzt darauf, dass nur Streiks spürbare Erfolge bringen, die von der überwältigenden Mehrheit der Beschäftigten getragen werden. 90 % Streikbeteiligung sei anzustreben. In den USA besteht die Notwendigkeit dazu allein schon wegen der strikten Arbeitsgesetze, die erst dann eine gewerkschaftliche Vertretung zulassen, wenn die Mehrheit eines Betriebes sich dazu bekennt. Aber auch unabhängig davon dürfte einsichtig sein, dass Mehrheitsstreiks wirkungsmächtiger sind als Nadelstich-Streiks kleiner Gruppen im Betrieb: „Streiks sind für die Wiederherstellung der Macht der Arbeiterklasse zentral, nicht nur weil sie verbesserte Arbeitsbedingungen erzwingen können, sondern weil sie den Beschäftigten auch eine Erfahrung ihrer kollektiven Stärke ermöglichen.“ so McAlevey
„Organische Anführer*innen“
Ganz zentral für das Deep Organizing ist die Rolle von „organischen Anführer*innen“. Das sind Kolleg*innen, die eine zentrale Rolle in innerbetrieblichen Netzwerken spielen und vor allem ihre Abteilung mobilisieren können. Das sind nicht unbedingt die klassischen Wortführer*innen, sondern oft die Stillen, denen die anderen Kolleg*innen vertrauen. Sie sehen sich selten selbst als Führungsperson, sind manchmal sogar skeptisch gegenüber Gewerkschaften – aber haben Einfluss auf ihr Umfeld und kommen aus der Deckung, wenn sie überzeugt sind.
McAlevey sieht als Hauptaufgabe von Organizer*innen, am Beginn einer Kampagne diese natürlichen Anführer*innen ausfindig zu machen. Das erfordert viele Gespräche mit den Beschäftigten. Hat man sie gefunden, sollten sie in die Strategiefindung einbezogen und ausgebildet werden, auch politisch, um sie in die Lage zu versetzen, ihrerseits Unterstützer*innen zu gewinnen.
Dies bedeutet nicht, die Mitglieder zu klassifizieren, denn alle Aktiven haben etwas beizutragen und die Basismitglieder sind letztlich ausschlaggebend für den Ausgang einer Auseinandersetzung. Wenn sie ihre Macht erkennen, werden sie zu engagierten Akteur*innen. Aber den erste Schritt, um das Feld von innen aufrollen zu können, machen die Anführer*innen. Um festzustellen, ob man die organischen Anführer*innen tatsächlich gefunden hat, sind sogenannte „Strukturtests“ vorgesehen. Das können niedrigschwellige Aktionen sein. Alle, die bestimmte gewerkschaftlichen Anliegen unterstützen, kommen an einem Tag im roten T-Shirt zur Arbeit. Oder eine Mehrheits-Petition, ein Mehrheits-Fotoposter – bis hin zu ersten Warnstreiks und letztlich zum Mehrheitsstreik.
Im Rahmen des betrieblichen Mappings wird festgehalten, in welchen Bereichen und Abteilungen dies funktioniert hat und wo Schwächen sind. Nicht nur die Organizer*innen machen dies, sondern alle, die mitmachen wollen. Sind wiederholt Schwachstellen bei der Mobilisierungen in bestimmten Bereichen festzustellen, hat man dort wahrscheinlich nicht die Anführer*in gefunden und muss erneut suchen.
Klassenakteure in den Communities
Die ganzheitliche Betrachtung der Kolleg*innen und ihre zentrale Rolle auch bei außerbetrieblichen Mobilisierungen sind ein weiterer Aspekt des Deep Organizings. Die betrieblichen Aktivist*innen haben persönliche Netzwerke und vielfältige Beziehungen außerhalb des Betriebes oder der Einrichtung, sind Eltern, haben Partner, Kinder, Freunde, sind in Sportvereinen. Die vielfältigen Hintergründe und Bezugsgruppen der Beschäftigten zu beleuchten und nutzbar zu machen, ist eine wesentliche Aufgabe des Deep Organizings zur Mobilisierung in der Community.
McAlevey fordert ein radikal neues Verhältnis zu den Beschäftigten. Ausführlich werden die Bemühungen rund um den erfolgreichen Lehrkräftestreik in Chicago 2013 dargestellt. Dem ging ein Kampf innerhalb der Lehrenden-Gewerkschaft CTU voraus, geführt durch einen innergewerkschaftlichen Zusammenschluss namens CORE, der sowohl eigene Außenaktivitäten entfaltete als auch die alte Führung herausforderte, indem er strategische und personelle Alternativen anbot.
Wenn Organizing zur Selbstermächtigung beitragen soll, dann kollidiert dies zwangsläufig mit Top-Down-Strukturen in den Gewerkschaften. Viele Organizer*innen drücken sich um diesen Konflikt und die Notwendigkeit der Organisierung innergewerkschaftlicher Opposition. Doch man kommt nicht allein durch viele gute Organizing-Projekte und deren Verbreitung zu einer dauerhaft anderen Gewerkschaftspraxis. McAlevey macht an mehreren Beispielen deutlich, dass der Kampf um eine andere Führung und um gewerkschaftliche Ressourcen für das Organizing notwendige Voraussetzungen für den erfolgreichen Aufbau klassenkämpferischer Gewerkschaften sind.
Sie betont die Notwendigkeit der politischen Ausbildung der Akteure, nicht nur bezogen auf das betroffene Unternehmen. Beim Lehrkräftestreik in Chicago wurde z.B. jede Versammlung eröffnet mit einer in die Schuldebatte eingebetteten Diskussion zu allgemeineren Themen wie Plünderung der Staatskassen, Banken, Rassismus. Nur die politische Ausbildung über gesellschaftliche Zusammenhänge hilft auch über unvermeidliche Niederlagen im Kampf hinweg. Sie entfaltet Hartnäckigkeit und damit Nachhaltigkeit.
Bei McAleveys Betrachtung fehlt, dass ein dauerhafter politischer Zusammenhang letztlich nur über eine politische Organisierung, also eine Partei hergestellt werden kann, wie dies auch in den 1930er Jahren in den USA der Fall war, als die Methode des Deep Organizing von revolutionären Sozialist*innen und Kommunist*innen beim Aufbau des militanten Gewerkschaftsdachverbands CIO erfolgreich eingesetzt wurde.
Trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen für Gewerkschaftsarbeit in den USA und hierzulande – hier ist es deutlich leichter! – ein sehr gewinnbringendes Buch mit einem lohnenden Ansatz. Es ist jeder und jedem Gewerkschaftsaktiven zur Lektüre empfohlen.